IT in der Energiewirtschaft/Integration von MIS und physikalischen Leitsystemen

IT im deregulierten Markt simulieren

15.01.1999
Der Grosskunde VEW, Dortmund, und PSI, Aschaffenburg, haben einen "Internet-Labormarkt" kreiert, der es ermöglicht, unterschiedliche IT-Szenarien für die Energiebranche mit ihren Konsequenzen realitätsnah zu simulieren. Gerechnet wird in virtueller Mark. Rolf Bastian skizziert das neue Testfeld. Waren bislang die Stromerzeuger gleichzeitig Betreiber und Eigentümer der Netze, so tritt die Bedeutung des Netzeigentums zukünftig in den Hintergrund, denn die eigenständigen Netzbetreiber dürfen keinen Anbieter durch ihre Durchleitungsentgelte zum Entnahmepunkt diskriminieren. Damit "gewinnen Informationsauswertung und Prognosesicherheit der Management-Systeme eine entscheidende Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen", so Heldt weiter. Mit anderen Worten: Die Konzeption der Schnittstellen zwischen operativen Systemen, physikalischer Steuerung, dem Handel und der Auswertung für die Prognose wird immer wichtiger. Erkenntnisgewinn durch Realitätsnähe Wichtig für die Qualität der Erkenntnisse aus der Simulation war die Realitätsnähe des Labormarkts. "Es kam hier vor allem darauf an, ein Unternehmen zu finden, das entsprechende Erfahrungen hat, den Prozeß der Elektrizitätsversorgung physikalisch und leittechnisch hinreichend modellieren zu können", wie der Fachbereichsleiter Betreuung Prozeßleitsystem der Isar-Amperwerke, Gerhard Gerstenhöfer, aus der Sicht eines Netzbetreibers formuliert. Dank seiner langjährigen Erfahrungen im Bereich der Netzleittechnik war der Initiator des Labormarktes in der Lage, in einem separat geführten Netzverfügbarkeitsrechner die realen deutschen Verhältnisse über alle Spannungsebenen abzubilden. Somit war gewährleistet, daß die physikalische Erfüllbarkeit der via Internet über den Simulations-Server ausgehandelten Verträge den echten Infrastrukturbedingungen entsprach. Bei aller Vielfalt der neuen Tätigkeitsfelder (siehe Kasten) muß die Stromversorgungsbranche sich im zunehmenden Wettbewerb gleichzeitig mit bisher weniger vorrangigen Themen auseinandersetzen, etwa mit Kundenbindung, Akquise, etc. Daraus ergibt sich laut Gerstenhöfer die Notwendigkeit, "umgehend ein Kunden- und Netzinformationssystem aufzubauen, das aktuelle Informationen vom Prozeß und vom Markt verknüpft und dem Benutzer spontan im Kontext seiner speziellen Aufgaben mit einheitlicher Benutzeroberfläche zur Verfügung stellt". Und diese IT-Werkzeuge zur Wahrung des unternehmerischen Überblicks, so schließt Michael Joeschke, Fachbereichsleiter Energiewirtschaftliche Planung der Stadtwerke München, aus den Erfahrungen des Labormarkts, "müssen so konzipiert sein, daß Mehrfacheingaben von Daten, zum Beispiel nach dem Zustandekommen eines Vertrags, überflüssig werden. Sonst gibt es bei der Weiterverfolgung von Vorgängen trotz IT-Unterstützung sehr bald doch Übersichtsprobleme." Die PSI als Initiator des Labormarkts hat für die Entwicklung und Positionierung ihrer Produkte entsprechende Konsequenzen gezogen: "Wir sehen die Zukunft in modularen, skalierbaren Systemen für Netzbetreiber und Händler, die an der Nahtstelle zu unserem traditionellen Produkt für Netzleittechnik und Energie-Management ansetzen und integriert ineinandergreifen", erläutert Guido Daniels die Strategie des Unternehmens. Dabei legt man Wert darauf, daß die einzelnen Module, etwa Durchleitungsverwaltung, Marktanalyse oder Abrechnung, über Schnittstellen mit bereits vorhandenen Systemkomponenten im Hause des Kunden kommunizieren können. ANGEKLICKT Der deregulierte Strommarkt bringt für alle Akteure der Energieversorgungswirtschaft neue und kaum einzuschätzende Herausforderungen mit sich. Technische und unternehmerisch- organisatorische Umwälzungen müssen mit geeigneter IT- Unterstützung bewältigt werden. Ein "Internet-Labormarkt" gibt der Branche die Gelegenheit, die Zukunft vorwegzunehmen und gegen "virtuelle Kosten" Erfahrungen in unbekannten Tätigkeitsfeldern zu sammeln. Konfiguration des Labormarkts Einbindung der Teilnehmer via Internet (www.psi.de) Sun-Workstation als Firewall PSI-internes Netzwerk mit: - Simulations-Server (Lotus Notes auf PC unter Windows NT), - Simulationsrechner für die Netzverfügbarkeit proprietärer Software auf Basis des Netzleitsystems PSI Control. Strom als Handelsware Im deregulierten Strommarkt werden Verträge zwischen Stromverbraucher und Stromanbieter frei ausgehandelt. Als Anbieter werden im Zuge einer immer komplexeren Marktlandschaft zunehmend Händler und Handelshäuser auftreten, die sich ihre Ware bei den Erzeugern, an der Strombörse oder am Spotmarkt besorgen. Die Preisgestaltung des Anbieters hängt von seiner Einkaufsstrategie und den "Zustellungskosten" der Handelsware ab, also von den an die Netzbetreiber zu zahlenden Durchleitungsentgelten. Das Marktverhalten der Erzeuger baut auf Bedarfsprognosen und Kapazitätsplanungen auf. Entscheidungsoptionen sind zum Beispiel Verkauf am Spotmarkt zum Tagespreis oder über langfristige Verträge, Vorhalten einer Reserve für Bedarfsspitzen, in denen sich durch Angebotsengpässe hohe Preise erzielen lassen, oder sichere Auslastung der Kapazitäten durch Festpreisverträge. Der Netzbetreiber wiederum stellt gegen Entgelt die Systemdienstleistungen bereit (Frequenz- und Spannungshaltung, Versorgungswiederaufnahme und Betriebsführung), die er teilweise selbst einkauft. Dabei bilden die Geschäftsvorgänge nicht das reale physikalische Geschehen ab. Denn ungeachtet der geografischen Bedingungen füllen alle Erzeuger ihre Ware in denselben Topf, aus dem sich alle Verbraucher bedienen. Einspeisungs- und Entnahmemengen müssen lediglich per saldo den vertraglich vereinbarten Konditionen entsprechen. Im bilateralen Einzelgeschäft kann also ein Erzeuger aus München über ein Handelshaus an einen Verbraucher in Hamburg liefern, sofern der dortige Netzbetreiber Durchleitungskapazitäten verfügbar hat - ohne daß physikalisch gesehen Strom von München nach Hamburg fließt. Rolf Bastian ist freier Journalist in Mainz.

Seit April 1998 ist der Strommarkt in Deutschland dereguliert. Ab Februar 1999 gelten EU-weit keine Beschränkungen mehr für den Handel mit elektrischer Energie. Dies bedeutet eine radikale Umwälzung der Geschäftsbedingungen: Die Akteure, die bislang im Rahmen regionaler Monopole tätig waren, müssen sich auf einen freien Markt mit aggressivem Wettbewerb einstellen. Der Strom wird von einem eher verwalteten Versorgungsgut zu einer normalen Ware, die sogar dynamischer gehandelt werden kann als die meisten anderen Güter. Aufgrund der Omnipräsenz eines gut ausgebauten Netzes kann Strom nämlich praktisch in jeder Menge aus beliebiger Quelle an jeden Abnehmer verkauft werden, und das bei potentiell stündlich wechselnden Strompreisen. Repräsentative Vertreter der deutschen Energieversorgungswirtschaft haben in einem Labormarkt der PSI AG die Zukunft vorweggenommen.

Vom Branchenriesen VEW in Dortmund bis zu den Stadtwerken einzelner Gemeinden haben insgesamt 18 Akteure der deutschen Stromwirtschaft die Gelegenheit wahrgenommen, in einem Labormarkt die zukünftige Entwicklung unter deregulierten Marktbedingungen zu simulieren.

Die Idee dazu wurde von dem deutschen Marktführer für Netzleittechnik, der Aschaffenburger PSI AG, gemeinsam mit dem Großkunden VEW entwickelt, und zwar mit dem klaren Ziel, Erkenntnisse im Sinne eines Lastenhefts über die IT- und Organisationsanforderungen des deregulierten Markts zu gewinnen.

Nach einhelliger Meinung aller befragten Teilnehmer aus der Energiewirtschaft war dies eine außergewöhnlich lernintensive und effiziente Methode, um eine unbekannte Problematik transparent zu machen.

"Unsere Kunden sind vom Gesetzgeber angehalten, die Stromerzeugung und den Netzbetrieb unternehmerisch zu entflechten. Mit den Stromhändlern und Handelshäusern treten zudem ganz neue Player am Markt auf. Und neben dem rein physikalischen Energie-Management sind nunmehr zahlreiche betriebswirtschaftliche Risiken zu beachten und Marktstrategien zu entwickeln." So beschreibt Barbara Wieler vom Consulting-Team die zur Zeit sehr komplexe Ausgangsproblematik.

Durch die Simulation im Labormarkt müssen die Beteiligten ihre Erfahrungen nicht - wie normalerweise bei völlig neuen Szenarien üblich - teuer erkaufen, sondern für taktische oder strategische Fehler lediglich in "virtueller Mark" bezahlen.

Von Runde zu Runde komplexere Szenarien

Die virtuellen Unternehmen wurden zu Beginn mit realitätsnahen Ressourcen ausgestattet und erhielten die Aufgabe, im deregulierten Energieversorgungsmarkt von "Stromland" Geschäfte zu machen.

In der ersten Phase wird die existierende Landschaft zugrundegelegt, in der die Entflechtung (Unbundling) noch kaum begonnen hat.

In der zweiten Phase treten bei fortgeschrittenem Unbundling zusätzlich Händler auf, und es wird eine Strombörse eingerichtet. Ferner wird der tägliche Direkthandel über einen Spotmarkt ermöglicht.

In der dritten Phase kommen alle Elemente eines ausgereiften liberalisierten Markts zum Tragen, von Akquisitionen und Fusionen bis hin zum Derivatehandel und entsprechendem Risiko-Management. Nach jeder Phase werten die Teilnehmer ihre Erfahrungen in zweitägigen Workshops aus.

Dietmar Heldt, Leiter Lastverteilung und Energieabrechnung bei der Essener Steag, leitet aus der Simulation zum Beispiel folgende Kernanforderungen ab: "Aufbau eines leistungsstarken, modular aufgebauten Rahmen- und Leitsystems, Aufbau eines Prognose- Management-Systems, Vorbereitung eines Handels- und Risiko- Management-Systems, das in das Rahmen- und Leitsystem eingebunden werden kann."

Abb: Die schematische Netzstrukutr des Simulationsmodells. Quelle: PSI