Jedem Unternehmen die eigene Weiterbildungs-Philosophie

21.03.1986

Otto Wolff von Amerongen

Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT), Bonn

Neue Technologien sind auch für unsere Wirtschaft Herausforderung und Chance zugleich.

Ihr Einsatz verlangt allerdings auch eine entsprechende Qualifikationsstruktur der Arbeitnehmerschaft. Jeder achte Ausbildungsberuf ist heute bereits von der Mikroelektronik berührt. Bereits für 1990 erwartet eine vom Deutschen Bundestag eingesetzte Kommission, daß rund 70 Prozent der Beschäftigten über Kenntnisse auf dem Gebiet der Informationsverarbeitung verfügen müssen. Diese Aussage macht deutlich, wie groß der Kanon an Weiterbildungsmaßnahmen der Wirtschaft sein muß.

Investitionen bleiben in der Planungsphase stecken oder aber können längere Zeit brachliegen, wenn sich die Mitarbeiter aller Ebenen nicht frühzeitig auf die neuen Anforderungen einstellen können, wenn ihre Qualifizierung zu kurz kommt. In die Kette zwischen Forschung und Anwendung im Betrieb reihen sich Informationsbrücken, Beratungen und Bildungsphasen, die sich gegenseitig beeinflussen. Hierbei sehe ich nicht die Mitarbeiter etwa nur als Objekt unternehmerischen Handelns. Ich plädiere dafür, auch die Eigenverantwortung jedes Einzelnen frühzeitig zu wecken. Sie ist, wie wir aus den vergangenen Jahren längst wissen, latent vorhanden.

Das Interesse der Arbeitnehmer gerade an neuen Entwicklungen schlägt sich in überdurchschnittlich hohen Wachstumsraten in der Weiterbildung nieder; bei den Industrie- und Handelskammern nahmen im letzten Jahr über 40 Prozent mehr Facharbeiter an modernen Techniklehrgängen teil. Ein bemerkenswerter Zuwachs! Und ein eindeutiger Beweis auch dafür, daß genügend Motivation vorhanden ist.

Dennoch: Gerade in dem vor uns liegenden Strukturwandel braucht jedes Unternehmen eine eigene Weiterbildungsphilosophie. Weiterbildung muß Bestandteil der Personal- und Firmenpolitik werden. Die Unternehmensführung muß sich dieser Aufgabe nicht nur annehmen, sondern sich mit ihr identifizieren. Personal kann man nicht mehr bloß verwalten, wie es in strukturell ruhigen Zeiten vielleicht möglich war.

Die berufliche Weiterbildung wartet mit beachtlichen Zahlen auf: Über vier Millionen Berufstätige beteiligen sich jährlich; rund die Hälfte in betrieblichen Veranstaltungen, ein Anteil, der sicher noch weiter steigen wird. Die Unternehmen haben 1985 rund zehn Milliarden Mark aufgewendet. Diese beachtliche Expansion wurde Jahr für Jahr von neuen Ausbildungsrekorden begleitet - und das in wirtschaftlich schwierigen Zeiten.

Während - rein mengenmäßig gesehen - der Gipfel dieser Phase demnächst erreicht in einigen Regionen schon überschritten ist, wird das nächste Jahrzehnt von der beruflichen Weiterbildung geprägt:

Als strukturveränderndes Qualifizierungsinstrument; als Re-Integrationshelfer für Arbeitslose und als Stabilisator des dualen Ausbildungssystems im Wettbewerb der Bildungssysteme des Staates und der Wirtschaft um die geburtenschwachen Jahrgänge; aber auch als Reparatur-Service für fehlgeleitete Absolventen des staatlichen Bildungssytems.

Und das ist nicht bloß eine "Nachbesserung", sondern vielmehr schon eine "Umverbesserung", weil ganz neue Lerninhalte vermittelt werden müssen.

Von der beruflichen Weiterbildung der nächsten Jahre wird Breitenwirkung verlangt. Die Zeiten, in denen Weiterbildung in erster Linie außerhalb der Betriebe in Kurhausatmosphäre mit landschaftlich reizvollem Ambiente stattfand, sind vorbei. Natürlich behalten ausgelagerte Einrichtungen ihre Bedeutung. Die eigentliche Expansion wird in den Unternehmen erfolgen. Ich verspreche mir langfristig von den neuen Medien sogar den Weg zurück direkt zum Arbeitsplatz.

Insgesamt scheint mir die fachliche Weiterbildung heute Vorrang zu haben; darin schließe ich allerdings auch die übergeordneten Fähigkeiten zur Problemlösung, das Erkennen von Zusammenhängen, mit ein. Allerdings müssen wir auch unsere Fach- und Führungskräfte in die Lage versetzen, gesellschaftspolitische Zusammenhänge nicht nur zu erkennen, sondern auch in Gesprächen und Diskussionen darzulegen. Die Diskussion um Chancen und Risiken moderner Techniken sollte nicht einer engagierten und beredten Minderheit überlassen bleiben. Hier ist Breitenwirkung unerläßlich.

Die Anerkennung der Weiterbildung in den vorgelagerten Unternehmensbereichen wird steigen, wenn in Zukunft noch mehr Fach- und Führungskräfte auch aus Forschung und Entwicklung selbst als Dozenten tätig werden - für mich eine besondere des Personaltransfers. Daher meine Forderung: Jede Führungskraft sollte mindestens einige Jahre lang in der betrieblichen Weiterbildung eingesetzt werden. Sie sollte sich auch an der Arbeit überbetrieblicher Weiterbildungsträger beteiligen.

Zukünftig sollten Unternehmen und Bildungseinrichtungen auf Experten aus Fachhochschulen und Hochschulen zurückgreifen. Es geht auch darum, den Kontakt zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu vertiefen. Nicht nur Fachhochschulen, auch die Hochschulen sollten Angebote in der wissenschaftlichen Weiterbildung entwickeln. So kann das gegenseitige Verständnis gefördert werden. Diese Überlegungen sollten dann auch mit der Diskussion über kürzere Studienzeiten verknüpft werden. Weiterbildung sollte also - und jetzt spreche ich vor allem die Bildungsexperten an - in Unternehmen nicht isoliert operieren. Sie muß deswegen nicht an Image verlieren. Ihr Gegenteil: Ihr Stellenwert wird auf allen Ebenen zunehmen - nicht nur in den Unternehmen, auch in ihrer Bedeutung für die einzelnen Regionen oder Bund/Länder