Schon wieder ein Unix-Konkurrent aufgetaucht:

Japaner wollen Tron zum Weltstandard küren

27.05.1988

MÜNCHEN (CW) - Kaum hat sich Unix als portables Betriebssystem etabliert, bekommt es massive Konkurrenz: Nach "Mach" (siehe CW Nr. 13 vom 25. März 1988, Seite 7: "Mach wirbelt die Unix-Welt durcheinander") ist jetzt "Tron" im Gespräch. Dahinter stehe nahezu die gesamte japanische DV-Industrie, berichtete jetzt die Diebold Deutschland GmbH mit Sitz in Frankfurt.

Die vollständige Bezeichnung des neuen Betriebssystems lautet: "The Real-Time Operating System Nucleus". Bereits im Sommer dieses Jahres sollen die ersten "Tron"-Maschinen auf den japanischen Markt kommen; von Anfang an, so der Diebold-Report, wird auch eine englischsprachige Version verfügbar sein.

Vier verschiedene Versionen seien geplant: "Itron" für industrielle Applikationen, "BTron" für kommerzielle Anwendungen, "CTron" für große Computer und "Mtron" für größere Vernetzungen. Wie Ken Sakamura, Professor an der Universität von Tokio und Vater" des Betriebssystems, erläuterte, zielt diese Vierteilung darauf, möglichst viele Anwendungszwecke abzudecken, ohne größere Änderungen im System vorzunehmen.

Das Betriebssystem aus dem Reich der aufgehenden Sonne wird laut Diebold-Report für eine "bewußt sehr niedrig gehaltene" Nutzungsgebühr zur Vergügung gestellt, die auch für außerjapanische Interessenten gelte. Zweck dieser Praxis: "Tron" soll so schnell wie möglich weltweit eingeführt werden. Eine positive Reaktion erwarteten die Japaner vor allem von den ausländischen Softwarehäusern, die ein Interesse am dortigen Markt haben. Im übrigen bedeute es keinerlei Hindernis, wenn das betreffende Unternehmen bereits unter Unix entwickle.

Ebenfalls nahezu marktreif ist nach Diebold-Angaben eine entsprechende neue Programmiersprache: "Tron Application Control Flow" (TACL). Laut Professor Sakamura muß jedoch nicht jedes für einen "Tron"-Rechner bestimmte Programm in TACL geschrieben sein. Vielmehr sieht der Wissenschaftler die Sprache als eine Art Bindeglied zwischen den konventionellen Programmiersprachen und den "Tron"-Rechnern.

Sakamura und seine Mitarbeiter beabsichtigen, mit "Tron" und TACL einen weltweit verbreiteten Standard zu setzen. Ob dieses Ziel erreicht wird, hängt nach Ansicht der Experten bei Diebold davon ab, ob überhaupt oder wie schnell das System weltweit eingeführt werden kann. Die entscheidende Frage lautet: Welche Weltmarkt-Chancen können "Tron" eingeräumt werden?

Dazu der Diebold-Report: "Sicher ist, daß sich die Japaner mit Tron gegenüber der amerikanischen Konkurrenz schwer tun werden. Das gilt umso mehr, als sich Unix langsam aber sicher als neues System durchzusetzen beginnt." Außerdem sähen europäische Experten in dem japanischen Betriebssystem wenig wirklich Neues.

Allerdings betrachten es die Verfasser des Reports als erwiesen, daß die japanische Industrie kaum von "Tron" ablassen wird: Zum einen habe sie einen gewaltigen Binnenmarkt im Rücken, auf dem Unix nunmehr wenig Chancen blieben; zum anderen übe sie erheblichen Einfluß auf den expandierenden ostasiatischen Computermarkt aus. Möglich sei jedoch, daß "Tron" sich beispielsweise in Verbindung mit japanischen Prozeßrechnern relativ gut verkaufen lasse. Am schwersten würden sich die Japaner hingegen im konsumnahen Bereich tun.

Ein abtrünniges Mitglied der "Tron"-Phalanx läßt sich bereits ausmachen: Kürzlich trat die japanische ASCII Corp. dem Independend Software Vendor Advisory Council (ISV) der X/Open Ltd. bei (siehe CW Nr. 19 vom 6. Mai 1988, Seite 10:

"X/Open bemüht sich um japanische Kontakte"). Der Diebold-Report äußert jedoch die Vermutung, die ASCII Corp. sei möglicherweise nur ein Spion im X/Open-Lager.