Kleinunternehmen beherrschen den IT-Markt in Ostdeutschland

04.09.1998

Für den Geschmack mancher Zeitgenossen hat er schon zu viel Publicity. Gute Schlagzeilen vor allem, die die Gegend, aus der er kommt, in gleißendes Scheinwerferlicht tauchen und alles in rosaroten Farben malen. Die Rede ist von Stephan Schambach, dem 29jährigen Gründer des in Jena angesiedelten Electronic-Commerce-Spezialisten Intershop Communications. Seit rund zwei Jahren wird Schambach als Shooting-Star der (ost)deutschen IT-Branche gehandelt, als Jungunternehmer par excellence, der es vielleicht schaffen könnte, eine zweite Erfolgsgeschichte ê la SAP zu schreiben.

Spricht man den Intershop-Chef auf seine Herkunft an, reagiert er auf bemerkenswerte Weise. Erstens ist er stolz darauf, daß er "ein Bürger aus den neuen Bundesländern" ist. Zweitens, und das betont er besonders, hat ihm sein früheres Leben hinter dem Eisernen Vorhang beim Aufbau seiner Company keine Vorteile gebracht. Von wegen Solidarität oder gar Mitleidseffekt, erst recht nicht in den USA, wo Intershop vor zwei Jahren erfolgreich erste Gehversuche unternahm. Schambach: "Im Silicon Valley haben sie mit Sicherheit nicht auf einen dahergelaufenen Ossi gewartet." Drittens, und auch das ist dem derzeitigen Liebkind der deutschen Softwarebranche wichtig, müsse der Standort Ostdeutschland keinen internationalen Vergleich scheuen: "In Jena gibt es bessere Entwickler als in Kalifornien - und sie sind bezahlbar." Genau aus diesem Grund hat Schambach seine ursprünglich nach Kalifornien ausgelagerte Entwicklungsabteilung mit mittlerweile mehr als 100 Programmierern an den Stammsitz des Unternehmens zurückgeholt.

Womit wir bei einer der immer noch hervorstechendsten Eigenschaften des ostdeutschen IT-Marktes wären. Er bietet gut ausgebildete und (noch) vergleichsweise billige Arbeitskräfte. Aber längst nicht mehr im Überfluß, wovon später noch die Rede sein wird. Problem an dieser "Wertschätzung" ist jedoch, daß besagtes Know-how, manche redeten gar von einem Ausbildungsvorsprung, nach der Wende zu einer verhängnisvollen Euphorie geführt hatte. Erinnern wir uns kurz an das Jahr 1990: Viele westdeutsche IT-Firmen gründeten - vor allem die Märkte Osteuropas im Visier - Joint-ventures, Kapitalgesellschaften oder GmbHs mit Vertretern der DV-Industrie der früheren DRR; Tausende hochqualifizierter Experten standen ja auf der Straße. Vorwiegend betraf dies natürlich das frühere Robo- tron-Kombinat. Wer nicht an der Seite von Westfirmen neuen Unterschlupf fand, gründete mit Hilfe staatlicher Fördergelder ein eigenes Unternehmen.

Acht Jahre später läßt sich eine nur mäßige Bilanz ziehen. Von einem Scherbenhaufen zu sprechen wäre übertrieben, aber vom gelungenen Aufbau einer international bedeutsamen ostdeutschen IT-Industrie ebenfalls. Jaroslav Pialek, Vorstandsvorsitzender des Unternehmensverbandes Informationssysteme e.V. (UVI), der die Interessen der ostdeutschen IT-Hersteller vertritt, bringt es emotionslos auf den Punkt: Es fand eine "für alle Beteiligten lehrreiche Marktbereinigung statt". Tausende kleiner Firmen seien mittlerweile "verschwunden, weil sie kein geeignetes Geschäftskonzept hatten". Wahrscheinlich auch deswegen, weil für ihre teilweise durchaus guten Produkte oder Dienstleistungen schlichtweg kein Bedarf bestand. Dennoch bewegt sich der ostdeutsche IT-Anbietermarkt nach Auffassung des UVI-Chefs heute auf einer "weitgehend stabilen Grundlage".

Was das konkret bedeutet, machen aktuelle Zahlen des UVI deutlich. 6600 Firmen erwirtschafteten 1997 mit zirka 70000 Mitarbeitern einen Umsatz von rund 5,4 Milliarden Mark. Doch die 85,2 Milliarden Mark, die laut Fachverband Informa- tionstechnik im VDMA/ZVEI vergangenes Jahr von der gesamten deutschen IT-Branche (ohne Telekommunikationsgeschäft) generiert wurden, dokumentieren die wahren Verhältnisse. Und was in Sachen internationale Wettbewerbsfähigkeit noch verhängnisvoller ist: Rund zwei Drittel der ostdeutschen IT-Hersteller und -Dienstleister beschäftigen weniger als zehn Mitarbeiter.

Damit haben sich die Verhältnisse im Osten umgekehrt; nicht mehr große Kombinate, sondern kleine Softwareklitschen und Boxenschieber geben den Ton an. UVI-Chef Pialek: Man müsse den Kunden respektive den großen Anwenderfirmen im Westen immer noch mühsam klarmachen, daß es auch in den neuen Bundesländern eine "funktionierende und etablierte Anbieterstruktur gibt". Das Kardinalproblem für Pialek: Viele Auftraggeber in den alten Bundesländern - egal ob von öffentlicher oder privater Hand - würden nach wie vor "aus Imagegründen" westliche IT-Firmen bevorzugen - ein Szenario, das sich auch in den angrenzenden EU-Märkten widerspiegelt. Pialek: "Der ostdeutschen IT-Branche fehlt nach wie vor die Anbindung an die westeuropäischen Märkte." Aber hatte sich die ostdeutsche IT-Industrie nicht ohnehin vorzugsweise auf osteuropäische Kundschaft ausgerichtet? Für den UVI-Chef ist dieses Kapitel (zunächst) erfolglos beendet: "Osteuropa konnte nicht erobert werden", bilanziert Pialek etwas martialisch, und fügt hinzu, daß sich auch westliche Unternehmen in diesen Ländern sehr schwer getan hätten.

Folge dieser Erkenntnis war der Rückzug aus diversen Patenschaften und Joint-ventures - daraus resultiert die gegenwärtige Struktur des IT-Anbietermarktes in den neuen Bundesländern. Übrig blieben vor allem besagte tausende von Kleinbetrieben - unisono Opfer noch eines anderen "Mißverständnisses". Bernd Liske, Gründer und Chef eines kleinen Systemhauses (Liske Informa- tions-Management-Systeme) in Magdeburg sowie ausgewiesener Kenner der IT-Szene in Ostdeutschland, beschreibt dies so: "Wir hatten in den vergangenen Jahren mit einem Heer von Beratern zu kämpfen, die Ostdeutschland als neuen IT-Markt für sich entdeckt hatten, gleichzeitig aber nur Tonnen von Papier beschreiben konnten, was an Innovationen irgendwo schon existent war. Und für diese Innovationen wollten sie die neuen Bundesländer als Markt erschließen, obwohl sie dafür bezahlt wurden, diese neuen Märkte zu erschließen." Mit anderen Worten: Halbwegs lukrative Aufträge wurden von westdeutschen IT-Firmen in der Regel alleine abgewickelt. Wertschöpfung im Sinne einer Anschubhilfe für ostdeutsche Anbieter fand so gut wie nicht statt.

Daß es in letzter Zeit trotzdem wieder mehreren ostdeutschen IT-Firmen gelang, ins Rampenlicht vorzustoßen, begründet UVI-Vorstand Pialek mit der "allmählich um sich greifenden Normalität." Immer häufiger hätte eben die von seiner Organisation vertretene Klientel, "im Wettbewerb um Ideen, Geschäftskonzepte und Aufwandskalkulation" die Nase vorn. Jedenfalls machen seit längerem nicht nur Stephan Schambach mit Intershop Communications, sondern auch andere "Schwergewichte" aus Ostdeutschlands IT-Branche von sich reden. Zum Beispiel der in Taucha bei Leipzig ansässige PC-Hersteller und -Großhändler Lintec Computer AG, der für kommende Woche als zweites ostdeutsches IT-Unternehmen nach Intershop den Börsengang am Neuen Markt ankündigte. Oder das ebenfalls in Leipzig beheimatete Systemhaus PC-Ware, das als sogenannter "Microsoft-Select-Partner" im NT-Server-Geschäft - allen Vorurteilen zum Trotz - vor allem in den alten Bundesländern Auftrag um Auftrag gewinnt.

Beispiele wie diese ließen sich noch fortführen, was zu belegen scheint, daß es zumindest einigen ostdeutschen IT-Firmen trotz zum Teil widriger Umstände gelang, sich im gesamtdeutschen oder sogar europäischen IT-Markt zu etablieren und erheblich zu wachsen. Karl Trespe, Geschäftsführer der 1990 von SAP, Siemens-Nixdorf und 300 Ex-Robotron-Mitarbeitern gegründeten Software- und Systemhaus Dresden GmbH (SRS), führt dies auch auf eine spezifisch ostdeutsche Mentalität zurück: Die Menschen hätten, so der SRS-Chef, nach der Wende zwangsläufig gelernt, "mit Veränderungen umzugehen". Ergebnis sei eine entsprechend hohe Bereitschaft, "Dinge in Frage zu stellen und Neues zu kreieren". Trespe: "Nirgendwo sonst in Europa finden Sie einen derart ausgeprägten Pioniergeist."

Dem Geschäft des eigenen Unternehmens war dies jedenfalls nicht abträglich. Die SRS GmbH konnte sich als eines der wenigen erfolgreichen ostdeutschen Joint-ventures im R/3-Beratungsmarkt unter den Top-25 der Republik etablieren und generiert Trespe zufolge heute 64 Prozent ihres Umsatzes in den alten Bundesländern und Westeuropa.

Doch auch für die Dresdner SAP-Spezialisten, die natürlich immens von der Unterstützung ihrer beider Muttergesellschaften profitierten, wuchsen die Bäume bis dato nicht in den Himmel. Die ursprünglich gehegte Erwartung, daß man bestehende Kontakte nach Osteuropa nutzen könne, hat sich, so der SRS-Chef, "nicht erfüllt".

Jetzt soll aber auch vor der eigenen Haustüre ordentlich die Post abgehen. Auf Initiative der sächsischen Landesregierung fließen bekanntlich seit längerem Milliarden an EU-Subventionen sowie För- dermittel des Bundes in den Bau eines neuen deutschen Silicon Valley, was inzwischen weltweit bedeutende Branchengrößen wie Siemens, Motorola oder Advanced Micro Devices (AMD) anlockte. Von diesen IT-Giganten erwartet sich zumindest die sächsische IT-Branche, daraus macht der SRS-Chef kein Hehl, einen "spürbaren Katalysatoreffekt". Siemens und Konsorten dürften, so die Hoffnung, als große Anwenderfirmen die entsprechenden Produkte und IT-Services vor Ort einkaufen.

Erste Aufträge hat Trespe dem Vernehmen nach bereits in der Tasche, und er würde gerne noch kräftiger zulangen, wenn er könnte. Doch der mittlerweile auch in den neuen Bundesländern leer- gefegte Arbeitsmarkt macht SAP-Spezialisten und andere IT-Profis zur Mangelware. Dennoch ist Trespe vor der Zukunft nicht bange. Die SRS GmbH habe als ostdeutsches, als "sächsisches" Unternehmen ihren Weg gemacht. Im R/3-Beratungsgeschäft könne sich nur durchsetzen, wer "entsprechende Qualität anbietet und im Projekt-Management sowie in der Ausbildung seiner Leute auf einem sehr hohen Niveau ist". Gerhard Holzwart, E-Mail: gholzwart@computerwoche.de

Abb: Markt zersplittert: Rund zwei Drittel der 6600 ostdeutschen IT-Firmen beschäftigen weniger als zehn Mitarbeiter. Quelle: UVI