Jahr-2000-Ängste der Deutschen: Kaviar könnte knapp werden

01.10.1999
Während die ARD das neue Millennium am Silvesterabend mit Volksmusik begrüßt, sitzen viele IT-Verantwortliche in ihrem Büro und hoffen auf den langweiligsten Jahreswechsel aller Zeiten. Zwar sei hierzulande nicht mit gravierenden Problemen zu rechnen, so der allgemeine Tenor, aber man könne ja schließlich nie wissen. Privat jedenfalls sorgt kaum jemand für den Millennium-Bug vor, und auch in der breiten Bevölkerung ist mit Panik nicht zu rechnen.

Selbsternannte Zukunftsforscher kritisieren gebetsmühlenhaft die angebliche Zukunftsangst der Deutschen. Derzeit sind es aber eher die US-Amerikaner, die eine teilweise groteske Furcht vor dem Jahr-2000-Problem zeigen. Auf Websites werben Geschäftemacher mit "garantiert Millennium-sicheren Wohnanlagen", die sich vollkommen autark versorgen können - in der Wüste von New Mexico. Sally Strackbein hingegen hat aus der drohenden Not eine Tugend gemacht und ein Kochbuch über die schmackhafte Zubereitung von Konserven für den Ernstfall herausgegeben.

Ihr Grundrezept erinnert ein wenig an Kantinennahrung: "Geben Sie alles in einen Topf und lassen Sie es köcheln, bis der Reis weich ist." Ist diese kulinarische Selbstgeißelung wirklich nötig, nur weil zwei Datumsstellen im Computer fehlen? Auf ihrer Website http://www.y2kkitchen.com gesteht Strackbein freimütig: "Ja, ich habe Angst."

Ähnliche Gefühle haben inzwischen auch Alan Greenspan, den Chef der amerikanischen Notenbank, beschlichen. Er warnte unlängst vor einer aufkommenden Panik in den USA: "Wenn die Unternehmen anfangen, Waren einzulagern, wird sich der Druck auf den Markt zum Jahresende in jedem Fall erhöhen." Im Grunde genommen würde die Wirtschaft dadurch in den Teufelskreis einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung hineinrutschen: Je mehr Firmen und Haushalte hamstern, desto geringer wird das Angebot an Waren. Die Folge ist, daß irgendwann alle hamstern.

"Privatleute sollten sich auf den Jahreswechsel wie auf ein normales verlängertes Wochenende vorbereiten", versuchte Greenspan die Sorgen zu zerstreuen. Seine Befürchtung ist, daß die Panikfolgen schlimmer werden als der Millennium-Bug an sich. Angeblich rechnen schon 30 Prozent der Amerikaner damit, daß Silvester irgendwo auf der Welt eine Atomrakete hochgeht. Wenn Menschen mehr Bargeld abheben als üblich, laufen sie darüber hinaus Gefahr, ausgeraubt zu werden. Sowohl die Wirtschaft als auch die Politik und die Medien forderte Greenspan auf, mit Fakten den Weltuntergangsgerüchten entgegenzuwirken.

Die deutsche Volksseele indes plagen andere essentielle Nöte: Wird der Kaviar knapp? Bringt Budweiser zu Silvester tatsächlich eine Magnum-Flasche Bier auf den Markt? Wo steigen die größten Parties? Die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) hat im Auftrag des Lebensmittelkonzerns Kraft Jacobs Suchard herausgefunden, daß fast zwei Drittel aller Bundesbürger dem Jahreswechsel gelassen entgegensehen. Gerade einmal zwölf Prozent der Interviewten hielten es für denkbar, daß sie am ersten Arbeitstag des neuen Jahres leere Regale in den Supermärkten vorfinden.

Muß Deutschland also raus auf die Felder und selbst Hand an das Gemüse legen? Oder kommt es gar, wie auf der Website der Bundesregierung zu lesen ist, "zu Störungen in der Daseinsvorsorge"? Ragnar Nilsson, Direktor bei der Karstadt AG und zuständig für die Konzern-IT, wird jedenfalls keine Konserven bunkern: "Wir haben alles getestet und sind fertig mit den Jahr-2000-Vorbereitungen." Dies betreffe die Warenwirtschaft, die Logistik mit den Lieferanten und schließlich auch die Embedded-Systems. Darüber hinaus gebe es einen Notfallplan für die Warenversorgung.

Für Nilsson persönlich ist der Jahreswechsel noch von einem anderen runden Jubiläum geprägt. Er feiert am 1. Januar 2000 seinen 50. Geburtstag. Eine Stunde nach Mitternacht will er mit der Familie ins Karstadt-Rechenzentrum fahren, wo rund 150 Mitarbeiter die IT-Systeme überwachen. Dann soll gepflegt auf den Geburtstag angestoßen werden, und Nilsson hofft schon auf ein besonderes Präsent: "Das beste Geschenk wäre, wenn alles reibungslos funktioniert."

Auch Andreas Schmidt, President und CEO von AOL Europe, kann dem Jahreswechsel einen gewissen Unterhaltungsfaktor abgewinnen: "Offen gestanden finde ich die Weltuntergangsphantasien einiger selbstberufener Propheten ganz spannend." In vielen Fällen seien sie jedoch überzogen. Für ihn, seine Familie und sein Unternehmen, so ist sich Schmidt sicher, wird der 1. Januar ein ganz normaler Neujahrstag.

Der gleichen Ansicht ist auch Luis Praxmarer, Geschäftsführer der Meta Group Deutschland: "Eventuelle Y2K-Störungen werden kaum große Komplikationen im privaten Bereich auslösen." Da der 1. Januar auf einen Samstag falle, müsse man sich sowieso mit zusätzlichen Nahrungsmitteln eindecken, "wegen der Ladenschlußgesetze hierzulande". Ihn selbst betrifft die deutsche Rechtslage im Einzelhandel nicht, denn Praxmarer weilt über die Feiertage auf seiner Ranch in Colorado.

Den umgekehrten Weg über den großen Teich wird Compaqs frischgebackener Chef Michael Capellas antreten. Eigenen Angaben zufolge steht er Silvester auf einem Golfplatz im spanischen Marbella und arbeitet an seinem Handicap. Das Wichtigste sei die richtige Körperhaltung, ließ er wissen. Und auch Douglas Massingill, CEO des Standardsoftware-Anbieters J.D. Edwards, zeigt sich gelassen: "Es wird keine gravierenden Probleme geben."

Sollte mal ein Geldautomat ausfallen, so Massingill, müsse man eben zum nächsten fahren. Die Infrastruktur der globalen Finanzdienstleister, da ist er sich sicher, werde in jedem Fall halten. Dazu Michael Speek, IT-Leiter der Hypo-Vereinsbank in München: "Natürlich bekommen Sie Bargeld an unseren Automaten - allerdings nur, wenn Ihr Konto auch gedeckt ist." Rund 300 Millionen Mark hat das Geldhaus investiert, um die gesamten Systeme fit für den Wechsel zu machen.

Allerdings ist Speek davon überzeugt, daß bei der Grundversorgung der Privathaushalte Probleme auftauchen können: "Kleinere Störungen wird es wahrscheinlich geben, da eine fehlerfreie Jahr-2000-Implementierung nahezu unmöglich ist." Die "Eichhörnchen-Philosophie", so Speek, sei zwar übertrieben, aber ein gewisses Maß an Vorsicht könne nicht schaden. Wer drei oder vier Notmaßnahmen beherzige, befinde sich auf der sicheren Seite. Dazu zählen beispielsweise warme Decken, zusätzliche Nahrungsmittel oder eine elektrische Heizung.

Es sei nur schade, meint Speek, daß die Jahrtausendfeier durch ein technisches Problem überschat- tet wird. Er verbringt die Nacht bei seinem Arbeitgeber wie rund 1000 andere Hypo-Vereinsbanker auch: "Ohne die Familie wird das wohl der traurigste Jahrewechsel, den ich jemals erleben werde." Vom 3. auf den 4. Januar ist dann noch eine zweite Nachtschicht fällig, wenn nämlich die angefallenen Transaktionen des neuen Jahres im weltweiten Bankensystem erstmals buchhalterisch verrechnet werden.

Grund zum Feiern hat auch Joachim Rummler nicht. Der Polizeioberrat und Jahr-2000-Beauftragte des Polizeipräsidiums München schiebt mit seinen Kollegen Nachtdienst in der Einsatzzentrale. Zwar rechne er nicht damit, daß es zur Katastrophe kommen werde, aber man könne ja nie ganz sicher sein: "Wir machen das schließlich nicht jedes Jahr." Vielleicht bleibe irgendwann im Laufe der Nacht noch die Zeit für ein kleines alkoholfreies Buffet, so Rummlers Hoffnung. "Beamtensilvester findet jedoch vom 1. auf den 2. Januar 2000 statt."

Ein paar Stufen höher in der Hierarchie befindet sich Staatssekretärin Brigitte Zypries, die Jahr-2000-Beauftragte des Bundesinnenministeriums.

Auch sie kommt um eine Sonderschicht nicht herum: Gemeinsam mit dem Staatssekretär Alfred Tacke vom Wirtschaftsministerium leitet Zypries über den Jahreswechsel den zentralen Lagestab der Bundesregierung - "die schrillste Silvesterparty der Republik", wie der "Spiegel" spottete. Dort laufen rund um die Uhr die Meldewege von Ländern und Institutionen zusammen.

Für den Sicherheitsexperten Klaus Brunnstein von der Universität Hamburg kommen solche Maßnahmen zu spät. Seiner Meinung nach hat sich die Bundesregierung bislang vor dem Jahr-2000-Problem einfach versteckt:

"Es geht hier schließlich um ein reales Problem und nicht darum, daß wir eine zentrale Kommandowirtschaft bekommen." Die Politiker sollten nur endlich Farbe bekennen und in angemessener Weise über das Jahr-2000-Problem informieren, so Brunnstein. Angeblich werde es ja in der nächsten Zeit eine Postwurfsendung der Regierung geben, die "hoffentlich umfangreicher als ein Handzettel ausfällt".

Brunnstein, der ein Notfallrechenzentrum für das Jahr 2000 beaufsichtigt, wird Silvester allerdings im Kreise der Familie verbringen: "Die Heizung ist in Ordnung, das Auto laut Hersteller auch, und wenn das Telefon ausfällt, werde ich das ertragen." Außerdem verfüge sein Haus über einen Kamin, und Kerzen gehörten schließlich "wegen der Gemütlichkeit" zum Standardvorrat. Öl werde nicht gebunkert, Konserven verschmäht, und die Badewanne bleibe leer.

Die wahren Probleme erwartet Brunnstein erst für Montag, den 3. Januar 2000. Wenn alle Unternehmen ihre Filialsysteme hochfahren, könne es einige böse Überraschungen geben: "Gerade DOS- und Windows-Anwender werden sich wundern, was dann alles nicht mehr funktioniert", ist Brunnstein überzeugt. Meta-Group-Chef Praxmarer liegt in dem Punkt mit Brunnstein auf einer Wellenlänge. Im Geschäftsumfeld mache sich das Jahr-2000-Problem seiner Meinung nach noch länger bemerkbar.

Trotz der optimistischen Grundeinstellung, in ein Flugzeug wollen sich über den Jahreswechsel weder Praxmarer, Speek noch Massingill setzen. "Der Grund ist nicht die Angst", meint Meta-Group-Geschäftsführer Praxmarer. Es könne jedoch wegen kleinerer Störungen und etwaiger Sicherheitsmaßnahmen zu Verzögerungen kommen. Doug Massingill hingegen "kennt das Wort ,AngstÈ nicht", so ein Assistent des Chefs von J.D. Edwards.

Ein neues Argument, um Flugverbindungen über den Jahreswechsel zu streichen, hat jetzt der US-Carrier American Airlines gefunden. Zwar sei man sich sicher, daß alle Systeme Jahr-2000-fähig seien, es gebe jedoch nur eine geringe Nachfrage: "Offenbar wollen nicht viele Menschen das neue Jahrtausend rund 10000 Meter über der Erde begrüßen", folgert American Airlines aus den bisher eingegangenen Reservierungen.

Jane Garvey, die Chefin der US-Flugaufsichtsbehörde Federal Aviation Administration (FAA), wird hingegen auf eigenen Wunsch das Neujahrfest über den Wolken verbringen - als Demonstration dafür, daß die amerikanischen Flugsicherungssysteme Jahr-2000-fest sind. In China definiert man "freiwillig" derweil etwas anders: Das komplette Ma- nagement der staatlichen Airline wurde Berichten zufolge dazu verdonnert, am Neujahrstag 2000 einen Flug zu absolvieren. Das steigere die Motivation der Verantwortlichen.

Der Y2K-Mythos

Rainer Janz würde Silvester auch in einem Lift verbringen: "Die sind sicher", weiß der Marketing-Leiter von Otis. Das Unternehmen mit Sitz in Berlin repariert auch Fahrstühle anderer deutscher Hersteller. Jahr-2000-Probleme seien bei deren Modellen ebenfalls nicht diagnostiziert worden. Wenn Fahrstühle allerdings an Gebäudeleitsysteme angeschlossen sind, was bei rund zwei Prozent der Fall ist, gilt die Sicherheitszusage der Hersteller nicht mehr. In "Stand-alone"-Aufzügen seien jedoch keine Probleme zu erwarten.

Eine andere Garantie

"Selbst wenn unsere Buchhaltungssoftware am 3. Januar 2000 nicht laufen sollte, können Sie sicher sein, daß wir Ihnen die vor dem Weltuntergang gekauften Produkte trotzdem berechnen - auch wenn wir die Rechnung auf die Rückseite eines Kaugummipapiers schreiben müssen. Dies ist das einzige, was wir Ihnen zum Jahr 2000 garantieren können, aber schließlich ist es besser als überhaupt keine Garantie."

Gefunden auf der inoffiziellen Jahr-2000-Seite des amerikanischen Meßtechnik-Herstellers Hart Scientific (http://www. hartscientific.com).