Ist "State of the art" - Wissen unerläßlich?

04.08.1978

"Braucht der EDV-Chef eine kaufmännische Ausbildung?", hieß das "Thema der (vergangenen) Woche". Die Antworten rückten den EDV-Chef weg vom Rechenzentrum in die Nähe des Manager-Büros, in dem er sich "betriebswirtschaftlich-organisatorischen und ökonomischen Entscheidungsprozessen stellen muß". Es schien den Interviewten sogar unvorstellbar, "daß ein reiner Pragmatiker die vielfältigen Probleme bewältigen kann, die heute auf den EDV-Chef zukommen". Ob "Bits und Bytes und Boxes" (neue Hardware- und Software-Technologien) vernachlässigt werden könnten, wollten wir diesmal wissen. Die von uns befragten EDV-Chefs sind sich einig: "Der EDV-Leiter muß nicht nur den ,state of the art', sondern sogar die Prognosen für die nächsten fünf Jahre ständig im Auge behalten. "Warnt das Trio: "...gefährlich, wenn er es nicht tut."

Gottfried Hailer,

Leiter der Datenverarbeitung Linde AG, Werksgruppe München TVT

Die Frage kann nur in Abhängigkeit der Aufgabenstellung des EDV-Leiters gesehen werden, die wiederum von der Größe des Unternehmens und vom Umfang der Komplexität der Anwendung abhängt. Gerade bei EDV-Chefs, die größere EDV-Installationen betreuen müssen, hat es in den letzten Jahren eine Verschiebung seiner Tätigkeit in Richtung Management gegeben. Seine Aufgabe bezieht sich heute mehr auf Funktionen, die mit der Führung der Abteilung selbst - also des Rechenzentrums - und der Anwendungsentwicklung zusammenhängen. Die Tätigkeit des EDV-Chefs umfaßt heute zudem das Projekt-Management, bei dem er vermitteln muß zwischen Fachabteilungen untereinander sowie zwischen Fachabteilung und EDV. Sicher ist hier auch die Integration der organisatorischen Systeme zu sehen. Ich halte es jedoch für gefährlich, wenn sich der EDV-Leiter

nicht mehr um Hard- und Software-Entwicklungen kümmert. Nach wie vor ist die eingesetzte Hardware und Systemsoftware ein wichtiger Kostenfaktor in der Datenverarbeitung, auch wenn in diesem Bereich die Kosten sinken, während die Personalkosten steigen.

Ich meine, der EDV-Leiter sollte jedoch keine eigenen Analysen und Untersuchungen auf diesem Sektor durchführen, sondern das seinen Spezialisten und dem RZ-Leiter überlassen. Er sollte sich aber soweit damit beschäftigen, um vorgeschlagene Hard- und Systemsoftware-Installationen im Haus fachkundig beurteilen zu können. Die Quellen seines Wissens sind Literaturstudium, Erfahrungsaustausch mit anderen Kollegen, Diskussionen mit Kollegen der eigenen Abteilung. Und dafür muß er etwa 10 bis 15 Prozent seiner Zeit "opfern".

Wolfgang B. Herrmann,

Leiter der Datenverarbeitung KSB - Klein, Schanzlin & Bekker AG, Frankenthal

Die Anforderungen an das Wissen eines EDV-Leiters sind meines Erachtens dreifach überdurchschnittlich:

1. Er muß über ein umfassendes betriebswirtschaftliches und organisatorisches Wissen verfügen, um die Schlüsselrolle, die ihm bei der Rationalisierung der Verwaltungs- und Betriebsabläufe in einem Unternehmen mit Datenverarbeitung zufällt, wirkungsvoll ausfüllen zu können. Dieses Wissen muß um so umfassender sein, je integrierter die DV-Anwendungen sind, die er zu betreuen hat und die sich letztlich auf alle Verwaltungs- und Betriebsbereiche beziehen, die in "seinem" Unternehmen vorkommen.

2. Er muß über ein umfassendes Wissen in Bezug auf die Einsatzmöglichkeiten der DV-Betriebsmittel (Hardware, Software) und DV-Arbeitsmethoden (zum Beispiel Analysetechnik, Programmiertechnik) verfügen, denn hier entscheidet sich die Wirtschaftlichkeit des DV-Einsatzes, für den er schließlich verantwortlich ist. Hier erleben wir zur Zeit mit dem Einsatz von Dialog-Anwendungen einen Entwicklungssprung, der eine Erneuerung des DV-Wissens von Grund auf erfordert.

3. Er muß über hervorragende Führungs- und Management-Fähigkeiten verfügen, um zum einen die Vielzahl von Spezialisten, auf die er dringend angewiesen ist, die aber in der Regel sehr individualistisch sind, zielgerichtet führen zu können und zum anderen die Vielzahl von DV-Projekten, die von seinen Mitarbeitern bearbeitet werden, termingerecht steuern zu können. Diese Anforderung nimmt in dem Maße zu, in dem sich die Anzahl seiner Mitarbeiter vergrößert.

Die Beschaffung und ständige Erweiterung und Erneuerung dieses dreifachen Berufswissens erfordert sehr viel Zeit und Eigeninitiative und vor allen Dingen Begeisterung für die Sache. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein DV-Leiter ohne dieses Feuer der Begeisterung in der Lage ist, langfristig den Streß zu ertragen, der dadurch entsteht, daß sich durch die ständigen Änderungen auf dem DV-Sektor immer wieder in kurzen Abständen sein Wissenshorizont verkürzt.

Ich kann mir jedoch auch nicht vorstellen, daß ein DV-Leiter ohne das betriebswirtschaftliche Wissen oder ohne das DV-Wissen auskommt. Im einen Fall wird er zum Spielball seiner DV-Benutzer, im anderen Fall zum Spielball seiner eigenen Mitarbeiter. Und den Streß, der dadurch entsteht, daß man verantworten muß, was man nicht versteht, empfinde ich persönlich als schwerwiegender als die ständige Infragestellung des eigenen Know-hows.

Wenn nun dieses dreifache Berufswissen vorhanden ist, reicht dies meines Erachtens immer noch nicht aus, um einen guten DV-Leiter abzugeben. Denn wohl nirgendwo ist der Abstand zwischen Theorie und Praxis so groß wie in der Datenverarbeitung. Das theoretische Wissen muß eingebettet sein in einen erprobten Pragmatismus. Den dazu erforderlichen Realitätssinn gewinnt man nur durch langjährige - zum Teil schmerzliche - Berufserfahrung. Nur wer mehrere größere DV-Projekte erfolgreich durchgestanden hat, verfügt über die Berechtigung, bei schwerwiegenden DV-Entscheidungen mitzureden.

Es ist interessant zu sehen, daß die DV-Realisten von Außenstehenden oder DV-Theoretikern oft als Pessimisten abgestempelt werden. Meine Beobachtungen sagen mir jedoch, daß es meistens jedoch die sogenannten Pessimisten sind, denen es gelungen ist, ihren DV-Verantwortungsbereich in Ordnung zu halten. Aus den obengenannten Überlegungen heraus bin ich der Auffassung, daß ein angehender DV-Leiter eine breite betriebswirtschaftliche/organisatorische Grundausbildung mitbringen muß.

Weiterhin sollte er über eine langjährige (mindestens fünf Jahre) Berufserfahrung als Programmierer, Systemanalytiker/DV-Organisator und Projektleiter verfügen. Er muß in seiner neuen Tätigkeit Gelegenheit haben, mindestens 20 Prozent seiner Zeit für die Erneuerung seines in der Praxis erworbenen DV-Wissens einzusetzen. Auf seine Führungs- und Management-Aufgaben sollte er sich durch den Besuch entsprechender Seminare vorbereiten.

Roland O. Ücker,

Abteilungsdirektor EDV-Organisation Kreditanstalt für Wiederaufbau, Frankfurt

Eine Stellungnahme zu dieser Frage muß die Größenordnung des EDV-Verantwortungsbereiches berücksichtigen: Der EDV-Leiter, der für die Planung von Organisationskonzepten, für die Systemanalyse und Programmierung sowie für das Rechenzentrum einer mittleren EDV-Abteilung verantwortlich ist, muß seinen Überblick über die verfügbare Hard- und Softwaretechnologie und insbesondere über die Entwicklung der nächsten fünf Jahre ständig auf dem neuesten Stand halten.

Ich habe für diese Ansicht verschiedene Gründe. Die Organisationsentwicklung, das heißt die Initiierung von EDV-Projekten zum Beispiel auf dem Gebiet der EDV-unterstützten, möglichst aktenlosen Kreditbearbeitung oder der mit der Sachbearbeitung integrierten automatisierten Textverarbeitung im Online-Betrieb, setzt umfassende Kenntnisse der Hardware- und Softwaremöglichkeiten voraus. Derartige komplexe Projekte benötigen für das Systemdesign, für die Programmierung und die Implementierung etwa drei bis fünf Jahre Entwicklungszeit.

Bereits in der vorangehenden Phase der Projektierung des Organisationsmodells muß die EDV zum Beispiel die Speicher- und Zugriffsmöglichkeiten, die erforderlichen Responsezeiten etc. berücksichtigen. Ohne praktische Erfahrungen und eine eingehende Orientierung über die künftige Datenbank- und Textverarbeitungssoftware und die Leistungsfähigkeit der Betriebssysteme läßt die Leitung die Entwicklung zukunftsgerichteter Organisationsmodelle meines Erachtens nicht kompetent durchführen.

Die Kosten derartiger Projekte sind so hoch, daß hard- und softwaretechnische oder kostenmäßige Fehleinschätzungen von vorneherein minimiert werden müssen. Ähnliche Planungs- und Überwachungsprobleme hat der EDV-Leiter bei der Hard- und Software sowie bei der Kostenplanung für das Rechenzentrum und für die Schulung.

Zur Zeit setzen wir die IBM 370/148 ein. 1979 ist die Installation der IBM 3031 mit entsprechendem Releasewechsel des IMS und OS/VS1 beziehungsweise MVS vorgesehen. Den heute initiierten Online-Organisationskonzepten legen wir die Kosten und Leistungserwartungen der X-80er Modelle zugrunde und - sowie absehbar - auch die Leistungserwartungen für die Software, die IMS ablösen dürfte.

Die Hard- und Software-Einsatzzeiten haben sich in den letzten zehn Jahren ständig verkürzt. Die System-, Datenbank- und Textverarbeitungssoftware wird zugleich zunehmend komplexer und das Studium aufwendiger. Daber muß der EDV-Leiter sich ein sehr begrenztes Zeitbudget für Know-how-update setzen und sorgfältig aus den Informationsmöglichkeiten durch Hersteller, Fachliteratur, gelegentlichen Kongreßbesuchen und aus dem Erfahrungsaustausch mit Kollegen und qualifizierten EDV-Beratern selektieren. Man kann zum Beispiel aus einigen amerikanischen Fachzeitschriften Anhaltspunkte erhalten für Entwicklungen, die oft mit einem Timelag von zwei bis fünf Jahren auch in Deutschland aktuell werden.

Für die konkrete Softwareauswahl und Detailprüfung allerdings reicht die Zeit nicht mehr. Interessante Softwareangebote werden daher in der Regel von Spezialisten der eigenen Systemprogrammierung und gelegentlich unter Mitwirkung von Fachberatern im Detail gesucht und getestet.