Virtuelle Unternehmen/Erfahrungen aus der Praxis

"Komposition von Kompetenz" für ganz reale Umsätze

13.09.1996

Eine Gruppe von zwölf Unternehmen, zusammengeschlossen in der Gesellschaft zur Förderung der mittelständischen Software-Industrie in Berlin und Brandenburg e.V. (SIBB), befaßt sich derzeit mit der Entwicklung eines virtuellen Softwarehauses. Dadurch sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, gemeinsam auch größere Projekte durchzuführen. Ziel des Vorhabens ist es nach Aussage von Pedro Schäffer, dem Vorstandsvorsitzenden der SIBB, eine Struktur zu erarbeiten, in der es "virtuelle Konstellationen" zur Lösung von bestimmten Aufgaben gibt.

Der Gedanke, ein virtuelles Softwarehaus in dieser Ausprägung zu gestalten, kam Ende 1995 auf. Beteiligt an dem aktuellen Projekt sind Unternehmen aus dem Raum Berlin-Brandenburg wie die Condat GmbH, deren Geschäftsführer Pedro Schäffer ist, die Index GmbH, das Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik (ISST), das IWB Institut für Wirtschaftsberatung, Netfox, PSI, System Consult, Teko, die Teles AG wie auch die TU Berlin.

Innerhalb des für die Zeitdauer eines Jahres angelegten Planungsrahmens sind mehrere Arbeitspakete definiert. Eines ist damit befaßt, die organisatorischen Voraussetzungen für das virtuelle Softwarehaus zu schaffen. Das virtuelle Softwarehaus soll nach dieser Erarbeitungsphase den regulären Betrieb aufnehmen.

"Die Aufgaben in dieser Zeit dürfen nicht unterschätzt werden", warnt Schäffer. Darunter subsumiert der Manager zum Beispiel eine genaue Klärung der Frage, wie ein derartiges Projekt juristisch zu bewerten ist. Eine Definition der Generalunternehmer- und der Subunternehmerschaft ist hierbei ebenso zu erörtern wie Haftungsfragen, Gewährleistung und Garantie.

"Bei einem einzelnen Unternehmen sind diese Fragen im allgemeinen klar geregelt", erläutert Schäffer, "aber die Regelung fehlt, wenn es mehrere Unternehmen vorübergehend unter einem Dach gibt." Durch die Virtualisierung der Projekte müsse man sich ferner hinsichtlich der juristischen Ausgestaltung von Pflichten, außerdem über Aspekte wie Urheber- und Verwertungsrechte mehr Gedanken machen, als es bei einem herkömmlichen Joint-venture der Fall ist, meint der SIBB-Vorsitzende.

Vor allem die Systematisierung der Inhalte und Vorgehensweisen stellt hier eine neue Herausforderung dar. Man könne nicht bei jedem anlaufenden Projekt wieder mit grundsätzlichen Überlegungen beginnen.

Zu den organisatorischen Maßnahmen zählen aber auch die Verfahren, die zum Beispiel für die Sicherung der Qualität der virtuell durchgeführten Projekte eingeleitet werden. Nach außen hin muß ein bestimmter Standard repräsentiert sein, so der Condat-Geschäftsführer und SIBB-Vorstand. So seien einige Unternehmen des Konsortiums nach ISO 9000 zertifiziert. Der Vorteil im Zusammenhang: übergreifende Strukturen, die ein gegenseitiges Anpassen erleichtern.

Die eigenen Verfahrensvorschriften bedürfen zudem einer Überarbeitung und Eingliederung in ein bestimmtes Qualitäts-Management des virtuellen Unternehmens. Hier sind bei dem SIBB-Projekt noch viele Fragen in der Diskussion. Doch man überlegt auf der Basis bewährter Verfahren und fügt entsprechend für das virtuelle Projekt neue Ansätze hinzu. So sei es in der Branche bei gemeinsamen Projekten gang und gäbe, als Generalunternehmer das eigene Qualitäts-Management heranzuziehen und sich als Subunternehmer auf das des Generalunternehmers zu beziehen.

Zu einem zweiten großen Arbeitsbereich zählt SIBB-Vorstand Schäffer den Aufbau einer gemeinsamen Kultur der an dem virtuellen Vorhaben beteiligten Unternehmen. Es gehe nicht an, daß sich einzelne Unternehmen innerhalb dieses künstlich geschaffenen Verbundes abschotten - so eine Prämisse für das Gelingen von virtuellen Vorhaben.

Insbesondere eignen sich hierfür auch informelle Vorgehensweisen wie gemeinsame Abendveranstaltungen, um sich gegenseitig kennenzulernen und Vorbehalte abzubauen. Wie auch aus anderen Gesprächen hervorgeht, hegen viele Mittelständler Befürchtungen hinsichtlich eines Quasi-Ausverkaufs der eigenen Geschäftskenntnisse. Erst nach intensiven vertrauensbildenden Aktivitäten sehen sie die Notwendigkeit einer Öffnung und deren Vorteile für das gesamte Vorhaben.

In Planung ist bei der SIBB deshalb auch eine Kontaktbörse. Auf diese Weise soll es den Unternehmen ermöglicht werden, Informationen über ein bestimmtes Projekt zu veröffentlichen und eigenen Bedarf an Ressourcen publik zu machen. Dies gehe mit Internet relativ einfach, meint Schäffer. Einige eigens entwickelte Applikationen automatisieren zum Beispiel einen regelmäßigen Abruf bestimmter Informationen.

Darüber hinaus soll für die einzelnen Projekte ein Arbeitsraum zur Verfügung gestellt werden. In diesem "Workspace" lassen sich für die diversen Projekte Dokumente im Sinne eines Joint-Application-Sharing erarbeiten oder ein Billboard zur Verfügung stellen. Es handelt sich hierbei um fast klassisch zu nennende Hilfsmittel, wie sie per Computer heute auch einem unternehmenseigenen Team zur Verfügung stehen, die aber über das Internet neue Qualität erhalten.

Vorerst ist das Projekt auf die zwölf Gründungsmitglieder beschränkt. In einer zweiten Phase soll es dann zu einem Betreiberprojekt werden, das auch für andere Unternehmen offensteht. "Gerade in diesem dynamischen Markt, in dem wir uns bewegen, muß eine Öffnung für weitere Unternehmen, die bestimmte Spezialisierungen als Bereicherung anbieten, gegeben sein", so Schäffer. Ende 1997 soll das Projekt in diese Phase schließlich eintreten.

Hinsichtlich der technischen Rahmenbedingungen haben sich die Projektbeteiligten der SIBB darauf verständigt, auf Bewährtes zu setzen. Die Beteiligten nutzen Erfahrungen anderer Koopera-tionspartner aus firmenübergreifenden Projekten. So verfügt die Condat GmbH über Kommunikationserfahrung aus EU-Projekten mit anderen Partnern in Europa. E-Mail, Video-Conferencing und Dokumentenaustausch waren dabei gebräuchliche Kommunikationsverfahren.

Eine stärkere Nutzung von Kommunikationstechnik ist der Angelpunkt für ein virtuelles Unternehmen, meint auch Thomas Garmhausen, Geschäftsführer der Garmhausen AG i.G. aus Bonn er gehört zu den ersten, die hierzulande an einem virtuellen Unternehmen teilhatten. Nach Garmhausens Aussage geht es nicht nur um den reinen Datenaustausch per Netz, sondern unter anderem auch um die Videotelefonie. Den Partner zu sehen trage durchaus zu einem Gefühl der Sicherheit unter den Beteiligten bei.

Des weiteren ist laut Garmhausen zu beachten, daß der im gängigen Kommunikationsmedium Internet genutzte Browser nicht nur als Werkzeug gelten darf. Er muß in die gesamte Umgebung integriert werden. Es gibt inzwischen Produkte, mit denen man nicht nur den eigenen Browser erstellen, sondern auch spezifische Applikationen fertigen könne: Damit lassen sich dann nicht nur Informationen suchen, sondern auch per Drag and Drop übernehmen, zum Beispiel in die eigene Datenbank.

Das Internet als Integrationsfaktor

Die hausinterne DV sollte bei einem virtuellen Unternehmen Zug um Zug in die Internet-Landschaft integriert werden, meint der Bonner Manager. "Wenn die ganzen Möglichkeiten der Kommunikation zur Verfügung stehen und zusätzlich noch die Web-Technologie eingebracht wird, ist es nicht weit bis zu einer Dokumentenverwaltung und zu einem Workflow-Management auf dieser Basis." Java ist ein wichtiger Baustein für die Integration.

Die Einbindung in Bestehendes sei das A und O für die Abwicklung der Geschäftsprozesse eines virtuellen Vorhabens. Die Technik, so Garmhausen, sei zwar vorhanden, aber vielfach seien die sich bietenden Möglichkeiten noch nicht ausreichend ausgelotet. Defizite bestehen hier insbesondere auch bei den für virtuelle Unternehmen wichtigen Schutzverfahren gegen unberechtigte Eingriffe.

Firewalls sind nicht nur im externen Netzverkehr notwendig, sondern haben durchaus auch Sinn bei der Gestaltung der internen Zugriffsrechte auf Anwendungen der virtuellen Unternehmen. Innerhalb des virtuellen Teams fließen Daten, die hochsensibel sind und nicht jedermann zur Verfügung stehen sollten.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ein virtuelles Unternehmen ist eine Erweiterung für das aktuelle Geschäft - und nicht etwa ein Ersatz dafür. Marc Geara, Director Interactive Services der Gartner Group, Paris, beschreibt den Schritt in die virtuelle Geschäftswelt folgendermaßen: "Ein Unternehmen, das sich einem virtuellen Vorhaben anschließt, sollte auf keinen Fall seine ureigenen Geschäfte vernachlässigen und sich nicht ausschließlich auf die neuen Möglichkeiten konzentrieren."

Die Gartner Group ist Initiator der virtuellen Anwendung "Atvantage" (geschrieben auch: vantage), in der Marktforschungsunternehmen verschiedenster Ausrichtung Reports und Leistungen unter einem Dach anbieten. Atvantage wurde gegen Ende 1994 als proprietäre Anwendung für das AT&T-Interchange-Netz konzipiert und ging darin im Mai 1995 online.

Gegen Jahresende 1995 entschieden die Manager, die Dienstleistung in das Internet zu stellen. Die Vertragsunterzeichnung mit Netscape erfolgte im Frühjahr 1996, der offizielle Start fand am 15. Juli diesen Jahres statt.

Aufgrund der bisherigen Erfahrungen meint Geara, daß der Aufbau einer Vertrauensbasis eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg der Partnerschaft sei. So bestünde der normale Wettbewerb unter den Atvantage-Partnern durchaus weiter.

Zur Vertrauensbildung und guten Idee aber kämen auch Maßnahmenbündel hinzu wie etwa die Erarbeitung eines ausgefeilten Managements auf der Kosten- und Abrechnungsseite sowie zur Organisation. So reichen die Atvantage-Partner zum Beispiel ihre Updates bei einem speziellen Redaktionsteam von Gartner ein, da Gartner mit der Gesamtleitung betraut ist.

Der Manager aus Paris hat einige Tips für Unternehmen parat, die online gehen oder sich einem virtuellen Vorhaben anschließen wollen. So müssen sie sich nach seiner Aussage dessen bewußt sein, daß sie aufgrund einer kundenseitig geforderten Interaktivität mehr zu geben bereit sein sollten als im traditionellen Geschäft. "Signal yourself" ist ein weiterer Tip: Achte auf die Attraktivität, Aussagekraft und Funktionalität der Web-Seiten!

Dienstleistungen, die, wie bei Gartners Atvantage, mehrere Mitglieder virtuell zur Verfügung stellen, müßten nach Aussage des Internet-Profis zudem von ihrer Preisgestaltung her günstiger sein, da auch weniger Kosten anfielen. Dann öffnen sich durch den Schritt in die Virtualität interessante neue Aspekte und Märkte.

So betrachtet auch Pedro Schäffer das aktuelle Projekt des virtuellen Softwarehauses als "Komposition von Kompetenz" und als gute Möglichkeit, gemeinsam auf interessante Ausschreibungen zu reagieren, deren Bedingungen das Einzelunternehmen nicht hätte gerecht werden können.

Die neue Konzeption als virtuelles Unternehmen ändert nichts an dem traditionellen Ziel der Beteiligten: ganz reale Umsätze herbeizuführen.

Angeklickt

Auf den ersten Blick verheißt der Aufbau eines virtuellen Unternehmens ein wirtschaftliches Wunderland. Ausweitung der Märkte, Bündelung des Know-hows, Globalisierung sind Schlagworte, die in einem Atemzug mit den neuen Möglichkeiten der Kommunikation und des Wirtschaftens genannt werden. Doch um ein virtuelles Unternehmen zur Blüte zu bringen, bedarf es intensiver Vorarbeiten - sowohl inhaltlicher als auch organisatorischer und technischer Art. Beteiligte aus Versuchen mit der neuen Form der geschäftlichen Zusammenarbeit erläutern zentrale Elemente.

*Julius Martin ist freier Fachjournalist in München.