IT im Automobilbau/Kooperative Produktions- und Vertriebsmodelle in der Autoindustrie

Kommunikation über Firmengrenzen hinweg

17.09.2004
In der Automobilindustrie müssen Hersteller sowohl intern als auch mit Zulieferern und Händlern effizient und sicher kommunizieren. Dazu werden integrierte globale Netzkonzepte benötigt. Von Jürgen Appel*

Kooperation im internationalen Maßstab prägt die Automobilindustrie. Das beginnt bei kooperativen Produktionsmodellen, wenn beispielsweise Hersteller in verschiedenen Werken standardisierte Aggregate herstellen, etwa Motoren, Getriebe, Antriebswellen, Fahrwerke oder Lenkungen. Dieser eng verzahnte Prozess verlangt präzise Abstimmung. Er wird über international verteilte ERP-Systeme auf Basis globaler Netze gesteuert, auch bei der Entwicklung neuer Modelle und Komponenten von kooperieren Teams im weltweiten Verbund. So können sie rund um die Uhr an Projekten arbeiten, was die Entstehungszeit von Fahrzeugen erheblich verkürzt.

Zunehmend werden externe Partner eingebunden, denn die Hersteller verlagern immer mehr Aktivitäten auf ihre Zulieferer. Diese übernehmen nicht nur große Teile der Produktentwicklung, sondern auch Verantwortung für den reibungslosen Betriebsablauf des Auftraggebers. Um Lagerkosten nachhaltig zu senken, wird weitgehend just-in-time produziert. Dazu muss der Partner seine Logistikkette detailliert und minutengenau am Produktionsprozess des Kunden ausrichten. Jeder Auftrag löst wiederum Bestellungen bei den Sublieferanten des Zulieferers aus, die ebenfalls in die durchgehende Prozesskette integriert werden müssen. Auch Design- und Konstruktionsbüros werden eingebunden.

Hilfe durch Telediagnose

Diese eng verzahnte Logistikkette funktioniert nur, wenn sie auf Basis einer globalen Online-Kommunikation automatisiert ist. Alle erforderlichen Informationen müssen schnellstmöglich verfügbar sein. Zulieferer müssen zum Beispiel stets den Status des Wareneingangs und den stundengenauen Materialbedarf kennen oder auf Designzeichnungen zugreifen, um ihre Fertigung schnellstmöglich an eventuelle Änderungen anzupassen. Auch die Entwicklungsabteilungen müssen in die Lage versetzt werden, jederzeit weltweit Daten auszutauschen, etwa beim Zugriff auf zentrale Motorenprüfstände.

In Vertrieb und Wartung kooperieren verschiedene Partner ebenfalls international. Bei vielen Modellen können Reparaturen nur noch mit Hilfe einer Telediagnose fachgerecht vorgenommen werden; dazu muss die Werkstatt selbst in entlegenen Teilen der Welt online mit dem Technikzentrum des Herstellers verbunden sein. Auch die passgenaue Ersatzteillieferung aus dem nächstgelegenen Lager wird meist zentral organisiert.

Interne und externe Kommunikation

Die Netzinfrastruktur muss also eine globale Kommunikation auf zwei Ebenen unterstützen. Intern nutzen große Unternehmen in der Regel ihr Corporate Network; die Kommunikation zwischen Unternehmen stellt jedoch wesentlich höhere Sicherheitsanforderungen und schafft erhebliche Integrationsprobleme.

Von Corporate Networks, mit denen Hersteller ihre weltweite Produktion steuern, wird erwartet, dass sie vor allem höchste Verfügbarkeit und Ausfallsicherheit bieten. Bei einem Netzausfall könnten allenfalls einige Stunden manuell überbrückt werden, dann würden sich die Lkw in den Werken stauen, und die Produktion müsste angehalten werden. Stand der Technik ist hier ein weltweites Virtuelles Privates Netz (VPN), basierend auf modernsten Kommunikationstechnologien wie hochbandbreitigem ATM, Frame Relay oder MPLS. Es sollte Service Level Agreements (SLA) mit einer garantierten Verfügbarkeit über 99,9 Prozent sowie automatischem Backup und Failover erlauben.

Greifen Mitarbeiter an internationalen Standorten auf zentrale IT-Systeme - etwa Konstruktionszeichnungen - zu, werden oft enorme Datenmengen transportiert. Damit die zeitkritischen interaktiven ERP-Applikationen davon nicht beeinträchtigt werden, brauchen diese stets "Vorfahrt" im Netz. Solche "Classes of Service" lassen sich ebenfalls am effizientesten mit MPLS realisieren, insbesondere wenn eine dynamische Any-to-Any-Kommunikation verlangt wird.

Geschützte Extranets sind sinnvoll

Importeure, Händler und Werkstätten sind in der Regel an einen Hersteller gebunden und an dessen Kommunikationsplattform angeschlossen. Ihre Anforderungen sind allerdings recht unterschiedlich. So benötigen manche Werkstätten höchste Verfügbarkeit in einem eigenen VPN; anderen genügt eine Einwahlverbindung, die aber ebenfalls zuverlässig und sicher sein muss (weshalb das öffentliche Internet ungeeignet ist). Hier können geschützte Extranets aus privaten und öffentlichen Netzstrecken sinnvoll sein. Der Telekommunikationspartner des Herstellers sollte deshalb unterschiedliche Lösungen im Portfolio haben - von Highend bis sehr preisgünstig.

Völlig anders ist die Situation bei den Zulieferern. Sie sind praktisch bei jedem Hersteller vertreten, wobei dieser jeweils seine Kommunikationslösung benutzen wird. Und da nahezu jeder Hersteller ein anderes Kommunikationskonzept besitzt - von Festanbindung über Internet oder Dial-in bis zu Satellit -, bleibt dem Zulieferer nichts anderes übrig, als all dies bei sich zu spiegeln. Außerdem muss er mit seinen Sublieferanten kommunizieren. So besitzt er pro Anwendung und Kunde eine Vielzahl von Zugängen mit unterschiedlichen Protokollen, Nutzerschnittstellen und Übertragungstechniken. Diese starren, isolierten Verbindungen richten vor allem in mittelständischen Unternehmen - die die Zuliefererindustrie prägen - hohe Technologie- und Kostenhürden auf.

ENX konsolidiert Netzvielfalt

Die Automobilindustrie benötigt deshalb für die Kommunikation zwischen Unternehmen eine sichere Plattform, in der die unterschiedlichen Lösungen konsolidiert werden. Genau dies ist das Ziel von ENX (European Network Exchange). Der Name steht sowohl für die Organisation als auch für das Produkt. ENX ist Mitte 2000 aus einer gemeinsamen Initiative von 13 Automobilherstellern und -lieferanten aus sechs Ländern sowie Automobilverbänden in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien entstanden.

Die Idee ist simpel: Die Verbindung mit beliebigen externen Partnern soll so leicht werden wie ein Stromanschluss. Dazu wird ein europäisches Netzwerk mit einem garantierten und kontrollierten Service aufgebaut, das den hohen Anforderungen der Inter-Company-Kommunikation genügt. Es handelt sich um ein Multi-Provider-Netzwerk, bei dem die Netze der verschiedenen Anbieter über Gateways verbunden sind. Damit erhält der Kunde Zugang zu einer einzigen, transparenten Plattform, an die eine Vielzahl von Partnern angeschlossen ist. Jeder Provider vermarktet aktiv sein eigenes Angebot. Um eine ENX-Zertifizierung zu erhalten, muss er hohen Standards an Verfügbarkeit, Management, Betrieb und Support sowie Sicherheit genügen.

Der Datenverkehr jedes Teilnehmers wird strikt isoliert und vollständig kontrolliert - schließlich sind auch Wettbewerber Teil der ENX-Community. Dazu bildet jedes Unternehmen auf der IP-Schicht sein eigenes ENX-VPN auf. Die Sicherheitsvorgaben werden auf dem Internet-Security-Standard IPSec realisiert. Er garantiert Vertraulichkeit und Integrität der Daten sowie die Authentifizierung der Sender und Empfänger.

Zielgruppen sind heute Automobilhersteller, Zulieferer und Designbüros. Der Provider sollte ihnen sowohl ein Stand-alone-ENX-Netz als auch die ENX-Erweiterung eines bereits bestehenden internen VPN anbieten können. Im zweiten Fall sollten beide Netze unbedingt über einen einzigen Anschluss angebunden werden. Dann fällt nur eine Gebühr an, und SLA, Kundensupport und Reporting sind für alle Netze identisch - das senkt die Kosten deutlich. Auch hierfür bietet MPLS mit einer Multi-VPN-Technologie in Form dedizierter VRF (Virtual Routing and Forwarding-Tables) gute Voraussetzungen. ENX erlaubt eine Integration (Shared Local Loop) mit sicheren, kontrollierten IP-VPN; nur das öffentliche Internet ist ausgeschlossen.

Hohes Wachstumspotenzial

Nach einer relativ langen Startphase hat ENX in den vergangenen zehn Monaten seine Teilnehmerzahl erheblich vergrößert. Im Juli 2004 gab es europaweit 519 ENX-Anschlüsse; auf dieser Basis wurden 3200 individuelle Kommunikationsverbindungen geschaltet. "Nachdem wir die kritische Masse erreicht haben, wachsen wir durch den Schneeballeffekt deutlich schneller", sagt Lennart Oly, Geschäftsführer der ENX Association (Paris und Frankfurt). Dazu habe nicht zuletzt eine größere Wirtschaftlichkeit durch Preisinitiativen der Provider beigetragen. Je mehr Unternehmen das Netz nutzen, desto günstiger kann es letztendlich angeboten werden, da der Fixkostenblock - bedingt durch die Gateways zwischen den Providern sowie die hohen Standards - auf mehr Teilnehmer verteilt wird.

Kfz-Händler als neue Zielgruppe

Derzeit sind vier Provider zertifiziert: die Deutsche Telekom, France Telekom mit Equant, Telefonica und seit Juli dieses Jahres Infonet. Weitere Anbieter dürften sich um Zertifizierung bemühen, denn immer mehr Unternehmen der Automobilbranche verlangen bei Netzausschreibungen ENX-Unterstützung. Auch hier wird Konkurrenz das Geschäft weiter beleben; so können die Provider ihren Kunden unterschiedliche Preis- und Service-Bundlings anbieten.

Des Weiteren könnten sich Kfz-Händler und Werkstätten zu einer neuen Zielgruppe für ENX entwickeln. Dank der neuen Gruppenfreistellungsverordnung der EU, die den Handel mit Kfz-Ersatzteilen liberalisiert und den Zugang zu technischen Informationen ausweitet, können sie künftig mehrere Hersteller bedienen - wodurch sie vor ähnlichen Kommunikationsherausforderungen stehen werden wie die Zulieferer. Allerdings sind Fahrzeughändler sehr preissensitiv und haben geringere Sicherheitsanforderungen. Laut Oly kann sich ENX für sie deshalb eine eigene ENX-Produktlinie vorstellen.

Automobilbranchennetze mit vergleichbaren Standards gibt es auch in Nordamerika (ANX), Japan (JNX), Australien (AANX) und Korea (KNX). Die meisten Hersteller nutzen derzeit ihr Corporate Network für die globale Kommunikation und brechen auf den verschiedenen Kontinenten in das jeweilige XNX-Netz aus. Aber es gibt regelmäßige Kontakte zwischen den Organisationen, bei denen bereits künftige Interconnections besprochen wurden.

Der Automobilsektor ist zum Vorreiter der Inter-Company-Kommunikation geworden. Oly zufolge nutzen bereits Unternehmen aus anderen Branchen ENX. So müssen sie das Rad nicht neu erfinden und profitieren von den Economies of Scale. Auf großes Interesse stößt ENX etwa bei der Luft- und Raumfahrtindustrie sowie der Finanzbranche. Dass es sich bei der Inter-Company-Kommunikation um einen Markt mit einem enormen Wachstumspotenzial handelt, ist unbestritten. (bi)

*Jürgen Appel ist Manager Business Unit Automotive bei der Infonetwork Services Deutschland GmbH in Frankfurt am Main.

Hier lesen Sie ...

- warum die Integration interner und externer Unternehmensnetze eine zentrale Herausforderung der Automobilindustrie ist;

- wie die Branche mit ENX ein richtungsweisendes Konzept für die Inter-Company-Kommunikation entwickelt hat;

- warum hier ein neuer Wachstumsmarkt entsteht.

Abb: Sicherheit und Integrität der Daten werden garantiert

Eine globale Netzinfrastruktur, die den Anforderungen der Automobilbranche genügt: hochverfügbare VPN, die bedarfsgerechte Anbindung von Händlern (etwa über gesicherte Tunnel durch das Internet) und Kommunikation mit Zulieferern über ENX. Quelle: Infonet