Konfisziertes Strategiepapier enthält Auflistung von 300 Unternehmen:Rechenzentren im Blickfeld von Extremisten

04.05.1984

MÜNCHEN - Extremistische Vereinigungen in der Bundesrepublik zeigen bei ihren Aktivitäten zunehmendes Interesse an Rechenzentren. Nach dem spektakulären Bombenanschlag auf das MAN-Rechenzentrum in Ginsheim im September 1983 wurden nach Aussagen der Sicherheitsbehörden inzwischen mehr als ein Dutzend weitere direkte oder indirekte Anschläge vor allem auf DV-Einrichtungen von Unternehmen der Rüstungsindustrie oder auf Gebäude von Computerherstellern verübt. Security-Experten wollen jetzt erfahren haben, daß Staatsschützer beim Ausheben einer konspirativen Wohnung eine Liste konfiszierten, die rund 300 Firmennamen enthalte. Primäre Angriffsziele, so wird vermutet, seien die Rechenzentren der Unternehmen.

Deutsche Sicherheitsbehörden geben nur ungern Informationen über neuerliche einschlägige Aktivitäten extremistischer Gruppen heraus. Um Wiederholungstaten zu vermeiden, wird häufig gar strikte Geheimhaltung mit den Betroffenen vereinbart. Da bei den bisherigen Anschlägen lediglich Sachschaden entstand, ging die Berichterstattung in den Medien denn auch meist nicht über lokale Meldungen hinaus. Die Vorfälle wurden indes um so mehr in Security-Fachkreisen diskutiert.

Während das Bundeskriminalamt (BKA) die Existenz eines "Firmenverzeichnisses" weder bestätigt noch dementiert, räumt ein Sprecher der Wiesbadener Behörde immerhin ein: "Es werden gelegentlich solche Listen gefunden, deren Bezug aber nicht immer eindeutig ist." Wie genau an der terroristischen Front gearbeitet wird, geht indes aus einem im Sommer vergangenen Jahres beschlagnahmten Strategiepapier hervor, in dem die Verfasser in mühseliger Kleinarbeit exakte Lageskizzen von 21 deutschen Rechenzentren angefertigt und auch deren Sicherheitsmaßnahmen im Detail beschrieben haben.

Obwohl die Behörden die bisherigen RZ-Anschläge nach Ansicht von Sicherheitsspezialisten noch immer herunterzuspielen versuchen, zeigt die Bilanz der ersten drei Monate dieses Jahres geradezu erschreckende Ergebnisse. Wie das BKA bestätigt, habe es in dieser Zeit bereits 45 Brand- und 17 Sprengstoffattentate gegeben. Welchen Betriebsteilen diese Angriffe letztendlich gegolten haben, werde angeblich statistisch nicht erfaßt.

Daß jedoch auch die Staatsschützer den Ernst der Situation erkannt haben, zeigen konzertierte Aktionen nach dem MAN-Bombenanschlag. So forderte das Bundeskriminalamt beispielsweise nahezu alle Rüstungsbetriebe in der Bundesrepublik auf, zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen für ihre Rechenzentren zu ergreifen, da mit weiteren Handstreichen zu rechnen sei.

In der Tat folgten schon unmittelbar nach dem Angriff auf das Ginsheimer MAN-RZ weitere Attacken: Am 4. November 1983 verursachte ein Sprengstoffanschlag auf das Rechenzentrum der Kieler Krupp-MAK Maschinenbau GmbH einen Schaden von 800 000 Mark. Die Bombe erreichte zwar nicht ihr Ziel - die DV-Anlage blieb unbeschädigt -, ihre Druckwelle pustete jedoch über fünf Etagen des Bürogebäudes sämtliche Fenster weg. Die Krupp-Verantwortlichen, die in ihrem Kieler Werk Kettenfahrzeuge für militärische Zwecke fertigen, wollen sich zu dem Attentat nicht unter ihren Namen äußern. Grund: Das BKA habe sie darauf hingewiesen, daß extremistische Gruppen inzwischen auch Personen aus den Sicherheitsbereichen und dem RZ-Umfeld im Visier haben.

Ein weiterer Anschlag galt dem Rechenzentrum des Verbandes Creditreform e. V. in Neuß, der auf seinen Rechnern eine der größten deutschen Auskunftsdateien führt. Auch hier verfehlte die Bombe dem Vernehmen nach nur knapp ihr Ziel. Über Hintergründe und Schaden des Angriffs wollen sich auch die Verantwortlichen des Verbandes nicht äußern. Mit dem BKA sei vereinbart, über diesen Vorfall keine Angaben gegenüber Dritten zu machen.

Nachdem eine Sprengstoffladung erst im Februar vergangenen Jahres das Gebäude der Stuttgarter Standard Elektrik Lorenz AG (SEL) erschütterte, mußte der Komunikationskonzern jetzt erneut einen Anschlag in seiner Berliner Dependance hinnehmen.

Der Schaden war mit 30 000 Mark indes noch relativ gering. Die Detonation verwüstete einen Büroraum des Hauses, in dem auch das Rechenzentrum untergebracht war.

Mit mehr Erfolg bombte eine Extremistengruppe gegen das Siemens-Werk im nordrhein-vestfälischen Witten. Der Handstreich zerstörte Sachgüter im Wert von 130 000 Mark, das Rechenzentrum wurde jedoch nicht getroffen. Auch bei einem Anschlag auf den Neubau der Nixdorf AG in Hannover blieb die Computeranlage verschont. Die Bombe gegen den Zweigbetrieb des Paderborner DV-Herstellers zerstörte lediglich gebäudetechnische Anlagen. Der verursachte Schaden belief doch nach Aussagen eines Untemehmenssprechers indes auf mehrere 100 000 Mark.

Die Tätergruppen scheinen indes unterschiedliche politische Ziele zu vertreten. Nach den Angriffen auf Nixdorf und Siemens gingen Bekennerschreiben einer terroristischen Frauengruppe "Rote Zora" ein. Bei den Anschlagen auf das Krupp-MAK-Rechenzentrum und das Berliner SEL-Büro meldete sich eine türkische Extremistenvereinigng, deren Absichten jedoch, so die Betroffenen aus den eingereichten Bekennerbriefen nicht eindeutig erkennbar gewesen seien. In anderen Fällen gaben die Bombenleger nach Aussagen eines BKA-Sprechers an, wegen "zunehmender Verdatung des Bürgers (Orwell 1984) Angriffe vollzogen zu haben.

Die französische Extremistengruppe "Clodo", die unlängst einen Brandanschlag mit Millionenschaden auf die Raume von Philips Informatique in Toulouse verübte, wird in ihrem Bekennerschreiben schon konkreter: "Wir sind Datenverarbeiter, die daher in der Lage sind, die gegenwärtigen und zukünftigen Gefahren der Informatik und Telematik zu erkennen. Der Computer ist das bevorzugte Werkzeug der Herrschenden. Er dient der Ausbeutung, Erfassung, Kontrolle und Repression. Morgen wird die Telematik das Jahr 1984 einläuten, übermorgen das Zeitalter des programmierten Menschen..."

Daß im Orwell-Jahr insbesondere die Datenverarbeitung in das Blickfeld terroristischer Gruppen gerückt ist, sagt auch der Bonner Sicherheitsberater Rainer von zur Mühlen. Extremistische Kreise nutzten nach Ansicht des Security-Experten zunehmend die Angst der Bevölkerung vor der wachsenden Computerisierung und der damit verbundenen Rationalisierung von Arbeitskräften, um eine positive Resonanz auf ihre Anschläge zu bekommen.