Keine Innovation ist schmerzlus:

05.06.1987

Dr.- Ing. Karlheinz Kaske

Vorsitzenderdes Vorstandes der Siemens AG München

Die Computertechnik hat ganz unmittelbar und in einer Breite unsere Lebenswirklichkeit verändert, wie keine der großen Technikentwicklungen der Vergangenheit zuvor. Maßgeblichen Anteil daran hat die Mikroelektronik, die den Computer zugleich leistungsfähig, preiswert und vielfältig verfügbar gemacht hat. Computertechnik begegnet uns heute praktisch an jedem Arbeitsplatz- sei es im Labor, im Büro oder in der Fabrik. Zunehmend werden Dienstleistungen durch sie geprägt, gleichermaßen solche der öffentlichen Hand wie der privaten Wirtschaft. Bildungswesen, Kulturbetrieb und Freizeitwelt haben längst damit begonnen, den Computer zu thematisieren und von ihm zu profitieren. Der strukturelle Wandel, den Computertechnik in allen hochentwickelten Industriegesellschaften zur Folge hat, erhält einen weiteren Schub noch dadurch, daß gegenwärtig eine sehr enge technische Verbindung zwischen der Verarbeitung von Informationen und ihrer Übermittlung entsteht. Das Stichwort heißt hier integrierte Kommunikationsnetze". Diese Entwicklung wird uns noch mindestens für ein weiteres Jahrzehnt in Atem halten.

Gegenwärtig spielt sich also industrielle Innovationsdynamik vor allem in Zusammenhang mit Informationstechnik ab. Manches davon vollzieht sich weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hinter dem sichtbaren Äußeren wohl bekannter technischer Dinge- wie etwa Kameras, Telefone oder Autos. Anderes hat Veränderungen an den Arbeitsplätzen zur Folge, insbesondere an jenen der Ingenieure und Facharbeiter. Hier zeigen sich übrigens in der Nahperspektive derer, die mit den neuen technischen Mitteln direkt umgehen, weitaus weniger Probleme als in der Fernperspektive mancher Debattiere

Was die tatsächlichen Veränderungen in unserer Industriegesellschaft durch

Technikinnovation betrifft, finden sie ungleich bedächtiger statt, als Erfolgsmeldungen aus den Forschungslabors mitunter vermuten lassen. Denn trotz rascher Entwicklung auf einzelnen Teilgebieten vergehen stets einige Jahre, bis sie in ein Produkt Eingang gefunden haben, und dann nochmals, bis der Anwender darin einen Nutzen für sich zu erkennen vermag, also ein Markt entstanden ist. Das ist einesteils beruhigend, weil es Wirtschaft und Gesellschaft

vor allzu hektischer Turbulenz schützt. Andererseits macht solche Bedächtigkeit einem großen und innovativen Unternehmen wie Siemens das Leben manchmal recht schwer. Denn wir müssen nicht nur durch die Qualität unserer Produkte überzeugen, sondern auch durch das Einsichtigmachen in ihren vernünftigen Gebrauch und was dafür beim Anwender an zusätzlichen Maßnahmen erforderlich sind. So steht letztlich der Freiheit und Verantwortung des Herstellers korrespondierend gegenüber die Freiheit und Verantwortung des Techniknutzers, der gleichfalls Nutzen, Kosten und Nebeneffekte abwägen muß. Das gilt für die Arbeitswelt ebenso wie für die private Welt jedes einzelnen Bürgers.

Eine Gesellschaft, die auf Technik und Industrie als Basis ihrer wirtschaftlichen Existenz setzt - und dies mangels anderer Ressourcen auch gar nicht anders kann -, braucht als demokratisches Gemeinwesen einen breiten Konsens, wenn es um Rückwirkungen ihres Handelns auf die eigenen Verhältnisse geht. Wohlstand und wirtschaftliche Stabilität in unserem Land beruhen entscheidend darauf, daß wir rund jede dritte Mark des Bruttosozialprodukts im Export erwirtschaften. Rückwirkungen aus der Wettbewerbssituation auf dem Weltmarkt haben damit zwangsläufig einen erheblichen Einfluß auf das industrielle Innovationstempo im eigenen Land. Die öffentliche Diskussion um Sozialverträglichkeit von Technik und unternehmerischem Handeln, muß, ob es gefällt oder nicht, wesentlich auch unter dieser Randbedingung gesehen werden.

"Sozialverträglichkeit" ist indes ein politischer Terminus, kein präziser Fachbegriff. Er enthält Gewichtungen, Interessen, Sichtweisen - und all dies mit sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Bezügen. Sie reichen vom Ganzen der Nation bis zum einzelnen Bürger. Sozialverträglichkeit ist damit keine Produktqualität, die sich durch ein institutionalisierbares Gütesiegel ausweisen ließe - wie dies etwa im Fall der Sicherheit technischer Einrichtungen möglich ist und dort auch seit langem erfolgt.

Mit einem so weitgefaßten, politischen Begriff können aber weder der Ingenieur noch der Unternehmer allzuviel anfangen. Denn nüchtern betrachtet ist jede industrielle Innovation irgendwo oder für irgend jemanden mit dem Bestehenden nicht schmerzlos zu verbinden - sonst wäre sie eben keine Innovation. Wollten wir das nicht akzeptieren, dann wäre es allerdings in unserem Land unmöglich, ein neues Telefonnetz, ein neues Werk oder auch nur eine neue Mülldeponie zu bauen. Auf der anderen Seite ist es häufig gar nicht die Technik selbst, an der sich die Kontroverse entzündet, sondern erst die negative Folge einer bestimmten Art ihrer Nutzung. Was aber gibt dann die Forderung nach Sozialverträglichkeit noch als präventive Handlungsanleitung für den entwickelten Ingenieur her?

Einen Aspekt aus dieser Diskussion halte ich jedoch für nützlich, auch wenn er nicht so prinzipiell neu ist, wie er sich gern gibt. Gerade einige unserer neuen Techniken haben es an sich, keine ausgeprägte Lokalität mehr zu besitzen; man kann sie weder strikt lokal betreiben, noch sich vor ihnen in unberührte Nischen zurückziehen.

Ihre Wirkungen sind in mehr als nur einer Hinsicht weit ausladend. Informationstechnik zum Beispiel ist nicht nur eine industrielle Querschnittechnologie, sie ist zwangsläufig.

auch grenzüberschreitend. Letzteres gilt gleichermaßen für fehlende Emissionstechnik bei industriellen Verbrennungsprozessen; daher ist Umweltschutztechnik erst großräumig sinnvoll und wirksam. Kernkraftwerke können in den zwar seltenen, aber nicht prinzipiell ausschließbaren Störfällen ebenfalls weiträumige, Auswirkungen haben. Aber auch so alltägliche Dinge wie Radio und Fernsehen oder der durch Technik ermöglichte Jumbo-Massentourismus haben zum Teil unerwünschte Fernwirkungen. Weil das so ist, müssen wir in zunehmendem Maße unsere technischen Mittel nicht nur auf ihr sicheres Funktionieren hin überprüfen. Wir müssen sie weiter vorausschauend durchdenken im Hinblick auf mögliche Folgen in einem breiteren Wirkungskontext.

Auszug aus einer Rede auf dem Deutschen Ingenieurtag in München unter dem Motto "Forschung und Technik-Freiheit und Verantwortung am 26. und 27. Mai 1987.