Glasnost und Perestroika sind in Unternehmen unumgänglich

Jürgen Fuchs, EDV-Studio Ploenzke, Wiesbaden

02.02.1990

Damit sich Unternehmen trotz oder gerade wegen des Wandels von einer Produktkultur in eine Dienstleistungskultur am Markt behaupten können, bedarf es nicht nur dramatischer Umgestaltungen der erstarrten Organisationen. Entscheidend ist die Änderung des Selbstverständnisses der Führungskräfte und eine Qualifikationsoffensive für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen.

Denn Dienstleistungen müssen auf die individuellen Bedürfnisse des Kunden

zugeschnitten sein, wenn sie dem Kunden viel wert sein sollen. Je komplexer das Problem und je dynamischer das Kunden- beziehungsweise Beratungsumfeld desto individueller und aufwendiger ist die Leistung und desto höher ist auch die Wertschöpfung. Unikate sind wertvoll. Sie entstehen im Dialog zwischen einem Mitarbeiter und einem Kunden. Damit steigen aber auch die Anforderungen an die dienstleistenden Mitarbeiter, an deren fachliche und persönliche Qualifikationen, an deren Leistungsbereitschaft, Umsicht und Verantwortungsbewußtsein. Denn sie nehmen mit ihrem Tun viel Verantwortung für den Kunden und für ihr Unternehmen.

Die Mitarbeiter müssen sich zu Unternehmern im Unternehmen entwickeln - aber auch entwickeln können. Der Kunde erwartet einen Partner mit der nötigen fachlichen und unternehmerischen Kompetenz, der nicht in Produkten denkt, die er verkaufen soll, sondern der alle Ressourcen seines Unternehmens auf die spezifische Kundensituation sozusagen mit einem Brennglas fokussiert. Das Unternehmen, aber insbesondere die Führungskräfte, sind dann Support-Funktionen für den Mitarbeiter, dem auch alle für seine Dienstleistung relevanten Informationen zur Verfügung gestellt werden können.

In der Dienstleistungskultur wird die übliche Hierarchiepyramide gleichsam auf den Kopf gestellt. Ganz oben stehen die Kunden, die Service von den Mitarbeitern "an der Basis" erhalten. Diese haben Anspruch auf Unterstützung und Dienstleistung von ihren Führungskräften. So wie die Mitarbeiter für ihre Kunden dasein wollen und sollen, müssen auch die Führungskräfte für ihre Mitarbeiter dasein. Sie schaffen ein Umfeld, in dem sich die Mitarbeiter entfalten, in dem sie Verantwortung übernehmen können. In dem die Menschen schnell, unbürokratisch und selbständig auf die Anforderungen der Kunden reagieren, in dem sie innovativ und unternehmerisch agieren können.

Ein solches Unternehmensklima kann nicht wie in der Produktkultur von Mißtrauen und Kontrolle bestimmt sein und von der Vorstellung , daß die Menschen leistungsunwillig, faul, verantwortungslos und unmündig sind. Lenin beschreibt diese Kultur mit einem Leitsatz, der aufzeigt, wie man Menschen unmündig macht: "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser."

Der Kunde erwartet mündige Mitarbeiter, die ihm und seinem Unternehmen Dienste leisten. Deswegen werden heute gefordert und müssen gefördert werden: der Wille zur Leistung, der Spaß an der Leistung, die Bereitschaft, etwas zu bewegen, und der Mut, Fehler zu machen, um daraus zu lernen. Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft, Möglichkeiten zur Selbstkontrolle und Selbstkorrektur, freizügiger Austausch von Informationen und Erfahrungen sind Voraussetzungen für Personal- und Unternehmensentwicklung in einem Dienstleistungsklima.

Damit ein solches Klima wachsen kann, müssen also die üblichen Vorstellungen des Führens und Folgens über Bord geworfen werden. "Führen heißt Dienen und Vorbild für andere sein!" postuliert BMW in ihren Führungsgrundsätzen. Die Konzentration der Entscheidungen an die "Frontlinien" der Unternehmen, das heißt in die Produktion, die Niederlassungen und in den Einkauf, erhöhen die Aktions- und Reaktionsfähigkeit des gesamten Unternehmens.

Durch das Schaffen kleiner organisatorischer Einheiten und den Abbau überdimensionaler Verwaltungsapparate wird das Unternehmen flexibler: small ist beautiful. In einer kleinen Organisationseinheit kennt jeder jeden, redet jeder mit jedem, fallen Abteilungs- und Hierarchieschranken, Selbstmanagement wird erleichtert.

Durch die verstärkte Kommunikation untereinander werden Kräfte für den Dienst am Kunden und zur Innovation freigesetzt, unternehmerisches Handeln wird gefördert. Das heißt, auch Fehler werden toleriert, damit alle aus ihnen lernen können. Experimentieren wird gefordert und gefördert. Der offene Austausch über Erfahrungen erweitert das Wissen und die Qualifikation des gesamten Teams. Das Unternehmen agiert am Markt nicht wie ein Schlachtschiff, sondern wie eine Flotte mit vielen wendigen Kreuzern, die sich allerdings im Verbund Schutz und Verstärkung geben. So kann man am besten mit der Dynamik und den Turbulenzen des Marktes fertig werden. Vorausgesetzt, der Verbund kommuniziert gut miteinander, damit alle aus Erfolgen und Fehlern einzelner Einheiten lernen können.

Die Unternehmensleitung hat jetzt die Aufgabe, das gemeinsame Ziel als "Leitstern", als Unternehmensvision leuchten zu lassen und so Orientierung zu geben. Sie steht ja nicht mehr auf der Brücke eines Schlachtschiffes und betätigt selbst das Ruder, wie sie es in der Produktkultur gewohnt war. Sie ist jetzt verantwortlich für die Gemeinsamkeiten wie Corporate Identity, Führungsgrundsätze, Verhaltensgrundsätze, Qualitätsbewußtsein, kurz gesagt, für das Unternehmensklima, aber auch für die technische Kommunikations-infrastruktur. Sie ist somit der oberste Diener in einem Dienstleistungsunternehmen.

Die Wandlung von einer Produkt- in eine Dienstleistungskultur ist vergleichbar mit

dem Wandel einer zentralistisch gesteuerten Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft.

Ohne gravierendes Umdenken und neues Handeln aller Beteiligten, insbesondere der Unternehmensleitung und der Führungskräfte, ist dieser Prozeß zum Scheitern verurteilt. Denn die Änderungen sind einschneidend: die Auflösung von hierarchischen Strukturen, die Einführung von Netzstrukturen, die Umkehrung der Führungs- in eine Dienstleistungs-pyramide, die Neuorientierung der Führungsrolle von Vorgesetzten zu Dienstleistern und besonders die Wandlung der internen und externen Kommunikationsphilosophie. Nicht die gezielte Steuerung der Informationsflüsse zur Machtausübung, sondern ein offenes Kommunikationsklima mit schnellem und unbürokratischem Informationsaustausch ist gefordert. Glasnost und Perestroika sind in Unternehmen unumgänglich, wenn sie im Wettbewerb bestehen und wenn sie den Mitarbeitern einen angemessenen Lebens- und Arbeitsraum bieten wollen.

Unternehmen der Dienstleistungskultur lassen sich bildhaft vergleichen mit einer Autobahn, deren Richtung durch Visionen und gemeinsame Ziele bestimmt ist. Auf dieser breiten "Autobahn" fahren die Menschen in eigener Verantwortung. Die Leitplanken rechts und links sind die beiden Netzwerke, das menschliche Netz der informellen Kommunikation - das Unternehmensklima - und das technische Netz als gemeinsame Daten- und Informationsbasis. Die Führungskräfte sorgen für die Infrastruktur: Sie betreiben sozusagen die Tankstellen und Raststätten, sie geben den Fahrern mit Schildern Orientierungshilfen, sind gelegentlich die "gelben Engel" und greifen auch ein, wenn gegen den Paragraphen 1 der Verkehrsordnung verstoßen wird, wenn zum Beispiel Eigeninteressen zu stark vor Gruppeninteressen gestellt werden.

Organisationen, denen die Verwirklichung dieses Bildes gelingt, werden die Zukunft besser meistern können als solche mit traditionellen Führungskonzeptionen, bei denen der Chef die "Lokomotive" des Abteilungszuges ist, der auf fest vorgegebenen Gleisen (Geschäftsverteilungsplan und Organigramm) und nach definiertem Fahrplan fährt. Denn: Innovationsfreudige Menschen werden zu innovativen Firmen gehen, die sich am Markt besser behaupten werden als starre Unternehmen mit bürokratischen Mitarbeitern.

Dieser Kommentar ist Teil eines Vortrags, den Jürgen Fuchs auf einem CSE- Kongress in München gehalten hat.

Der Tagungsband mit dem Titel "Informationsmanagement" ist von der IDG

Communications Verlag AG, Rheinstraße 28, 8000 München 40, herausgegeben

worden und dort zum Preis von 120 Mark erhältlich (Telefax: 0 89/3 60 86-2-74).