ISO 9241 Teil 10 als Leitlinie fuer SW-Entwicklung und -Berwertung GUIs sind noch weit entfernt von einer optimalen Beurteilung Von Jochen Pruemper*

18.06.1993

Mit dem Richtlinienerlass des Rates der Europaeischen Gemeinschaften "ueber die Mindestvorschriften bezueglich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit mit Bildschirmgeraeten" wurde eine neue Phase der Software-Ergonomie eingelaeutet. Sie setzt verbindliche Massstaebe fuer die Software-Entwicklung und -Bewertung. Ein Fragebogen (ISO 9241/10) leistet hierbei wertvolle Hilfe.

Entsprechend dieser sogenannten "Bildschirm-Richtlinie" hat der Arbeitgeber bezueglich der "Mensch-Maschine-Schnittstelle" den folgenden Mindestvorschriften bei Konzipierung, Auswahl, Erwerb und Aenderung von Software sowie bei der Gestaltung von Taetigkeiten Rechnung zu tragen:

a) Die Software muss der auszufuehrenden Taetigkeit angepasst sein.

b) Die Software muss benutzerfreundlich sein und gegebenenfalls dem Kenntnis- und Erfahrungsstand des Benutzers angepasst werden koennen; ohne Wissen des Arbeitnehmers darf keinerlei Vorrichtung zur quantitativen oder qualitativen Kontrolle verwendet werden.

c) Die Systeme muessen den Arbeitnehmern Angaben ueber die jeweiligen Ablaeufe

bieten.

d) Die Grundsaetze der Ergonomie sind insbesondere auf die Verarbeitung von Informationen durch den Menschen anzuwenden.

Fuer erstmals in Betrieb genommene Arbeitsplaetze gilt diese Richtline bereits seit dem 31. Dezember 1992; fuer bereits in Betrieb befindliche Arbeitsplaetze muessen die entsprechenden Mindestvorschriften bis spaetestens 31. Dezember 1996 erfuellt sein.

ISO 9241/10: Grundsaetze

der Dialoggestaltung

Da die Richtlinie ohne weitere Interpretation in der Praxis kaum anwendbar ist, bemueht sich seit einigen Jahren die "Internationale Organisation fuer Standardisierung" - kurz: ISO - um die Erarbeitung internationaler Software-ergonomischer Normen.

Internationale Normen werden Schritt fuer Schritt nationale Normen - also beispielsweise die fuer die Software-Ergonomie relevanten Teile von DIN 66 234 - abloesen. Darueber hinaus wird ihnen aufgrund des Gesetzesranges ein deutlich hoeherer Stellenwert zukommen.

Entscheidend fuer die "Mensch-Maschine-Schnittstelle" ist die Normenreihe ISO 9241 "Ergonomische Anforderungen an Buerotaetigkeiten mit Bildschirmgeraeten", die als europaeische Norm unter CEN 29 241 erscheint.

Eine zentrale Stellung nimmt in der Normenreihe ISO 9241 der Teil 10 "Grundsaetze der Dialoggestaltung" ein, da dieser uebergeordnete, allgemeine Kriterien enthaelt, die unabhaengig von einer bestimmten Dialogtechnik bestimmt werden koennen. Es handelt sich dabei um die sieben Grundsaetze

- Aufgabenangemessenheit,

- Selbstbeschreibungsfaehig keit,

- Steuerbarkeit,

- Erwartungskonformitaet,

- Fehlerrobustheit,

- Individualisierbarkeit und

- Lernfoerderlichkeit.

Die Abbildung auf Seite 29 zeigt welche Anforderungen entsprechend der ISO 9241 Teil 10 an einen benutzerfreundlichen Mensch-Computer-Dialog gestellt werden.

Diese Grundsaetze koennen als allgemeine Leitlinien bei der Gestaltung und Bewertung von Dialogsystem angewandt werden. Die Art und Weise, in der die einzelnen Kriterien umgesetzt werden, haengen von den Merkmalen des potentiellen Benutzerkreises, den Arbeitsaufgaben und der Arbeitsumgebung ab. ISO 9241/10 fordert somit ausdruecklich eine benutzerorientierte Software-Entwicklungs- und Bewertungsstrategie. Damit begnuegt sich ISO 9241/10 nicht nur mit der Empfehlung, bei der Software-Entwicklung ergonomische Richtlininen zu beruecksichtigen, sondern formuliert gleichzeitig den Anspruch, dass die Einhaltung der entsprechenden Grundsaetze von den potentiellen Benutzern ueberpruefbar ist.

Um zu analysieren, ob ein Dialogsystem den sieben Grundsaetzen der Dialoggestaltung gerecht wird, muessen die entsprechenden Kriterien zunaechst ueber ein Beurteilungsverfahren operationalisiert werden. Da in ISO 9241/10 eine ausdrueckliche Benutzerorientierung gefordert wird, muss dieses Beurteilungsverfahren so gestaltet sein, dass die sieben Kriterien von ISO 9241/10 auch zuverlaessig von Benutzern beurteilt werden koennen, die zwar keine Experten fuer Software-Ergonomie, dafuer aber um so mehr Kenner der Arbeitsaufgaben und der Arbeitsumgebung sind. Gleichzeitig muss ein derartiges Beurteilungsverfahren so oekonomisch einsetzbar sein, dass auch einem groesseren Kreis von Benutzern die Moeglichkeit geboten werden kann, ihre Beurteilungen abzugeben.

Vor diesem Hintergrund ist die Fragebogenmethode gut geeignet, da ihr Vorteil in einer wenig aufwendigen und leichten Durchfuehrung liegt.

Zu diesem Zeck wurde ein Fragebogen entwickelt, der die sieben Grundsaetze der ISO 9241/10 ueber insgesamt 35 Fragen messbar macht. Damit die Benutzer angeregt werden, differenziert ueber den Sachverhalt nachzudenken, und sie nicht von vorneherein durch Vorgabe einer Antwortrichtung beeinflusst werden, wurde bei der Fragebogenkonstruktion ein siebenstufiges, bipolares Frageformat, mit einem Antwortschema von o - o bis iii gewaehlt. Da das Beurteilungsinstrument sich eng an ISO 9241/10 orientiert, erhielt es den Namen Isonorm 9241/10. Abbildung 2 liefert ein Beispiel fuer die graphische Darstellung eines Items aus dem Fragebogen, Abbildung 3 exemplarische Operationalisierungen fuer die einzelnen Grundsaetze.

Bislang unterzogen bereits 350 Benutzer 66 verschiedene Software- Programme anhand des Fragebogens einer Kritik. Dabei beurteilten 106 Benutzer 22 verschiedene Software-Programme mit grafischer und 244 Benutzer 44 verschiedene Software-Programme ohne grafische Benutzungsoberflaeche. Einen Vergleich dieser beiden Arten von Benutzungsoberflaechen anhand des Fragebogens liefert Abbildung auf Seite 29.

Dabei zeigt sich, dass die Benutzerfreundlichkeit bei den Software-Programmen mit grafischer Benutzungsoberflaeche in allen sieben Grundsaetzen von ISO 9241/10 besser beurteilt wird als bei den Software-Programmen ohne einer solchen Oberflaeche. Aber auch die Software-Programme mit grafischer Benutzungsoberflaeche sind in den Augen der befragten Benutzer noch hinreichend weit von einer optimalen Beurteilung entfernt. Die groessten Defizite weisen die Software-Programme ohne grafische Benutzungsoberflaeche hinsichtlich der Individualisierbarkeit und die Software-Programme mit grafischer Benutzungsoberflaeche in puncto Fehlerrobustheit auf.

Neben der Bewertung von Dialogsystemen anhand von ISO 9241/10 fordert die Richtlinie jedoch auch den Einzug in die Software- Entwicklung. Wie dies geschehen kann, soll an einem praktischen Beispiel erlaeutert werden. Beim Entwickeln einer Software fuer das mittelstaendische Verlagswesen wurde der Fragebogen ISONORM 9241/10 in einer Benutzergruppensitzung eingesetzt, um am Anfang des Designprozesses des Teilmoduls "Adresse" Softwareentwickler und Endbenutzer miteinander ins Gespraech zu bringen, bestehende Schwachstellen einer alten Loesung zu analysieren und allererste Anforderungen fuer die neue Software zu definieren. Im Vorfeld wurden dazu 42 Benutzer aus drei Verlagen gebeten, das Adressmodul, mit dem sie bislang arbeiteten, anhand des Verfahrens zu beurteilen.

Den sieben Benutzern, die an dem Benutzergruppentreffen teilnahmen, wurden die Ergebnisse dieser Erhebung als Mittelwerte auf Itemebene praesentiert und mittels der Technik der Kartenfrage wurden zu jedem Item Beispiele fuer Verletzungen der sieben Grundsaetze von ISO 9241/10 erfragt. Diese Aeusserungen wurden anschliessend im Rahmen einer Gruppendiskussion aufgearbeitet und praezisiert. Dabei stand den Benutzern die von ihnen beurteilte Software zur Verfuegung, sodass sie die Moeglichkeit hatten, die Beurteilungen den Software-Entwicklern anhand konkreter Beispiele zu erlaeutern. Das Ergebnis dieser Verknuepfung von Fragebogenmethode und visualisierter Diskussion war letztendlich eine Fuelle von konkreten Hinweisen auf Schwachstellen und auf Verbesserungsmoeglichkeiten, die die ISONORM 9241/10- Fragebogenerhebung bereicherte.

Besonders die zukuenftige Bedeutung Software-ergonomischer Normen wird heute von den meisten Entscheidungstraegern noch weitestgehend unterschaetzt. Dabei koennen sie einen sehr wertvollen Beitrag sowohl zur Software-Entwicklung als auch -Bewertung leisten. Die Kunst liegt dabei allerdings in ihrer praxisnahen Umsetzung.

*Jochen Pruemper ist arbeitswissenschaftlicher Projektleiter fuer das vom Bundesministerium fuer Forschung und Technologie gefoerderte Software-Entwicklungsprojekt "Verlag 2000" bei der Data Train GmbH, Berlin (eine Tochter der SOBA GmbH Unternehmensberatung, Bad Honnef).