"IT spielt eine zentrale Rolle"

18.11.1994

CW: Noch vor anderthalb Jahren war Business Re-Engineering (BR) in der amerikanischen und europaeischen Presse ein heisses Thema. Heute spricht man kaum noch darueber. Woran liegt das?

Hammer: Ich weiss nicht genau, was hier passiert, aber in den USA hat sich BR von einem Konzept zur Realitaet gewandelt. Heute gibt es mehr BR-Projekte und Erfolge als vor einem Jahr.

CW: Welche Rolle spielt die Informationstechnologie im Business Re-Engineering (BR)?

Hammer: Es ist wichtig, zwischen Informationstechnologie und der IT-Abteilung zu unterscheiden. Das IT-Department kann die BR- Anstrengungen nur unterstuetzen, nicht initiieren. Aber die Informationstechnologie spielt eine zentrale Rolle. In vielen Faellen bestimmt sie die Gestalt eines neuen Prozesses. Wem bewusst ist, was technologisch machbar ist, der kann daraus Ideen fuer die Gestaltung von Prozessen ableiten.

CW: Koennte man Re-Engineering auch uebersetzen als Faehigkeit, moderne Technologien richtig einzusetzen?

Hammer: Der angemessene Gebrauch moderner Technologie ist ein wichtiger Teil, wenn auch nicht das Ganze. Zu oft wurde IT in der Vergangenheit nur verwendet, um alte Prozesse zu automatisieren. Sie sollte benutzt werden, um Prozesse neu zu gestalten.

CW: Auf welchen Grundpfeilern beruht BR ausserdem?

Hammer: Wird ein Prozess veraendert, aendern sich auch alle anderen Aspekte der Organisation. Die Jobs bekommen neue Inhalte. Dafuer braucht man neue Leute beziehungsweise andere Faehigkeiten. Ausserdem benoetigen Sie eine Organisationsstruktur, die die neuen Prozesse unterstuetzt. Weil das Unternehmen andere Ziele verfolgt, muss auch die Arbeit anders bewertet werden. BR beginnt mit der Umgestaltung eines Prozesses, aendert aber alles, was in einem Unternehmen passiert.

CW: Wenn anders organisiert wird und die funktionalen Einheiten an Bedeutung verlieren, wer sagt den Mitarbeitern, was sie tun sollen?

Hammer: Es gibt viele Antworten darauf, aber die beste ist: der Kunde. Deshalb muessen aus Mitarbeitern, die das tun, was ihnen aufgetragen wird, "Professionals" werden, die Verantwortung tragen und den Kundenbeduerfnissen entsprechend agieren.

CW: Wie lange duerfen BR-Projekte dauern?

Hammer: Vom Design eines Prozesses bis zur Pilotphase sollten weniger als zwoelf Monate vergehen. Langsames Re-Engineering funktioniert nicht.

CW: Warum gibt es in Deutschland so wenige BR-Projekte?

Hammer: Die deutsche Wirtschaft war nach dem zweiten Weltkrieg extrem erfolgreich. Das koennte zum Problem werden, weil Erfolg Veraenderungen behindert. Auch wenn es zur Zeit nicht so rosig aussieht, gehen deutsche Manager offenbar davon aus, dass ihr bisheriges System noch funktioniert.

CW: In grossen Unternehmen scheinen die Dinge einfach zu geschehen und nicht Ergebnis von Planung oder Willen zu sein. Inwieweit sind Organisationen ueberhaupt noch zu managen?

Hammer: Das traditionelle Modell geht davon aus, dass diese Organisationen zu managen sind - und zwar von oben nach unten. Aber das geht nicht, weil die oben nicht wissen, was vorgeht. Ein Vergleich: Jeder Disneypark bietet seinen Besuchern eine Bootstour durch den Dschungel. Das Boot wird an einem Kabel gezogen. Viele traditionelle Manager fahren mit solchen Schiffen, setzen sich eine Kapitaensmuetze auf, drehen am Ruder und glauben, sie steuern das Boot. Die meisten Firmen werden jedoch durch ihr Umfeld bestimmt, auf das sie mit Ad-hoc-Entscheidungen reagieren. BR will dieses Modell abschaffen und eine Umgebung entwickeln, in der sich die Leute im Grunde selbst managen.

CW: Wenn Sie dem Prozesseigner die Verantwortung uebertragen, muessen Sie sich dann nicht auch von langfristigen Plaenen verabschieden?

Hammer: Nein, nicht verabschieden. Es funktioniert nur anders. Im Grunde basiert traditionelle Planung auf dem Glauben, man koenne die Zukunft voraussagen. Wir wissen, dass das nicht geht. Aber natuerlich brauchen Unternehmen weiterhin eine Vision. Sie muessen vermitteln, was sie erreichen wollen, und ueberlassen den Prozesseignern die kurzfristige Planung.

Mit Michael Hammer, dem "Erfinder" des Business Re-Engineering, sprach CW-Redakteur Christoph Witte.