Tagung der europäischen Arbeitnehmervertreter im IT-Bereich

IT-Profis stöhnen unter der Arbeitsverdichtung

10.11.1998
Einmal jährlich treffen sich in Nizza Arbeitnehmervertreter aus europäischen Hard- und Softwarehäusern unter der Schirmherrschaft des europäischen Dachverbandes Euro-Fiet zum Erfahrungsaustausch. Für die COMPUTERWOCHE sprach Ina Hönicke* mit Gudrun Trautwein-Kalms, Referatsleiterin im wissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung, über die diesjährige Tagung.

CW: Euro-Fiet hat im Oktober dieses Jahres bereits zum siebten Mal ein Forum zum Thema Informationstechnologie organisiert. Inwieweit hat sich die Arbeitssituation der Computerprofis im vergangenen Jahr verändert?

Trautwein-Kalms: Die Branche boomt wie nie zuvor, die Arbeit wird immer mehr. Zu den rasanten Innovationen im IuK-Bereich kommen noch die Umstellung auf das Jahr 2000 sowie die Euro-Einführung. Diese Projekte lassen sich nur mit zusätzlichen Arbeitskräften bewältigen. Für die Unternehmen rächt sich nun, daß sie in den vergangenen Jahren ihr Personal zu knapp kalkuliert und Leanmanagement betrieben haben. Mitarbeiter, die im Zuge von Umstrukturierungen abgebaut oder aus dem Betrieb gedrängt wurden, mußten mit höheren Honoraren als Freiberufler oder Berater wieder eingekauft werden.

CW: Wo liegen die größten Probleme der europäischen IT-Profis?

Trautwein-Kalms: Die Sorgen der High-Tech-Spezialisten sind im Grunde immer noch die gleichen. Sie fragen sich, wie sie ihr Wissen auf dem neuesten Stand halten können, ob sie mit 40 Jahren noch einen sicheren Job haben und wie sie den Leistungsdruck auf Dauer aushalten werden. Am meisten leiden die IT-Profis unter dem immer größer werdenden Arbeitspensum. Wenn das weiterhin so ausufert, entstehen hohe physische und psychische Belastungen mit negativen Folgen im persönlichen Umfeld. Am schlimmsten ist die Arbeitsverdichtung, die ins Privatleben hineinwuchert.

CW: Drohen die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben zu verschwimmen?

Trautwein-Kalms: Die Mehrarbeit wird in der Freizeit durch die verstärkte Nutzung von Laptop und Handy erleichtert. Überstunden, die durch vernünftige Vereinbarungen geregelt sind - das wurde auf der Konferenz am Beispiel des neuen Tarifvertrags bei Debis diskutiert -, kann man später wieder durch Freizeit ausgleichen. Ruinierte persönliche Beziehungen und Gesundheitsprobleme, die durch maßlose Überforderung entstehen, sind dagegen schlecht reparierbar.

CW: Die USA haben aufgrund des leergefegten Personalmarktes sogar ihre Einwanderungsgesetze gelockert. Europäische DV-Leute werden mit offenen Armen aufgenommen. Wie reagieren die Gewerkschaften darauf?

Trautwein-Kalms: Wer die europäische Informationsgesellschaft will, darf nicht tatenlos zusehen, wie qualifizierte DV-Profis in großem Maße abgezogen werden. Diese fehlen hierzulande - nicht zuletzt deshalb, weil die IT-Unternehmen bisher keine Personalentwicklungspolitik mit systematischer Aus- und Weiterbildung betrieben haben.

Deshalb haben Fiet und die internationale Kommunikations-Gewerkschaft den Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Santer, gebeten, gemeinsam mit den Arbeitgebern Gespräche über eine Qualifizierungsoffensive zu initiieren. Unter den 18 Millionen Arbeitslosen in Europa wird es sicherlich genügend Interessenten geben, die nach einer entsprechenden Qualifizierung im IuK-Bereich arbeiten können.

CW: Eine wichtige Rolle spielen die Euro-Betriebsräte. In der Vergangenheit haben viele Unternehmensleitungen abgeblockt. Hat sich hier etwas positiv verändert?

Trautwein-Kalms: Nach meinem Eindruck nicht. Aufgeschlossene Arbeitgeber, die bisher Euro-Betriebsräte unterstützt haben, führen diesen Kurs fort. Diejenigen Unternehmen, die verzögern wollen, tun es auch weiter. Allerdings haben die Euro-Betriebsräte mittlerweile dazugelernt.

CW: Euro-Fiet hat 1997 eine Kooperation mit der CI Communication International, der vormaligen länderübergreifenden Postgewerkschaft, bekanntgegeben. Welche Vorteile versprechen sich die beiden internationalen Gewerkschaften davon?

Trautwein-Kalms: Diese Entscheidung folgt Entwicklungen in der Industrie, die man gemeinhin mit Konvergenz bezeichnet. Telekommunikation, IT-Industrie, Medien etc. wachsen immer stärker zusammen, so daß sich die Herausbildung einer neuen Branche abzeichnet. In diesem neuen Sektor wollen die internationalen Gewerkschaftsvertreter gemeinsam Einfluß auf die Arbeitsbedingungen nehmen. In diesem Jahr startet zudem die Zusammenarbeit mit der Internationalen Grafischen Föderation, also Druck und Papier. Schließlich haben es die Arbeitgeber den Gewerkschaften vorgemacht. Sie kooperieren bereits seit längerem branchenübergreifend.

CW: Wird es für die Probleme der Computerfachleute eine gemeinsame europäische Strategie der Arbeitnehmervertreter geben?

Trautwein-Kalms: Auf dem diesjährigen IT-Forum ist mehr als eine Absichtserklärung verabschiedet worden. Ein recht gut etabliertes Netzwerk europäischer Gewerkschaftspolitik im IT-Bereich unterstützt diese Forderungen. So werden unter anderem die Informationen, die die europäischen Betriebsräte betreffen, verstärkt. Die angelaufene Kampagne "Online rights for online workers" wird von einem Diskussionsforum im Web begleitet.

CW: Was bezweckt diese Kampagne?

Trautwein-Kalms: Angestellte und Betriebsräte sollen freien Zugang zu den E-Mail-Systemen der Unternehmen haben, damit sie Informationen abrufen und an ihre Vertreter weiterleiten können. Gefordert wird außerdem der Zugriff auf die Web-Seiten der Gewerkschaften. Ziel von Euro-Fiet ist es, einen Modelltarifvertrag für die Informationsrechte der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretung zu entwickeln.

CW: Welches Resümee ziehen Sie aus der diesjährigen Nizza-Veranstaltung?

Trautwein-Kalms: Es hat sich auf der Tagung herauskristallisiert, daß der sogenannte Beschäftigungsboom in der IT-Branche illusionslos eingeschätzt werden muß. Tatsächlich besteht ein Arbeitskräftemangel nur an ledigen IT-Experten, die unter 35 Jahre alt sind, unbegrenzte Bereitschaft zu Überstunden zeigen und sich nicht gegen maßlose Ausbeutung wehren - so kann man es zusammenfassen. Seriöse Statistiken bestätigen keine langfristige allgemeine Personalknappheit nach der Jahrtausendwende. Um so wichtiger ist es, daß sich die Computerprofis über ihre Arbeitssituation und Berufsperspektiven ein realistisches Bild machen und ihre Interessen formulieren. Dazu hat das IT-Forum beigetragen.

CW: Am Status quo scheint sich wenig geändert zu haben.

Trautwein-Kalms: Das stimmt. Für mich war das wirklich Neue auf der Konferenz, daß in verschiedenen Arbeitsgruppen vehement und selbstbewußt der Anspruch auf interessante und herausfordernde Arbeit angemeldet, zugleich aber der wachsende Leistungsdruck und die damit verbundene einseitige Ausrichtung auf die Unternehmensinteressen nachdrücklich verurteilt wurden. Das Maß scheint voll zu sein - und die Gelegenheit zur Gegenwehr günstig.