Jahresrückblick/Rückblick 2002 (Teil III September bis Dezember)

IT-Branche trägt Trauer - nur Rudi jubelt

20.12.2002
2002 war nichts für Nervenschwache: Die Insolvenzen bewegen sich auf Rekordkurs. Was mancher Manager als Kostendämpfung ankündigt, kommt einem Kahlschlag gleich. Alles spart, alles wartet, alles hofft. Nirgends Aufbruchstimmung. Deutschland tut, was manche als seine liebste Beschäftigung ansehen - es klagt, lamentiert und stagniert. Ein Jahr geht zu Ende, das so niemand mehr erleben will.

September

HP, mittlerweile auch rechtlich mit Compaq fusioniert, legt ein Geschäftsergebnis für das dritte Quartal vor, das eigentlich furchterregend ist: Im PC- und Server-Segment schreibt die Firma, die sich Computerunternehmen nennt, rote Zahlen und verliert Marktanteile. Bei Druckern steigen die Gewinne insbesondere auch wegen der Geschäfte mit Zusatz- und Ersatzteilkomponenten wie Druckerkartuschen. Ob das doch stimmt, was Sun-Chef Scott McNealy schon vor Jahren lobte? Dass HP ja eine sehr erfolgreiche Druckerfirma sei?

Apropos Erfolg und gute Stimmung: Der US-Festplattenhersteller Quantum muss wegen der anhaltend schleppenden Nachfrage jeden dritten Mitarbeiter entlassen. Hätte ja auch jeder Zweite sein können.

Bill Gates verliert im Lauf des Jahres elf Milliarden Dollar an Vermögen. Das ist nicht so tragisch, besitzt er doch immer noch 43 Milliarden Dollar. In Deutschland gibt es ungefähr sechs Unternehmen, die so viel an Marktkapitalisierung besitzen.

Für Mobilcom ist mal wieder eine Wende eingetreten: Mitte September entscheidet die France Télécom, ihr Engagement bei den Büdelsdorfern komplett zu beenden. Um nicht alle 5500 Arbeitsplätze zu gefährden, wollen der Bund und das Land Schleswig-Holstein eine Bürgschaft über 400 Millionen Euro bereitstellen.

Ab dem 2. September läuft derweil das Insolvenzverfahren für Brain. Hinter den Kulissen hat das Tauziehen um Kunden und lukrative Wartungsverträge begonnen. Vorstand Hans-Peter Eitel versucht zu retten, was eigentlich nicht mehr zu retten ist.

Sun Microsystems überrascht derweil mit der Ankündigung, man wolle ins PC-Geschäft einsteigen. Natürlich nicht mit einem Betriebssystem des Erzfeindes Microsoft bewehrt, sondern mit Linux. 1989 hatte sich Sun auch schon mal in ein PC-Abenteuer gestürzt. Das ging seinerzeit kräftig in die Hose: Die "386i"-Rechner vergammelten in den Lagern, und Sun fuhr zum ersten Mal seit seiner Gründung 1982 Quartalsverluste ein.

EDS, nach der IBM zweitgrößter IT-Dienstleister der Welt, gibt in einer Meldung Ende September bekannt, dass der Markt für IT-Services praktisch "zum Stillstand" gekommen sei. Das werde sich bis Mitte 2003 auch nicht wesentlich ändern. Die Umsatz- und Gewinnprognosen fahren die Texaner entsprechend drastisch zurück - prompt rauscht die EDS-Aktie um mehr als 30 Prozent in den Keller.

Oktober

Wie oft, wenn es darum geht, als Outsourcer im großen Stil aufzutreten, ist IBM erste Wahl: Die Deutsche Bank hat das Gezerre um das Für und Wider der Auslagerung beendet und Big Blue den Zuschlag erteilt, ihre gesamte IT-Infrastruktur für zehn Jahre zu übernehmen. Der Vertrag beläuft sich auf rund 2,5 Milliarden Dollar - und mal wieder macht der Spruch die Runde: "Einmal blau, immer blau."

Die vierte CW-Vergütungsstudie, die diese Zeitung gemeinsam mit der Universität Saarbrücken erarbeitet hat, bringt für IT-Arbeitnehmer wenig Erfreuliches an den Tag: Je nach Ausbildung und Berufserfahrung müssen IT-Profis mit Nullrunden oder sogar Einbußen beim Gehalt rechnen.

Gerade erst hat die Deutsche Bank entschieden, dass Großkonzerne auch ganz gut ohne selbst betriebene IT auskommen, da macht Bertelsmann genau das Gegenteil. Unter seinem neuen IT-Boss Ragnar Nilsson, der unter nicht ganz freundschaftlichen Umständen bei Aventis aus Amt und Würden schied, nachdem er vorher bei Karstadt das Internet-Projekt "My World" etwas in Grund und Boden gewirtschaftet hatte; unter Nilsson also gilt die Parole, die Kosten der IT bis 2004 um 60 bis 90 Millionen Euro zu senken. Das will der Mann vor allem durch eine Verschlankung der IT-Struktur erreichen - und wieder mal auch durch Entlassungen.

Die gibt es auch bei dem größten deutschen IT-Dienstleister T-Systems: Dessen Chef Christian Hufnagl will bis Ende 2003 insgesamt 3500 Arbeitsplätze abbauen, 2500 davon hierzulande.

Totgesagte leben länger: Im Vorfeld hatte man eigentlich nur noch darüber spekuliert, wann das Ende für die Systems kommen würde. In der Tat sind die Besucher- und Ausstellerzahlen dann auch stark rückläufig. Die Aussteller üben sich aber zumindest im Zweckoptimismus und zeigen sich mit der Messe zufrieden. Sollte kleiner tatsächlich manchmal feiner sein?

Mal wieder eine unanständige Meldung: Microsoft hat im abgelaufenen ersten Geschäftsquartal einen Gewinn von 2,73 Milliarden Dollar eingefahren. Das ist mehr als doppelt so viel wie im Vorjahreszeitraum. Da sind keine Fragen mehr offen.

Die Zeiten, da Sun Microsystems stolz von dem x-ten Quartal in Folge mit Gewinnen sprechen konnte, sind auch längst vorbei. Im November muss dass Unternehmen sich von elf Prozent seiner weltweit rund 39000 Mitarbeiter trennen. Im ersten Quartal des Geschäftsjahres 2002/03 haben sich 111 Millionen Dollar Miese auf Suns Konto angehäuft.

Die Telekom drücken derweil neben gigantischen Verlusten noch andere Probleme: Nach Ron Sommers Abgang will offensichtlich kein profilierter Manager seine Nachfolge antreten. Klaus Zumwinkel (Deutsche Post) und Wendelin Wiedeking (Porsche) winken dankend ab, dann auch Ulrich Schumacher (Infineon). Bundeskanzler Gerhard Schröders Vorschlag, der parteilose (Ex-)Wirtschaftsminister Werner Müller könnte doch vielleicht..., wird prompt und kühl dementiert.

November

Die schlechten Nachrichten reißen nicht ab: Im November erwischt es den mittelständischen ERP-Anbieter Bäurer AG aus Hüfingen/Behla. Nachdem der US-amerikanische Investor GB Global Capital seine Finanzierungszusage zurückgezogen hat, erarbeitet nun ein Insolvenzverwalter ein Sanierungskonzept. Einziger Lichtblick: Bäurer hat seine Hausaufgaben bereits gemacht und den Konzernumbau weit vorangetrieben sowie von der Unternehmensberatung Roland Berger geforderte finanzielle Voraussetzungen erfüllt.

Microsoft hält für seine zugegebenermaßen weitläufige Kundschaft im November eine kleine Überraschung bereit: Die aktuelle Office-Version Nummer 11 läuft nur noch auf ebenfalls neuen Betriebssystem-Versionen, also Windows 2000 und XP. Benutzer der Windows-Varianten 95, 98, 98E, ME und NT sind gezwungen, zu migrieren. Das ist so, als würden Volkswagen, Mercedes etc. sagen: Wenn Sie an deutschen Tankstellen Benzin nachfüllen wollen, müssen Sie erst einmal unser neuestes Auto kaufen. Wieso kommen die eigentlich nicht auf den Dreh? Es gibt sie doch, die rosigeren Meldungen: Der Finanzdienstleister Merrill Lynch hat bei US-amerikanischen und europäischen CIOs erfragt, dass zur Jahresmitte 2003 die Nachfrage nach IT-Gütern wieder anziehen wird.

Noch eine positive Nachricht - für Microsoft. Das Kartellverfahren US-Justizministerium und neun US-Bundesstaaten (es waren einmal 19) gegen Microsoft endet nominell mit einem Vergleich.

Praktisch ist es schon wieder der Hofknicks der Rechtsprechungsorgane vor der Wirtschaftsmacht Microsoft. Sagt Kartellrechtsprofessor Robert Lande von der Universität Baltimore, "das ist und bleibt ein nahezu vollständiger Sieg von Microsoft".

Im November bringt Louis Gerstner ein Buch heraus, in dem er Klönschnack über seine Jahre bei IBM zum Besten gibt. Unter anderem bestätigt er ein Gerücht, das Mitte der 90er Jahre in der IT-Szene kursierte: Tatsächlich hat Big Blue 1996 überlegt, SAP zu kaufen. 1995 hatte IBM Lotus übernommen. Zu einem einschlägigen Kontakt auf Management-Ebene sei es aber nie gekommen - sagt ein SAP-Sprecher heute.

Die Deutsche Telekom hat einen Sommer-Nachfolger: Aus den eigenen Reihen kommt Kai-Uwe Ricke, der für die Mobilfunksparte T-Mobile und die Internet-Tochter T-Online verantwortlich zeichnete.

Auf den ersten Blick verblüffend ist, was sich HP Deutschland überlegte, um den überraschend demissionierten Vorstand der Geschäftsführung, Heribert Schmitz, zu ersetzen. Es kommt Jörg Menno Harms, der diesen Posten schon mal acht Jahre ausgefüllt hatte. Dafür gibt er seinen Aufsichtsratsvorsitz ab - den Schmitz ab sofort bekleidet.

Aus den USA schwappen schon wieder Hiobsbotschaften herüber: Die Comdex in Las Vegas, gern besucht als die Leitmesse für IT in den Vereinigten Staaten und natürlich wegen der skurrilen und aberwitzigen Wüstenstadt selbst, die Comdex also steht möglicherweise vor der Pleite. Veranstalter Key3Media, der vorher schon hatte verlauten lassen, er werde verschiedene gut beleumundete Messeveranstaltungen jenseits des großen Teichs sterben lassen, musste kurz vor Beginn der Comdex bekannt geben, wegen akuter Zahlungsengpässe sei ein Insolvenzantrag nicht ausgeschlossen.

Von jenseits des großen Teichs kommt eine andere Nachricht, die dafür sorgen dürfte, dass antiamerikanische Ressentiments weiter blühen: Die US-Regierung plant, ein Schnüffelsystem zu installieren, mit dessen Hilfe das Internet besser gefiltert werden kann. Mit dem Total-Awareness-(Tia-)Programm hofft das Pentagon, verdächtige Kreditabrechnungen, Reisebuchungen etc. aus den unzähligen Datenpaketen im Internet zu fischen. Diese Myriaden von Informationsstückchen sollen IT-kundige Sicherheitskräfte analysieren, um Terroranschläge und andere Gefahren unterbinden zu können. Kritiker dieser Überwachungsphantasien reden von Orwellschen Dimensionen. Bereits früher hatten die US-Amerikaner flächendeckend auch die Bürger ihrer Verbündeten über das "Echelon"-Lauschsystem abgehört. Gegen dieses Spähprogramm hatte das EU-Parlament scharf protestiert, weil Echelon auch für Industriespionage verwendet wurde. Außerdem ist überhaupt nicht klar, ob sich ein Schnüffelprogramm dieser Größenordnung überhaupt realisieren lässt. Aber es ist ja für einen guten Zweck.

Sang- und klanglos tritt Charles Wang als Chairman, also Aufsichtsratsvorsitzender, von Computer Associates (CA) zurück. Wang hatte CA 1976 zusammen mit drei Kompagnons gegründet. Gründe für die Demission nennt er nicht. Nachfolger wird Sanjay Kumar, der vorher schon das Amt des Chief Executive Officer (CEO) und President innehatte. Wang will sich karitativen Aufgaben widmen. Ein Zusammenhang zwischen seinem Rücktritt und den anhaltenden Untersuchungen der US-amerikanischen Börsenaufsicht Securities and Exchange Commission (SEC) über die Geschäftsgebaren von CA bestehe nicht.

Ende November steht der "Anwender des Jahres" fest. Die COMPUTERWOCHE kürt gemeinsam mit den Unternehmensberatern von Gartner alle Jahre wieder das beste IT-Projekt eines deutschen Anwenderunternehmens. Gewonnen hat nach einem Ausscheidungsprozess, bei dem ursprünglich 43 Kandidaten auf fünf Finalisten reduziert wurden, der Logistikspezialist DHL Worldwide Express aus Langen mit seiner Business-Intelligence-Lösung. In die engste Auswahl der besten IT-Projekte kamen ferner Start Amadeus, der ADAC, die Dresdner Bank und die Citibank.

Entgegen dem Trend erfreut sich Ende November die Exponet in Köln steigender Beliebtheit. Während sich andere Messen wie die Systems oder die Comdex in Las Vegas mit schwindenden Besucherzahlen herumschlagen, geben die Exponet-Veranstalter DC Europe aus Starnberg sogar Rekorde zu Protokoll. Nach 65000 Besuchern im Vorjahr habe die Exponet dieses Jahr sogar 5400 Messegäste mehr angezogen. Allerdings bezweifelt die Konkurrenz diese Zahlen. Die Exponet-Veranstalter würden die Kontrolle der Besucherzahlen durch die "freiwillige" Inspektion einer unabhängigen Instanz ablehnen.

Dezember

Zum Jahresende ist auch klar, wie es mit dem mittelständischen Softwareunternehmen Brain International AG weitergeht. Das US-amerikanische Softwarehaus Agilisys übernimmt sowohl die Software als auch die 430 Mitarbeiter sowie die Kunden der Brain International AG und ihrer Töchter Brain Industries Solutions GmbH und Brain Automotive Solutions GmbH. Allerdings gehen Insider davon aus, dass die Arbeitsplätze der deutschen Mitarbeiter noch nicht sicher sind.

Für Microsoft ist der Kartellrechtsprozess doch noch nicht ausgestanden. Der US-Bundesstaat Massachusetts hat gegen den außergerichtlichen Vergleich etwas einzuwenden und fordert wesentlich härtere Sanktionen gegen Microsoft. Der Justizminister des US-Bundesstaates, Thomas Reilly, bringt es auf die einprägsame Formel: "Microsoft ist ein Monopolist, der seine Macht missbraucht, seine Konkurrenten vernichtet und unserer Wirtschaft geschadet hat." Die Einigung sei voller Schlupflöcher und ändere nichts an den Geschäftsgebaren des Konzerns.

Beschließen aber möchten wir den Rückblick mit dem Geschäftsergebnis eines Unternehmens, das nicht zu den ganz Großen der IT-Welt gehört, aber durchaus einen guten Namen besitzt: Der britische Softwareanbieter Sage Group hat sich mit seiner kaufmännischen Standardsoftware auf kleine und mittelständische Unternehmen spezialisiert. Mit dieser Strategie segeln die Briten auf Erfolgskurs. Während viele Unternehmen massiv entlassen und Verluste schreiben, wächst der Umsatz von Sage um 14 Prozent gegenüber dem vorherigen Geschäftsjahr. Der operative Gewinn steigt von 201,2 Millionen auf 225 Millionen Euro - immerhin fast zwölf Prozent. Als letzte Meldung des Jahres 2002 doch nicht so schlecht?

Ansonsten gilt Elton Johns Refrain "I''m still standing" - und das ist wahrscheinlich auch im neuen Jahr noch das Beste, was man sich erhoffen kann.

Jan-Bernd Meyer, jbmeyer@computerwoche.de