Firmen suchen vor allem Bewerber unter 35

IT-Arbeitsmarkt: Vom Boom profitieren nur die Jüngeren

17.11.2000
MÜNCHEN - Pünktlich zur Systems wartete der Branchenverband Bitkom mit einer spektakulären Hochrechnung auf: In Westeuropa fehlen der IT-Branche 1,9 Millionen IT-Experten. Ein Mangel, von dem nicht alle Bewerber profitieren, wie der Eröffnungstag im Zentrum für Jobs & Karriere der COMPUTERWOCHE auf der Systems zeigte. CW-Bericht, Hans Königes und Alexandra Mesmer

Mit über 100 personalsuchenden Unternehmen als auch Ausstellern hat das Zentrum für Jobs & Karriere im dritten Jahr auf der Systems seinen Superlativ erreicht. Karrierechancen ohne Ende, wohin man blickt. Zu dieser Aufbruchstimmung schien die Einschätzung von IG-Metall-Vertreter Wolfgang Müller in der ersten Podiumsdiskussion des Tages nicht zu passen: "Das Jobparadies existiert nur für die unter 35-Jährigen, die über gefragtes Know-how wie UMTS, XML oder WAP verfügen. Was aber ist mit den älteren IT-Mitarbeitern, die kein aktuelles Wissen haben, weil sie die letzten zehn Jahre proprietäre Systeme verwaltet haben?" So sei die Politik von IT-Dienstleistern wie Siemens Business Service, die im nächsten Jahr 1000 neue Stellen schaffen, gleichzeitig aber 2000 Mitarbeiter "entsorgen" würden, kein Einzelfall.

Auch wenn sich die Vertreter von IBM und BMW gegen Müllers Wortwahl zur Wehr setzten, gaben sie doch indirekt zu, dass auch sie am liebsten 25- bis 30-jährige Bewerber einstellen. Dazu Wolfgang Ober, Leiter des Recruiting beim bayerischen Autohersteller: "Im Bereich Software-Engineering sind wir nicht bereit, Kompromisse zu machen, da wir hier auf das aktuelle Know-how der Mitarbeiter angewiesen sind." Juliane Wiemerslage, IBM-Geschäftsführerin und zuständig für den Bereich Personal, betonte zwar, dass ein großes Unternehmen neben der Innovationskraft von jungen Mitarbeitern auch erfahrene Leute mit Branchen- und Projektwissen brauche; Vorruhestandsregelungen kämen aber "hin und wieder" vor. Betroffene, die für Gewerkschafter Müller "entsorgte Mitarbeiter" sind, sieht die IBM-Geschäftsführerin als potenzielle Unternehmensgründer an, die sich mit der Abfindungssumme selbständig machen und als Zulieferer weiter für IBM arbeiten.

Für Müller war es ein offensichtlicher Widerspruch, dass die IT-Unternehmen einerseits über den Fachkräftemangel lamentieren, andererseits bezüglich der Qualifikationen und des Alters der Bewerber keine Abstriche machen wollen.

In seinen Augen müssten vor allem die großen Firmen umdenken, da sie die Trendsetter seien, an denen sich andere orientieren. Dass viele Firmen aber schon umgedacht haben, belegte Professor Rudolf Haggenmüller von der Softwareoffensive Bayern anhand einer aktuellen Umfrage des Verbandes der Softwareindustrie (VSI): Demnach sind 70 Prozent der Mitarbeiter in der IT-Branche so genannte Quereinsteiger, das heißt Nicht-Informatiker. Die Hälfte der Mitarbeiter sei über Schulungsmaßnahmen in den Job ge-kommen. Eine Lanze für die verstärkte Qualifizierung brach der bayerische Staatsminister Erwin Huber, der als Schirmherr das Zentrum für Jobs & Karriere eröffnete: "Angesichts der gewaltigen Jobprognosen für die IT-Branche müssen wir die Aus- und Fortbildung kräftig voranbringen." Hier seien Staat und Wirtschaft gleichermaßen gefordert.

Eine Herausforderung für die Unternehmen und ihre Personalabteilungen stellt aber auch die abnehmende Firmenloyalität der Beschäftigten dar, wie die zweite Podiumsdiskussion des Tages zum Thema "Jobhopping" zeigte. "Zweistellige Fluktuationsraten sind heute an der Tagesordnung", sagte beispielsweise Volker Jansen, Personalchef des Softwarehauses Softlab. "Jeder, der das Gegenteil behauptet, kennt seine Zahlen nicht", so der Münchner Manager weiter. Selbst der weltweit agierende Internet-Dienstleister Razorfish hatte dieser Tage stolz vermeldet, dass seine Fluktuationsrate "nur" 16 Prozent betrage.

Früher in der Old Economy galten solche Zahlen als höchst alarmierend und als Zeichen dafür, dass im Unternehmen einiges im Argen liegen muss. Heute werden sie als selbstverständlich hingenommen. Mehr noch: Bernd Engelien, Sprecher des Personaldienstleisters Career Company in Köln, versuchte die Runde zu trösten, indem er sagte, dass im Silicon Valley die Mitarbeiter pro Jahr mehrmals den Job wechselten und unter italienischen Ingenieuren die Fluktuationsrate 75 Prozent ausmache. Bei den deutschen dagegen seien es nur zehn Prozent.

Der Münchner Personalberater Jürgen Herget ging mit den Jobhoppern als denjenigen, die in erster Linie die hohen Fluktuationsraten zu verantworten haben, hart ins Gericht. Für ihn sind diese Mitarbeiter, die in drei Jahren vier- oder fünfmal den Job wechseln, Versager. Denn immer dann, wenn sie sich beweisen müssten, verließen sie das Unternehmen. So sehr ihm als Headhunter diese Entwicklung entgegenkommen könnte, so schwierig seien diese Art von Bewerber zu vemitteln, "weil sie sich in keinem Projekt durchgebissen haben". Eine Verweildauer von weniger als einem Jahr in einer Firma sei zu kurz, um sein Können unter Beweis zu stellen.

Softlab-Personalchef Jansen geht auf die Jobhopper pragmatisch zu. In Zeiten des großen Fachkräftemangels müsse man sich jeden Bewerber genau anschauen und nach den eventuellen Gründen eines häufigen Wechsels fragen. Er habe Verständnis für Kandidaten, die auf die Versprechungen von Internet-Startups hereingefallen sind und sich Hoffnungen gemacht haben, in diesen Firmen mit Aktienoptionen das große Geld zu verdienen. Jansen nimmt auch ehemalige Mitarbeiter wieder auf, die - nach einiger Zeit von der New Economy geheilt - erneut bei ihm anklopfen. Einziges Problem seien die harten Gehaltsverhandlungen, denn Sprünge von 30 bis 40 Prozent, die einige Beschäftigte mit ihrem früheren Wechsel gemacht haben, ist er nicht bereit zu finanzieren. Die Rückkehrer müssten sich dem Softlab-Einkommensrahmen wieder anpassen.

Das Geld ist nach Meinung von Helmut Fleischmann, Vorstandsvorsitzender des Münchner Softwaredienstleisters Brainforce, nicht der Grund, weshalb Mitarbeiter wechseln. Vielmehr haben die Attraktivität der neuen Aufgaben sowie die ausgelobte Position Vorrang. "Wir reden über unsere Unternehmenskultur, über die Soft facts und nur zum Schluss über das Gehalt." Deshalb sei es wichtig, sich im Markt als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren, pflichtet Softlab-Mann Jansen bei. Um die Fluktuation in den Griff zu bekommen, bemüht er sich um ein gutes Betriebsklima. Neueste Errungenschaft, auf die er stolz ist: Jeder Mitarbeiter hat sein eigenes Weiterbildungsbudget erhalten, um die viel zitierte Eigenverantwortlichkeit wahrnehmen zu können. Dadurch bekomme die Bindung an das Unternehmen eine neue Qualität, und Mitarbeiter erzählten gerne, wo sie beschäftigt seien.

Die abnehmende Firmenloyalität und gestiegene Bereitschaft, den Arbeitgeber zu wechseln, ist aber auch eine Frage des Alters. Headhunter Herget zog die Grenze bei 40 Jahren: "Wer älter ist, wechselt nicht mehr so häufig, da es für ihn zunehmend schwieriger wird, einen adäquaten Job zu finden." Vor diesem Hintergrund müssten sich viele Firmen eigentlich freuen, wenn sie einen älteren Mitarbeiter für sich gewinnen könnten, zumal sie dann nicht bangen müssten, ihn gleich nach einem Jahr oder noch schneller wieder zu verlieren.