IT-Unternehmen trotzen dem Burnout

17.11.2006
Von 
Winfried Gertz ist Journalist in München. Er arbeitet in einem Netzwerk von zahlreichen Anbietern kreativer Dienstleistungen. Das Spektrum reicht von redaktioneller Hörfunk- und Fernsehproduktion über professionelle Fotografie bis zu Werbetexten für Industrieunternehmen und Non-Profit-Organisationen.
Viele Mitarbeiter in der IT gehen bis an ihre Belastungsgrenze. Das Engagement hat seine Schattenseiten, wissen vernünftige Führungskräfte. Deshalb haben sie sich dem Gesundheits-Management verschrieben.

Gesundheit ist kein Schicksal, jeder kann etwas dafür tun. Viele Unternehmen investieren in den Betriebssport, damit sich Mitarbeiter fit halten können. Sie wissen, dass die individuelle Produktivität untrennbar mit dem gesundheitlichen Wohlergehen verknüpft ist. Viele Firmen haben ihre Betriebssportkonzepte entstaubt und durch ein modernes Gesundheits-Management ersetzt. Die neue Formel heißt "Corporate Activity". Im Unterschied zum klassischen Betriebssport, der sich als Sozialleistung für die Mitarbeiter definiert und auf Freizeitaktivitäten beschränkt ist, folgt das neue Konzept dem Wandel in der Arbeitswelt. Ulrich Winterfeld vom Dresdener Institut der Berufsgenossenschaften Arbeit und Gesundheit (BGAG): "Corporate Activity fördert ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit, verbessert die Gesundheit und trägt somit zum Erhalt der Leistungsfähigkeit und Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter bei."

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Warum Gesundheits-Management

Ein professionelles betriebliches Gesundheits-Management ist eine nachhaltige Investition. Es trägt dazu bei:

• Das Vertrauen der Beschäftigten zu erhöhen und die Bindung an Aufgaben und Unternehmensziele zu stärken;

• Störungen in Abläufen und Arbeitsprozessen abzubauen;

• Informationsfluss, Kooperation und Teamarbeit zu verbessern;

• Wissensaustausch zu erleichtern;

• Kontroll- und Koordinationskosten zu senken;

• Stress, Fehlzeiten und Fluktuation zu reduzieren;

• die Arbeitseffizienz zu steigern;

• die Qualität der Produkte und Dienstleistungen zu verbessern sowie

• die Produktivität zu erhöhen.

Quelle: Universität Bielefeld

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Umgang mit Druck

Noch deutlicher wird Ludwig Bieser, leitender Betriebsarzt von IBM: "Die zentrale Frage lautet: Wie reagiere ich auf Druck?" Für Bieser können zwei Drittel der Belegschaft gut mit Belastung umgehen. Der Rest müsse lernen, "dem Druck durch rechtzeitige Erholungsphasen standzuhalten". Auch Natalie Lotzmann, Leiterin des Gesundheitswesens der SAP AG in Walldorf, macht keinen Hehl aus der besonderen Belastung in der IT-Arbeitswelt. Studien, nach denen sich bis zu 80 Prozent der IT-Beschäftigten falsch ernähren und zu wenig bewegen, will Lotzmann nicht bestreiten, auch wenn SAP wegen der jungen Belegschaft (Altersdurchschnitt: 37 Jahre) weniger davon betroffen sei als andere Firmen: "Die Hauptprobleme liegen aber im Bereich psychomentaler Belastungen. Wenn ich einen Vortrag halte, beginne ich stets mit Folien, die illustrieren, wie sich die Globalisierung direkt auf die Menschen besonders in der IT Branche auswirkt." Laut Lotzmann ist SAP rund um die Uhr für seine Kunden aktiv. Unter dem Einfluss eines sich rasant beschleunigenden Kommunikationstempos in zunehmend virtualisierten Arbeitsgruppen entstehen so ständig neue Anforderungen an die Mitarbeiter.

Arbeitsverdichtung nennen das die Wissenschaftler. "Im Prinzip geht es darum", erklärt Erich Latniak vom Gelsenkirchener Institut für Arbeit und Technik (IAT), "in einer festgelegten Zeiteinheit mehr zu leisten und mehr zu produzieren". Weil sich berufliche Tätigkeitsfelder überlappten und laufend neue Anforderungsprofile entständen, gerieten vor allem höher qualifizierte Mitarbeiter unter Druck. Latniak: "Informatiker müssen ihre Leistungen verkaufen, Betriebswirte sich in der Technik gut auskennen und Naturwissenschaftler im Controlling fit sein."

Durch die Globalisierung entschließen sich Unternehmen dazu, ihre Arbeitsorganisation zu flexibilisieren, in Teams und Profit-Center zu gliedern und ihren Mitarbeitern höhere Verantwortung und Eigeninitiative abzuverlangen. "Immer mehr Unternehmen", beobachtet Anja Gerlmaier vom IAT "setzen verstärkt auf die Selbststeuerungskompetenz der Beschäftigten." An die Stelle vorgegebener Abläufe treten Zielvereinbarungen: Wie sie die Arbeit schaffen, ist den Mitarbeitern selbst überlassen. Damit korrespondieren die neuen Gesundheitsprogramme, deren Botschaft an die Mitarbeiter Swen Grauer, Leiter "Corporate Activity Program" beim Mobilfunkunternehmen O2 in München, so erläutert: "Übernimmst du Verantwortung für Dich, profitiert auch dein Team und die Firma."

Wichtige Prävention

Prävention ist wichtig, haben Unternehmen erst erkannt, dass sie allein mit gesunden und produktiven Mitarbeitern langfristige Ziele verfolgen können. Heute fordern Konzerne ihre Mitarbeiter auf, möglichst oft ins hauseigene Fitnessstudio zu gehen, selbst wenn sie dafür einen Obulus entrichten müssen wie bei O2 in München. Mitarbeiter von SAP am Hauptsitz in Walldorf können sich täglich zwischen 7 und 21 Uhr bei Aerobic und Spinning austoben oder mit Yoga und Meditation entspannen. Wer mag, kann sich massieren lassen oder eine Rückenschule besuchen. Interessante Ansätze findet man auch in anderen Branchen. Unter dem Motto "Jeden Tag 3000 Schritte extra" rüstete die Eon Energie AG alle Mitarbeiter mit einem "Schrittzähler" aus. Laut Stephanie Schütte, Referentin für Personalkommunikation am Münchner Hauptsitz, sei noch kein Programm von der Belegschaft so gut angenommen worden.

Fitness reicht nicht

Inzwischen bieten laut einer Studie der Hay Group fast zwei Drittel aller Firmen Mitarbeitersport an. So förderlich die Trimmangebote auch sind und so begeistert sie auch genutzt werden: Gesundheits-Management darf sich nicht mit der körperlichen Fitness von Mitarbeitern zufriedengeben. Zwar schlägt die Imagekorrektur des Betriebssports bis zur Bilanz durch, wie O2-Cheftrainer Grauer argumentiert: "Corporate Activity sorgt für Einsparungen, da immer weniger Mitarbeiter krankheitsbedingt ausfallen und die Motivation steigt." Doch die entscheidenden Parameter liegen woanders. Gesundheit ist laut Lotzmann nicht nur definiert durch einen gesunden Rücken oder die Abwesenheit von Grippe. "Auch Führungsverhalten, betriebliche Strukturen sowie die Kommunikation untereinander wirken sich entscheidend darauf aus."

Ein für strategisches Personal-Management und Organisationsentwicklung entscheidender Aspekt. "Gesundheits-Management", sagt IBM-Betriebsarzt Bieser, "hat mit Verhältnissen und Verhalten zu tun." Allein durch Einführung schnurloser Telefone seien Mitarbeiter in Bewegung geraten. Weit größere Auswirkung auf das Wohlbefinden von Mitarbeitern hat freilich das Führungsverhalten. Die ständige Überlastung wird ganz offensiv zur Schau getragen: "Seht her, wie ich mich in den Job einbringe." Laut IAT-Forscher Latniak sind Mitarbeiter, die mehr Eigenverantwortung tragen und ihre Arbeitszeit auf Vertrauensbasis planen, oft nicht mehr Herr ihrer selbst: "Wann ich zur Arbeit komme, bestimme ich. Wann ich gehe, der Kunde." Arbeiten bis der Arzt kommt, dieses Verhalten vieler Fach- und Führungskräfte kostet die Volkswirtschaft ein Vermögen. Für die Folgen aus Stress und psychischer Belastung am Arbeitsplatz, ermittelte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), müssen die europäische und die amerikanische Wirtschaft zusammen rund 120 Milliarden Dollar pro Jahr aufbringen.

Kein Trimm-Dich-Zirkus

Wie weit greift "Corporate Activity" in diese Sphäre ein? Was nützt der ganze Trimm-Dich-Zirkus, solange es Managern nicht gelingt, wünschenswertes Verhalten vorzuleben und mit ihren Mitarbeitern realistische Ziele zu vereinbaren? Privat würde auch niemand auf die Idee kommen, mit seiner Großmutter auf die Zugspitze zu klettern, doch Führungskräfte treiben ihre Mannschaft untrainiert den Berg hinauf. Ludwig Bieser hat deshalb seine angestammte Rolle als IBM-Betriebsarzt erweitert und sich der Aufgabe gestellt, alle gesundheitsrelevanten Prozesse zu koordinieren und mit Kennzahlen zu steuern. Dabei profitiert der Gesundheits-Manager von Daten aus dem "Global Pulse Survey", einer jährlichen E-Mail-Umfrage, in der sich alle Mitarbeiter anonym dazu äußern, wo sie der Schuh drückt.

Bei SAP übernimmt dies "Health Risk Assessment", ein interaktives Online-Tool, das Mitarbeiter nutzen, um auf ihre gesundheitlichen Risiken hingewiesen zu werden. "Die gepoolten anonymisierten Daten stehen dann dem Gesundheits-Management zur Verfügung", sagt Lotzmann, und können Unterstützungsprogramme nach sich ziehen. Betriebssport, das war einmal. Corporate Activity, soll die Firmen in Bewegung setzen. (hk)