Neues Arbeitslosengeld II sorgt für schwieriges Projekt

IT-Zitterpartie der Bundesanstalt für Arbeit

24.10.2003
München - Der Bundesanstalt für Arbeit droht unverschuldet eine IT-Pleite von Tragweite des derzeitigen Maut-Fiaskos. Die Behörde muss, so sieht es Hartz IV vor, ab Juli 2004 die Sozialhilfe per Arbeitslosengeld II (ALG II) auszahlen. Bundesanstalt und Bieter laufen nun Gefahr, ein IT-Mammutprojekt ins Blaue zu planen, da der Gesetzentwurf im Vermittlungsausschuss wohl noch geändert wird.CW-Bericht, Peter Gruber

Die IT-Verantwortlichen der Bundesanstalt für Arbeit sind um ihren Job derzeit nicht zu beneiden. Die von Florian Gerster geleitete Behörde sitzt in der Zwickmühle, weil sie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit bis Mitte kommenden Jahres die Auszahlung des ALG II bundesweit informationstechnisch auf den Weg bringen muss. Diese Mission ist keineswegs banal. Sie setzt nämlich voraus, dass die Nürnberger Institution die Überweisung des ALG II, in dem künftig Arbeitlosen- und Sozialhilfe verschmelzen, ohne Verzug auf ihren IT-Systemen abbilden und in Abstimmung mit den Sozialämtern abwickeln muss. Bislang sind allein die Sozialämter der Kommunen für die Zahlung der Sozialhilfe an die Empfänger verantwortlich. Von der Änderung erhofft sich die Bundesregierung eine deutliche Reduzierung des Verwaltungsaufwands.

Web-Anwendung ausgeschrieben

So weit die Theorie. Die Praxis sieht gegenwärtig jedoch so aus, dass Hartz IV zwar vergangene Woche im Bundestag mit rot-grüner Mehrheit die erste Hürde nahm, im Bundesrat aber an der Mehrheit unionsregierter Bundesländer scheitern dürfte. Dann muss der Gesetzentwurf zur Beratung in den Vermittlungsausschuss. Dort ist mit wesentlichen inhaltlichen Korrekturen zu rechnen, weil die Union eine Zuständigkeit der Kommunen für alle Langzeitarbeitslosen fordert und sogar Gerster dem momentanen Gesetzentwurf skeptisch gegenübersteht: "Für sozialpolitische Aufgaben sind wir die schlechteren Dienstleister", sagte er kürzlich bei einer öffentlichen Anhörung. Gerster schlägt als Kompromiss vor, dass seine Arbeitsämter nur Erwerbslose betreuen, die in den vergangenen vier Jahren mindestens sechs Monate gearbeitet haben. Je nachdem, wie stark im Vermittlungsausschuss an Hartz IV herumgedoktert wird, hätte das für die Bundesanstalt zur Konsequenz, dass sich die ursprünglich in der IT-Ausschreibung zugrunde gelegten Parameter für die Geschäftsprozesse verändern. Das könnte problematisch sein, weil die Behörde aufgrund des hohen Zeitdrucks unmittelbar nach dem Kabinettsbeschluss am 13. August ein "Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb" in die Wege geleitet hatte. Die Frist für die Angebotsabgabe lief am 23. Oktober ab.

Elementarer Bestandteil der Ausschreibung ist "die Realisierung und Implementierung einer Web-basierenden Anwendung zur Berechnung und Zahlbarmachung des ALG II". Der Auftrag umfasst als weitere wesentliche Elemente die laufende Pflege und Weiterentwicklung der Applikation sowie die Integration ihrer Funktionalität in die bereits bestehende Softwarelösung zur Ermittlung und Auszahlung des originären Arbeitslosengeldes. Ferner zählen die Schulung der Endanwender, der Betrieb eines User-Helpdesks sowie das Hosting der Anwendung zum ausgeschriebenen Anforderungspaket.

Mit oder ohne IT-Hilfe bezahlen

Laut Konrad Kirschner, Bereichsleiter Informationstechnik der Bundesanstalt für Arbeit, hat die Behörde sich bei dem Projekt für eine Web-orientierte Anwendung entschieden, "weil alle Sozialämter in dem Karussell mitspielen müssen". Man könne vom Aufwand her für die Sozialämter keine umfangreichen Client-Anwendungen schreiben und dort installieren, erläutert Kirschner und ergänzt: "Die Bundesanstalt für Arbeit wird die modernen Module ihres bestehenden Systems nutzen, um das Projekt zügig zu realisieren." Nach Schätzung des IT-Experten ist rund ein Fünftel des existierenden Systems für die neue Anwendung verwendbar.

Die Projektverantwortlichen der Behörde werden nun, wie Wolfgang Nörenberg, Justiziar im Zentralamt der Bundesanstalt für Arbeit, gegenüber der COMPUTERWOCHE mitteilte, die Angebote prüfen und mit den Bietern verhandeln. Geplant ist eine Entscheidung bis Mitte November. Laut Ausschreibung soll das technische Feinkonzept bis Dezember stehen, die Realisierung der Anwendung im ersten Release-Stand dann bis April erfolgen. Test und Abnahme sind bis Mai geplant. Der Rollout soll in den Sozialämtern Ende Mai über die Bühne gehen und in den Arbeitsämtern Mitte Juni 2004 abgeschlossen sein.

Ob dieser ehrgeizige Zeitplan einzuhalten ist, bleibt fraglich. Darüber sind sich auch die Strategen in Nürnberg im Klaren: "Für die Bundesanstalt ist das eine schwierige Situation. Hätten wir mit der Ausschreibung bis zur Verabschiedung des Gesetzes gewartet, wäre das Projekt nicht bis Juli 2004 zu schaffen", schildert Nörenberg das Dilemma. Der Gesetzentwurf im derzeitigen Status schreibt der Behörde aber zwingend vor, das ALG II ab 1. Juli 2004 auszubezahlen. "Dann müssen wir zahlen, entweder mit oder ohne Unterstützung der IT", bringt der Rechtsexperte den Handlungsbedarf seines Hauses auf den Punkt.

Weil der Bundesanstalt die Schwierigkeit bewusst ist, das zeitlich ohnehin äußerst knapp bemessene IT-Vorhaben termingerecht umzusetzen, will sie versuchen, das finanzielle Risiko durch entsprechende Vertragsklauseln auf die Auftragsnehmer abzuwälzen. Angesichts der aktuellen Pannen und drohender Regressforderungen, mit denen sich das Konsortium Toll Collect derzeit bei der Einführung der Autobahnmaut konfrontiert sieht, werden aber auch die Bieter für das ALG-II-Projekt Vorsicht walten lassen. Ein Kenner der Ausschreibung, der anonym bleiben möchte, rechnet mit Verhandlungen bis Jahresende. Unter den Bewerbern soll, so der Insider, auch T-Systems sein, das mit Toll Collect derzeit sein blaues Maut-Wunder erlebt.

Apropos Bewerber: Die Bundesanstalt für Arbeit wollte bis Redaktionsschluss keine Angaben über mögliche Bieter machen. Es gilt aber als sicher, dass sich neben T-Systems auch die anderen Schwergewichte wie IBM Global Services, EDS, Siemens Business Services, CSC Ploenzke, Accenture und Cap Gemini Ernst & Young unter den Konsortialkandidaten befinden. Dem gut informierten Anonymus zufolge dürfte Accenture zu den Auserwählten gehören. Für den Systemintegrator spricht, dass er für die Behörde derzeit eine Machbarkeitsstudie für das "Virtuelle Arbeitsamt" erstellt und deshalb mit den Prozessen der Bundesanstalt bestens vertraut ist.

Nach Meinung des Insiders ist es gut denkbar, dass sich die Nürnberger Organisation aus den unterschiedlichen Konsortialangeboten ein individuelles Paket schnürt und Teilprojekte vergibt. Die Bundesanstalt hat laut Nörenberg in ihrer Leistungsbeschreibung nur Rahmenvorgaben gemacht, um den Bietern "Spielraum für eigene Ideen zu lassen". Zum zulässigen Gesamtvolumen will sich sich die Gerster-Behörde nicht äußern, da sie den Aspiranten keine Hinweise geben möchte. Ziel sei es, so Nörenberg, den veranschlagten Etat nicht voll auszuschöpfen.

Sozialämtern fehlen Browser

Aufgrund des sehr engen Zeitfensters bis Juli 2004 erscheint eine fristgerechte flächendeckende Abwicklung unwahrscheinlich. Das glaubt auch der mit dem Projekt vertraute Experte. Seiner Meinung nach wird das Zentralamt in Nürnberg das Vorhaben zunächst mit einigen Pilotbehörden in Angriff nehmen und Übergangszeiten hinsichtlich der kompletten Verwirklichung festlegen.

Erschwerend wirkt sich auf das gesamte ALG-II-Projekt außerdem aus, dass die Bundesanstalt bei der IT-Planung nicht nur ihre Außenstellen, sondern auch die Sozialämter berücksichtigen muss. Bislang erfolgt die "Übergabe" eines Langzeitarbeitslosen vom Arbeits- an das zuständige Sozialamt noch per Briefverkehr. Von einer elektronischen Schnittstelle erhofft sich die Politik jedoch einen Spareffekt. Doch dazu müssen die Kommunen ihre Sozialämter noch entsprechend ausstatten, weil nicht alle über Rechner mit Web-Browsern für die ALG-II-Anwendung verfügen.