Diebold-Studie geht gegen Unix-Vorurteile an:

Kommerzielle Anwendungen dominieren die Szene

07.11.1986

Unix steht in dem Ruf, ein zwar mächtiges, aber sehr kompliziertes Betriebssystem zu sein, das nur von Technikern, Wissenschaftlern und Computerprofis sinnvoll zu nutzen ist. Die Installationspraxis widerlegt diese landläufige Ansicht: 69 Prozent aller installierten Unix-Systeme sind in kommerziellen Anwendungen eingesetzt. Zu dieser Feststellung gelangten die Managementberater der Diebold Deutschland GmbH in der Studie "Der Markt für Unix-Systeme", die sich mit historischer Entwicklung, -heutigem Stand und den Zukunftsaussichten des Betriebssystems auseinandersetzt.

Mit rund fünfzehn Jahren Lebensalter zählt Unix heute nicht unbedingt zu den modernsten Komponenten der Informationstechnik. Geblieben von der ersten Version ist auch nur die grundsätzliche Struktur. Um einen Kern, der speziell auf die jeweilige Rechnerarchitektur zugeschnitten ist, rankt sich ein umfangreiches Gebilde mit Kommandosprache, Dienstprogrammen und Werkzeugen. Das Verhältnis von Kern zu Umgebung liegt heute bei etwa 1 zu 10, wobei schon der Kern in zahlreichen Varianten verfügbar ist.

Ein Teil davon basiert auf den Quellprogrammen der Bell Labs, die als reguläre Lizenz erworben wurden. Andere Lieferanten übernahmen nur die Idee und den Formalismus, um eine eigene Version zu stricken. Heute werden auf dem Markt neben der offiziellen Version V von AT&T rund 30 Derivate angeboten, die zwar im Prinzip alle Unix-ähnlich sind, aber eben nur im Prinzip. Speziell bei den angebotenen Menü-Systemen, Dienstprogrammen und Werkzeugen ließ jeder Neuanbieter der Kreativität seiner Entwicklermannschaft freien Lauf.

Als verbindendes Element aller Unix-Versionen, -Varianten und -Derivate gilt die Programmiersprache "C'. In ihr ist nicht nur ein wesentlicher Teil des Betriebssystem-Kerns geschrieben. Sie ist auch das Werkzeug für alle Dienst- und Hilfsprogramme, ohne die Datenverarbeitung kaum möglich ist. Darüber hinaus dient sie auch zur Entwicklung des jeweiligen C-Compilers für den bezogenen Rechner.

Daten sind so zu speichern, daß sie vom Betriebssystem zum rechten Zeitpunkt gefunden und bereitgestellt werden können. Unix bietet hierfür ein sehr einfaches und effizientes Verfahren: Alle Daten werden in einen großen Topf geschüttet; der Topf wird auf dem Massenspeicher abgestellt. Will ein Programm entsprechend den Wünschen seines Anwenders auf Daten dieses Bestands zugreifen, so muß der ganze Topf oder ein Teil davon in den Speicher des Rechners geladen werden. Dann ist es Aufgabe des Programms genau jenen Satz, Block oder Bereich, herauszufinden, der für die Bearbeitung gerade benötigt wird.

Diese Art der Datenorganisation ist historisch begründet. Unix war in seinen ersten Versionen ein Hilfsmittel, das mehreren Programmierern die gleichzeitige Nutzung des Rechners erlaubte. Die erfaßten oder geänderten Programme wurden immer als komplett gespeicherte Einheit bearbeitet. Auch auszuführende Programme mußten am Stück in den Arbeitsspeicher des Rechners geladen werden. Die Folge der Quellanweisungen oder des Objektcodes wurden in einer Zeichenkette zusammengefaßt, die als komplette Einheit auf dem Massenspeicher ausgelagert wurde. Stringfiles (Zeichenkettendateien) sind demnach die einzigen Dateien, die Unix von Haus aus bearbeiten kann.

Kommerzielle Daten sind in zahlreichen Formen gespeichert, grundsätzlich aber in Datensätzen angeordnet. Den gezielten Zugriff auf den gewünschten Datensatz ermöglichen verschiedene Mechanismen. Da Unix sich hierum nicht kümmert, sind Zusätze erforderlich, die Daten für kommerzielle Anwendungen organisieren. Und genau hier kommt die jeweilige Vergangenheit des Unix-Anbieters zum Vorschein: Bei Computern mit eigenem Betriebssystem, muß er deren Verfahren zum Datenzugriff berücksichtigen, um seinen umsteigewilligen Anwendern die erforderlichen Brücken zu bauen - außer, er hat Blau als Hausfarbe.

Neue Anbieter, deren Unix-Variante frei von geschichtlichen Belastungen ist, stützen sich in ihrer Implementierung hingegen häufig auf gängige Datenbanksysteme, um damit integrierte Anwendungen zu erleichtern. Daß sie damit gleichzeitig den Wechsel zu allen Herstellern erschweren, die einer anderen Variante der Dateiverarbeitung huldigen, mag unbeabsichtigt sein; bestimmt ist dies nicht unerwünscht.

So, wie es heute rund dreißig Unix-Versionen gibt, werden auch dreißig verschiedene Verfahren zum Zugriff auf einen Datensatz angewandt. Die Zugriffsverfahren unterscheiden sich weniger in der programmtechnischen Handhabung als vielmehr in der Organisation auf dem Massenspeicher. Solange es nicht möglich ist, Daten ohne Umwandlung oder Neustrukturierung vom System eines Herstellers zu einem anderen zu transportieren, ist die vielgepriesene Portabilität der Anwendungen nur sehr eingeschränkt gewährleistet. Es sei denn, der Anwendung liegt eine Standard-Datenbankorganisation zugrunde.

Unix-Kommandos, die von der "Shell" - der Interpretationsebene ausgeführt werden, gelten als kompliziert und schwer zu handhaben. Dadurch unterscheidet Unix sich jedoch überhaupt nicht von anderen Betriebssystemen. Bereits MS-DOS (oder PC-DOS für die "blauen" Anhänger) kann mit seiner Kommandostruktur den unerfahrenen Anwender zur Verzweiflung bringen. Und jeder DV-Fachmann, der bereits mit einer Ablaufsteuerung unter MIS oder JES konfrontiert war, kennt die Tücken der verketteten Funktionsaufrufe.

Während jedoch große DV-Systeme von geschulten Operatoren bedient werden, kann ein Unix-Rechner schon mal bei einem professionellen Anwender installiert sein, der nicht über die höheren Weihen der Datenverarbeitung verfügt. Da Rechner und Betriebssystem jedoch vergleichbar komplex wie Großsysteme sind, ist das Chaos programmiert, wenn die Ablaufsteuerung nicht in eine benutzerorientierte Menüumgebung gebracht wird. Das gilt gleichermaßen für die PC-Welt. Nicht ohne Grund wurden GEM, Apples Desk Manager und Microsofts Windows entwickelt.

Auch Unix-Systeme kommunizieren mittlerweile über ein Menü mit ihrer Umwelt. Natürlich lassen sie nach wie vor die Command-Shell bestehen, weil der geschulte und geübte Anwender darüber ganze Tagesabläufe vorgeben und definieren kann. Dem Anwender einer kommerziellen Applikation hingegen wird in der Regel gar nicht bewußt, daß er mit einem Unix-System arbeitet. Er wählt seine Finanzbuchhaltung aus dem Menü - egal, ob das Betriebssystem Xenix, Mulix, MS-DOS oder Niros heißt.

Grundsätzlich unterscheidet Unix sich also nicht von anderen Betriebssystemen. Irreführend ist lediglich, daß unter einer einheitlichen Bezeichnung zahlreiche Betriebssysteme zusammengefaßt werden, die außer den Großeltern keine weiteren Gemeinsamkeiten haben. So ist es zumindest unpräzise, Unix als das Betriebssystem der Zukunft zu bezeichnen - "das" Unix gibt es eben nicht.

Richtiger wäre, auf Unix basierenden Betriebssystemen gute Zukunftsaussichten einzuräumen. Es gibt eine ganze Reihe von guten Gründe, die vor allem wirtschaftlicher Natur sind. Das beginnt bei der Hardware: Neue Prozessoren, die sogar virtuelles Speichermanagement beinhalten, sind in ihrer Befehls- und Registerstruktur bereits auf eine Unix-Umgebung ausgerichtet. Der C-Compiler wird gegebenenfalls sogar vom Prozessorhersteller entwickelt und bereitgestellt. Da neben Dienstprogrammen und Werkzeugen sogar der Betriebssystem-Kern bis auf rund 1000 Anweisungen in "C" geschrieben ist, reduziert sich der Aufwand für die Entwicklung eines neuen Betriebssystems von rund 80 Mannjahren auf weniger als 20 Mannjahre.

Das bedeutet, daß auch kleinere Anbieter mit niedrigen Stückzahlen ein neues System mit maßgeschneidertem Betriebssystem zu vertretbaren Kosten entwickeln können. Für die Anwender gilt es als Vorteil, daß Investitionen in Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter nicht mehr herstellerorientiert sind. Dazu gehört auch, daß preiswerte Angebote externer Schulungsdienste in Anspruch genommen werden können.

Besondere Wettbewerbsvorteile gegenüber den Anbietern herkömmlicher Bürocomputer ziehen die Lieferanten Unix-basierter Systeme jedoch aus dem Angebot fertiger Anwendungslösungen von der Stange. Bei Anwendern, die erstmalig eine eigene Datenverarbeitung installieren wollen, muß keine Rücksicht auf die Verträglichkeit mit vorhandenen Datenbeständen genommen werden. So kann der Kunde relativ frei aus dem Angebot externer Lieferanten wählen. Denen wiederum erlaubt die höhere Stückzahl abgesetzter Programmpakete, die Preise an der Größenordnung des Rechnerkaufpreises zu orientieren. Diese Konditionen gelten allerdings nur so lange, bis die großen DV-Hersteller eine Marktnische als lukrativ einstufen und mit geballter Macht den Wettbewerb der kleinen Anbieter unterbinden.

Alles in allem kann Unix-Anbietern eine rosige Zukunft prophezeit werden. Um durchschnittlich 48 Prozent wird der Absatz Unix-basierter Systeme in den kommenden fünf Jahren steigen. Die höchsten Wachstumsraten dürfte der Mikrocomputerbereich aufweisen. Hier wird der Anteil an den Auslieferungen voraussichtlich von 20 Prozent in 1985 auf über 45 Prozent im Jahr 1990 steigen. Auch im Wert werden die Mikros zulegen: Ihr Anteil am Umsatz klettert von knapp 5 Prozent auf mehr als 10 Prozent in 1990. Den Löwenanteil des Umsatzes jedoch verwirtschaften Mehrplatz-Mikro- und Minicomputer: Über die Hälfte des Gesamtumsatzes 1990 wird aus Verkäufen dieser Systemgruppe erlöst.

Der installierte Bestand wird um durchschnittlich 63 Prozent pro Jahr auf rund 166000 Systeme steigen. Dabei zeichnet sich eine Verschiebung bei den Schwerpunkten der Anwendung ab: Waren 1986 noch fast 70 Prozent aller Systeme im kommerziellen Bereich angesiedelt werden es 1990 nur noch rund 60 Prozent sein. Überproportional wachsen dürfte der Teil Unix-basierter Rechner, die als Workstations im technisch-wissenschaftlichen Bereich angewendet werden. Einen besonderen Schwerpunkt werden Rechner im Bereich der computerintegrierten Fertigung bilden.

Unix als Betriebssystem-Umgebung für kommerzielle und technische Anwendungen wird sicherlich nicht die Dominanz von MS-DOS erreichen, wohl aber als Oberbegriff zahlreicher Varianten einer Idee einen nennenswerten Marktanteil erobern. Bei Einplatz-Mikrocomputern durften 5 Prozent Anteil die obere Grenze darstellen, denn Ressourcen-Bedarf und Mehrplatz-Orientierung machen einen Einsatz hier wenig sinnvoll. Bei Mehrplatz-Mikro- und Minicomputern werden jedoch voraussichtlich 1990 rund 25 Prozent aller ausgelieferten Rechner mit einem auf Unix basierenden Betriebssystem ausgestattet sein.

Auch wenn man nicht von Unix als dem Betriebssystem der Zukunft sprechen kann: Auf Unix basierende Betriebssysteme sind aus der DV-Landschaft der neunziger Jahre nicht mehr wegzudenken.

*Peter Steding ist Berater bei der Diebold Deutschland GmbH in Frankfurt. Die Diebold Marktstudie "Der Markt für Unix-Systeme", die diesem Beitrag zugrunde liegt, kostet 3500 Mark und kann ab sofort bei der Diebold Deutschland GmbH, Frankfurt, bestellt werden.