IT-Strategien/Gratwanderung zwischen Durchsetzungsvermögen und Integration

IT und die Mergermania: Für Demokratie ist hier kein Platz

28.01.2000
CW-Bericht, Gerhard Holzwart LONDON - Was macht eigentlich das IT-Management, wenn das eigene Unternehmen einen Merger ankündigt? Böse Zungen würden behaupten: sich freuen. Schließlich gilt die IT neben der Globalisierung als wesentliche Triebkraft für das seit längerem zu beobachtende weltweite Fusionsfieber. Doch oft stehen die IT-Spezialisten dabei im Abseits - fühlen sich keineswegs als Motor, sondern als Getriebene oder sogar Opfer der Entwicklung. Viele Firmenzusammenschlüsse sind (auch) deshalb von Beginn an zum Scheitern verurteilt.

"Mit Mergers and Acquisitions, der Königsdisziplin der Corporate Finance, wird die Landkarte der globalen Märkte neu gezeichnet. Für mehr Shareholder Value muss auch die IT auf den Prüfstand." Das ist die eine Seite der Medaille, aus der sich Herausforderungen, vor allem aber Chancen für die IT-Strategie und damit das IT-Management ableiten lassen. Die Kehrseite sieht so aus: "Erfährt die IT-Abteilung aus der Zeitung von der Fusion mit dem bis dato größten Wettbewerber, hat sie strategisch etwas falsch gemacht." Zwei Zitate aus der jüngeren CW-Berichterstattung, die das Dilemma der internen IT-Shops widerspiegeln. Das Thema ist hochbrisant, und es hat das Zeug dazu, zu einem weiteren Klassiker in der IT-Management-Debatte zu werden.

IT ist mehr als bloßes SteuerungssystemDer Grund ist einleuchtend. Nirgendwo sonst sind Entscheidungen des Topmanagements und der IT-Verantwortlichen dermaßen miteinander verwoben; setzt das eine das andere zwingend voraus - und umgekehrt. Kleidet man dies in die Sprache der Marketiers der IT-Industrie, redet man gemeinhin davon, dass die IT, das Internet im speziellen, die Geschäftsprozesse revolutioniert. Ganze Branchen stehen im Umbruch, sehen - wie etwa Banken, Versicherungen - im Vertrieb über das Web das Kerngeschäft der Zukunft. Dazu kommt der vermeintliche Zwang zur Größe; der Versuch, mit dem Global Player der Globalisierung zu begegnen. Die Fusion mit dem Wettbewerber schafft, so glaubt man, Synergien, sie bringt Kostenvorteile und damit einen Vorsprung im Markt, und sie macht das eigene Überleben sicherer. Die IT verkörpert dabei zweierlei: Mittel zum Zweck, reines Steuerungsinstrument also, zugleich aber Motor - wenn man so will, die Initialzündung dessen, was Unternehmen überhaupt über einen globalen Marktauftritt nachdenken läßt.

Die Statistik macht die Tragweite deutlich: 474 Milliarden Euro betrug nach Erhebungen des US-Marktforschungsunternehmens Giga Group allein in den Monaten Januar bis Juni des vergangenen Jahres innerhalb der Europäischen Union das Volumen aller Unternehmensfusionen, die entsprechende Zahl für die Vereinigten Staaten ist mindestens auf das Doppelte zu taxieren. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Mega-Deals, mit denen die weltweite IT- und TK-Branche, zum Beispiel aber auch die Pharmaindustrie und die Energieversorger, auch in der zweiten Jahreshälfte 1999 für Schlagzeilen sorgten. Man denke nur an den vor kurzem angekündigten 300-Milliarden-Dollar-Deal zwischen America Online (AOL) und Time Warner. Gleichzeitig sind aber in der jüngeren Industriegeschichte 80 Prozent aller Fusionen nachweisbar gescheitert. Ursachen: Die Missachtung politischer und kultureller Unterschiede, das naive Ansinnen, diese irgendwann irgendwie in den Griff zu bekommen, falsche Strategie in Sachen Betriebswirtschaft, Marketing und Vertrieb, ausufernde statt zurückgehende Kosten.

Diese Fehlerliste ließe sich noch fortsetzen. Entscheidend ist aber, um auf die IT-Strategie zurückzukommen, dass selbige meist involviert war beziehungsweise ist - wenn sie nicht gar selbst die genannten Defizite mitverkörpert(e). Sind in den Führungsetagen der Unternehmen nur Hasardeure am Werk, die unverantwortlich ein großes Rad im Unternehmenskarussell drehen, obwohl sie es eigentlich besser wissen müssten? Und zu allem Überfluß die Schuld daran, einen Merger in den Sand gesetzt zu haben, im Zweifel auf andere, auch den eigenen IT-Shop, abwälzen? Fragen, die sicherlich nicht nur eine moralisch-ethische Berechtigung haben. Den IT-Spezialisten hilft dies aber nicht weiter. Deshalb sollten sie eine gute Antwort parat haben, wenn sie mit besagter Schuldzuweisung konfrontiert werden.

Nun ist dieses Problem, wie eingangs erwähnt, nicht ganz neu. Viele der einschlägigen Ratschläge für das IT-Management sind bekannt - und weitgehend unumstritten. Auf einer von der Giga Group Ende vergangenen Jahres in London veranstalteten Strategiekonferenz wurden die wichtigsten Eckpunkte noch einmal diskutiert. Viele der dort anwesenden Chief Information Officer (CIOs) verständigten sich auf sieben sogenannte goldene Regeln (siehe Abbildung "Sieben goldene Regeln") und vier zeitliche Phasen, deren strikte Einhaltung unabdingbar sind, soll eine Fusion nicht an den IT-Shops scheitern.

Was heißt dies nun aber im Detail? Schnelligkeit, Präzision und Disziplin sind unabdingbar - eine Forderung, die sich natürlich einfach erheben lässt. Doch man - in dem Fall das IT-Management - muss sie auch "leben"! Also nicht mehr über Sinn und Unsinn des Mergers diskutieren, sondern die Aufgabe, die man hat, anhand eines Pflichtenheftes erfüllen. Und dabei unter Umständen einiges auf den Prüfstand stellen. Eine eben "fertige" SAP-Einführung oder ein abgeschlossenes Data-Warehouse-Projekt - was nützt es, wenn das zu integrierende Partnerunternehmen die bessere Lösung hat oder die Fusion eine partiell andere IT-Strategie notwendig macht? Verzahnung von Business- und IT-Strategie, das nächste Stichwort. Bekanntermaßen ein gewichtiges Thema für sich. Belassen wir es hier bei zwei pointierten Aussagen, die für sich sprechen. Hat das IT-Department keinen "Draht" zum Vorstand, gibt es keinen CIO oder ist dieser nur der Frühstücksdirektor unter seinen Vorstandskollegen, hat es ein Problem. Denn der IT-Shop gehört längst, wie der Zeitgeist es gerne formuliert, auf den Fahrer- und nicht mehr auf den Beifahrersitz.

Gleichzeitig sollten sich, so der Tenor der Londoner Konferenz, die IT-Verantwortlichen vergegenwärtigen, dass man nicht alle Dinge, die im Zuge einer Fusion angepackt werden müssen, gleichzeitig erledigen kann. Vielmehr gilt es Prioritäten zu setzen. "Zuerst kommt der Merger, dann der Merger, dann der Merger ..." hieß es. Mit anderen Worten: Es müssen zunächst die lebensnotwendigen Maßnahmen ergriffen werden, damit aus zwei Unternehmen eine Company werden kann. Unabdingbar ist dabei nach Ansicht der Giga Group, dass die IT internen wie externen Kunden gegenüber stets einen ausreichenden Service-Level gewährleisten kann. Die zeitliche Abwicklung einer Fusion unterteilten die Auguren dabei in vier Phasen (siehe Abbildung "Vier Ebenen"). So müssen binnen sechs Wochen nach dem "Go" der Verantwortlichen des Unternehmens alle vorbereitenden Arbeiten abgeschlossen sein; weitere 18 bis 24 Monate später sollte das neue Unternehmen als eine Organisation auftreten können. Nach außen bedeutet dies"One Face to the Customer", nach innen eine einheitliche IT-Infrastruktur sowie gemeinsame Applikationen.

Apropos IT-Struktur: Das Zeitfenster für eine Fusion ist, um auf die goldenen Regeln zurückzukommen, gerade für die betroffenen IT-Shops äußerst eng. Deshalb ist es nicht produktiv, sich mit Systemangleichungen, aufwendiger Programmierung von Middleware zur Verknüpfung der oft unterschiedlichen DV-Welten oder sonstigen Kompromissen aufzuhalten. Man muß sich für das bessere System entscheiden und dann unverzüglich "seinen Job" machen, forderten die Giga-Group-Analysten. Eine Vorgehensweise, die umgekehrt natürlich - vorsichtig formuliert - nicht unbedingt kostenneutral ist und einiges an Standvermögen in der Diskussion mit den Unternehmensvorständen (Stichwort: Investitionsschutz) erfordert.

Last, but not least kommt bei einem Merger natürlich auch die menschliche Komponente zum Tragen. Warum sollte auch ausgerechnet die IT davon verschont werden? Es geht um Arbeitsplätze - und damit um Emotionen, Ängste, Existenzen. In vielen Fällen kommt die Outsourcing-Debatte zum wiederholten Male auf die Tagesordnung, andernorts sind einfach nur "zu viele Leute" an Bord. Zumindest aber dürfte das IT-Management vor einer Restrukturierung stehen. Die falschen Mitarbeiter am falschen Platz - ein Problem, das sich im Organigramm leicht beheben lässt, in der Praxis aber oft schmerzliche Einschnitte bedeutet. Dennoch müssen die IT-Verantwortlichen motivieren, überzeugen und vermitteln, dass sie hinter dem "Firmenzusammenschluss" stehen. Dass dabei auch harte Entscheidungen anstehen, ist jedoch unvermeidlich. "Wo Sie Mitarbeiter auswechseln müssen, wechseln Sie die Mitarbeiter aus; wo Sie sich von Technologien trennen müssen, trennen Sie sich von Technologien", gab die Giga Group den Konferenzteilnehmern mit auf den Nachhauseweg. Und noch einen Ratschlag: "Die Abwicklung einer Fusion ist keine mit einer parlamentarischen Demokratie vergleichbare Veranstaltung, sondern nur einem verpflichtet: dem Erfolg."

Sieben goldene Regeln

1. Der Merger muß schnell, präzise und diszipliniert abgewickelt werden!

2. Geschäfts- und IT-Prozesse müssen gemeinsam implementiert werden!

3. Man kann nicht alles gleichzeitig tun; das Setzen von Prioritäten ist zwingend notwendig!

4. Das "Window of opportunity" ist schmal. Halten Sie sich nicht mit Verbesserungen auf. Nehmen Sie, was Sie haben und machen Sie Ihren Job!

5. ... aber in einer Weise, die für den Merger zielführend ist!

6. Kommunizieren Sie offen; achten Sie auf Moral und Motivation Ihrer Mitarbeiter; demonstrieren Sie, dass Sie hinter dem Merger stehen.

7. Achten Sie stets auf akzeptable Service-Levels für die Kunden.

ANGEKLICKT

Fusionen von Unternehmen scheitern meist an ausbleibenden Synergien, weil vor allem die IT-Welten unvereinbar bleiben. Oft ist dies eine falsche Schuldzuweisung, weil das Management der beteiligten Firmen - vorsichtig formuliert - einer Fehleinschätzung unterlegen ist. Manche Zeitgenossen sprechen in diesem Zusammenhang unverblümt von Größenwahn. Genauso oft ist die DV aber auch tatsächlich für den Fehlschlag mitverantwortlich. In diesen Fällen ist sie nachweislich nicht Motor, sondern Bremser der Entwicklung gewesen. Die Konsequenzen sind eindeutig, aber in der Praxis um so schwerer umzusetzen: Eine zeitgemäße IT-Strategie muss einen Merger auf ihrer Rechnung haben.