Noch fehlen wichtige Leistungsmerkmalen

IP-Telefonie wird in Unternehmen salonfähig

03.11.2000
Die IP-Telefonie ist auf dem Vormarsch. Wer glaubt, die Technologie sei noch nicht reif für die Praxis, der irrt: Voice over IP (VoIP) erfreut sich bei deutschen Anwendern im LAN, aber auch in der standortübergreifenden Telefonie wachsender Beliebtheit. Selbst Carrier beginnen, ihre Netze auf das Verfahren umzustellen. CW-Bericht, Martin Seiler

Seit Jahren feiert die Industrie VoIP als eine Technologie, die die TK-Welt revolutionieren werde. Dank dem Internet Protocol (IP) sollen Sprach- und Datenwelt verschmelzen. So weit die Theorie. In der Praxis fand der Transport von Sprache über IP bislang fast ausschließlich unter Laborbedingungen statt. Doch nun kommt Leben in die Sache: Immer mehr Anwender beginnen damit, VoIP tatsächlich in ihren Netzen zu verwenden, um praktische Erfahrungen zu sammeln.

Im Wesentlichen kristallisieren sich dabei drei Einsatzgebiete heraus. Im lokalen Bereich innerhalb von Arbeitsgruppen dient VoIP dazu, über das LAN zu telefonieren und von einer klassischen TK-Anlage auf eine günstigere Server-basierte PBX (private Branch Exchange = private Nebenstellenanlage) umzustellen. Andere Unternehmen profitieren von VoIP im Weitverkehrsbereich, indem sie mehrere Standorte mit Hilfe dieser Technologie verbinden und so TK-Gebühren einsparen. Schließlich fangen auch Carrier an, ihre Netze auf IP umzustellen.

Erfahrung mit einer VoIP-Lösung sammelt beispielweise die Q:Marketing AG in Mülheim an der Ruhr, die Mitte dieses Jahres auf die IP-Telefonie umgestiegen ist. Die Firma entschied sich für einen radikalen Umbau und musterte ihre alte TK-Umgebung komplett aus. Jetzt telefonieren die Mitarbeiter überwiegend mit auf den PCs installierten "Swyxit"-Software-Clients des Dortmunder Herstellers Swyx. Herzstück der Anlage ist dessen "Swyx Server", der unter Windows 2000 läuft und alle Verbindungen verwaltet. Außerdem befindet sich auf diesem Server ein Gateway, das über eine Primärmultiplex-ISDN-Karte mit dem Telekom-Netz verbunden ist. So können 30 Mitarbeiter gleichzeitig nach außen telefonieren. Um sicherzustellen, dass es auch bei einer starken Auslastung des Netzes nicht zu Beeinträchtigungen des Sprachverkehrs kommt, werden die VoIP-Daten priorisiert. Dafür, dass die Sprache auch wirklich Vorfahrt hat, sorgt das von Windows 2000 unterstützte Protokoll 802.1p. Der Geschäftsführer der Agentur, Frank Tinla, betont, dass dies wichtig ist, weil im Unternehmen auch sehr große Druckdateien übertragen werden, die "das Netz schon zumachen können". Der Umstieg auf die VoIP-Lösung sparte dem Unternehmen viel Geld: Die Swyx-Lösung kostete laut Tinla ungefähr 30000 Mark.

Eine klassische "Hicom-E-300"-Lösung von Siemens wäre auf etwa 100000 Mark gekommen, die IP-fähige Version der Siemens-Anlage hätte sogar das Dreifache kosten sollen. Insgesamt ist der Manager zufrieden mit der VoIP-Lösung, Beanstandungen gebe es keine. Lediglich Gruppenfunktionen, etwa um Telefonkonferenzen abzuhalten, fehlen Tinla noch.

Ebenfalls im LAN nutzt die RAG Informatik in Gelsenkirchen VoIP. Das Unternehmen hat eine neue Abteilung mit der Technologie ausgestattet. "Uns ging es dabei nicht darum, Kosten zu sparen, sondern eine Basis zu schaffen, um in Zukunft intelligente Applikationen einsetzen zu können, die die Vorteile von Sprach- und Datenübertragung miteinander verbinden", erläutert Ralf Holzapfel, Leiter Produkt-Management Corporate Networks. Bis dahin sei es zwar noch ein langer Weg, aber der erste Schritt sei nun getan.

Mehr als 150 Arbeitsplätze hat der IT-Dienstleister mit Cisco-IP-Tischtelefonen der Reihe "7960" ausgestattet. Zentrale Komponente in diesem Bereich ist Ciscos "Call-Manager", in dem alle Gespräche zusammenlaufen. Dieser Server ist redundant ausgelegt. An der Sprachqualität hat die RAG Informatik nichts auszusetzen. Allerdings räumt Holzapfel - wie schon Tinla von Q:Marketing - ein, dass ein paar Dienstleistungsmerkmale der klassischen TK-Welt (etwa Sekretariatsfunktionen) gegenwärtig noch nicht verfügbar sind. Auch die Konfiguration sei nicht so einfach, wie es die Hersteller manchmal glauben machen wollen. Ferner bemängelt der Manager, das Konfigurieren der Mailboxen sei ziemlich kompliziert.

VoIP verbindet StandorteAuf eine etwas andere Art nutzt das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) die IP-Telefonie. Das Unternehmen setzt VoIP ein, um zwölf seiner 14 Standorte bundesweit miteinander zu verbinden. Die lokalen Telefonate laufen ganz normal über das Telefonnetz, zur Übertragung über die Weitverkehrsstrecke werden die Sprachdaten jedoch in IP-Pakete umgewandelt. Klaus Bernhardt, Leiter Entwicklung und Competence-Center, begründet den Einsatz von VoIP: "Da wir bereits ein Datennetz hatten, lag es für uns nahe, darüber auch Sprache zu transportieren und so die Standorte zu verbinden."

Die Umsetzung erfolgt auf Grundlage einer "Hicom 300" von Siemens. Ein "Vanguard" von Motorola wandelt sowohl Sprache als auch das D-Kanal-Protokoll in IP-Pakete um. An der Gegenstelle werden die Informationen wieder in das klassische TK-Format umgesetzt. "Die Daten des D-Kanals sauber zu übertragen hat uns eine Menge Schweiß gekostet", erinnert sich Bernhardt. Außerdem musste ein Verfahren gefunden werden, um die Sprachdaten zu priorisieren. Die Lösung war, ein eigenes Ethernet-Segment mit den VoIP-Gateways zu bilden. Dieses Subnetz ist mit dem WAN-Router, einem "Cisco 7513", verbunden, der es gegenüber den Daten bevorzugt behandelt. Pro Standort können 20 Nutzer gleichzeitig auf diese Weise telefonieren.

Den größten Vorzug dieser Lösung sieht Bernhardt im Sparpotenzial. Nach Angaben des Managers fielen beim DLR früher pro Jahr etwa 420000 Mark für innerbetriebliche Gespräche an. Die Anschaffungskosten für die neuen VoIP-Gateways lagen unter diesem Betrag, so dass sich der Umstieg innerhalb eines Jahres amortisiert hat. Pläne für VoIP im LAN gibt es derzeit noch nicht, weil auch aus Sicht von Bernhardt die Leistungsmerkmale der IP-Telefonie noch nicht an die der klassischen Telefonie heranreichen.

Der ADAC nutzt VoIP ähnlich wie das DLR. Telefonate zwischen mehreren bayerischen Standorten werden - in IP-Pakete verpackt - über vorhandene Datenleitungen kostengünstig transportiert. Das Unternehmen nutzt Cisco-Router, um die Verbindungen aufzubauen. Laut Ulrich Huber, Leiter Telekommunikationstechnik beim ADAC, profitiert davon vor allem das Call-Center. "Am Standort München eingehende Anrufe werden bei Bedarf über die VoIP-Strecke nach Passau weitergeleitet", erklärt der Manager. Die Kunden des auf Basis der Computer-Telephony-Integration- (CTI-)Plattform "Genesys" sowie eigener Anwendungen geschaffenen virtuellen Call-Centers bemerken nicht, dass ihr Anruf über VoIP geführt wird.

Den Einsatz der IP-Telefonie im LAN hat der ADAC zwar getestet, von einer Migration aber vorerst Abstand genommen. "Wenn man ein funktionierendes System hat, dann rechnet sich die Ablösung von 3000 Nebenstellen durch IP-Telefone einfach nicht", erklärt Huber. Außerdem bemängelt der Manager, dass IP-Telefonsysteme momentan noch nicht die gleichen Leistungsmerkmale bieten wie eine klassische TK-Anlage. Vor allem Gruppenfunktionen, etwa die Möglichkeit, Chef-Sekretärinnen-Konfigurationen zu erstellen, vermisst er. Die beim Test gewonnenen Erkenntnisse will der ADAC aber beim Aufbau neuer Standorte berücksichtigen.

Doch es sind nicht nur Unternehmen, die die Vorteile von VoIP entdecken. Auch Carrier beginnen, ihre Netze auf diese Technologie umzurüsten. So hat Cable & Wireless (C&W) unlängst die Absicht verkündet, bis 2003 die bisherige leitungsvermittelte Infrastruktur auf ein komplett VoIP-basiertes Netz umzustellen. Die Technik für das über einen Zeitraum von zehn Jahren laufende Projekt liefert Nortel.

Interessante Beispiele in diese Richtung finden sich auch hierzulande. In Eberswalde im Bundesland Brandenburg unterhält die Telta Citynetz Eberswalde GmbH, ein Tochterunternehmen der Stadtwerke Eberswalde GmbH, ein zirka 47 Kilometer langes Glasfasernetz. Ursprünglich bot Telta auf Basis von Fast Ethernet den Unternehmen und Bürgern der Region Internet-Dienste an. Zusammen mit einem Austausch der aktiven Komponenten (die ursprünglichen Switches von Hewlett-Packard wurden durch Modelle von Nbase ersetzt) erfolgte der Umstieg auf Gigabit Ethernet. Wie Telta-Geschäftsführer Ulf Kartzmareck berichtet, ist das Unternehmen inzwischen aber nicht mehr nur als ISP tätig, sondern besitzt auch eine Lizenz der Klasse 4, die zum Transport von Sprache berechtigt.

Zur Übertragung der Sprache in seinem Netz setzt der City-Carrier VoIP ein. So ist innerhalb der Infrastruktur für die Sprachdaten ein eigenes virtuelles LAN (V-LAN) definiert. Dadurch soll sichergestellt werden, dass es beim gleichzeitigen Transport von Sprache, "reinen" Daten und dem ebenfalls über die Glasfaser übermittelten Kabelfernsehangebot nicht zu Beeinträchtigungen der Telefonate kommt. In jedem Haushalt steht ein spezieller Hub, der den Kunden neben dem Sprachanschluss auch einen Full-Duplex-Ethernet-Port mit 100 Mbit/s bietet. Der Hub codiert die Sprachinformationen und verpackt sie für den Transport in IP-Pakete. Das zentrale Management von Rufnummern und Gesprächen übernimmt der "Gatekeeper" der Firma Tedas. Kartzmareck zufolge setzt das Unternehmen auf "Iswitch"-Produkte der Teles AG. Diese sind mit Spezialmodulen bestückt, die jeweils 120 Gespräche ermöglichen.

Der Manager räumt ein, dass das Projekt doch etwas lange dauerte. Bis die für VoIP typischen Merkmale wie Hall oder Aussetzer aufgrund von verlorenen Datenpaketen beseitigt waren, "mussten wir einige Zeit kämpfen." Inzwischen sei die Resonanz der Kunden aber sehr positiv. 300 Haushalte sind bereits auf diese Weise angeschlossen, bis Jahresende sollen weitere 500 dazukommen.

Im Markt für VoIP steckt einige Dynamik. Obwohl die beschriebenen Anwendungen nur einen Ausschnitt dessen darstellen, was derzeit in Richtung IP-Telefonie in Deutschland geschieht, so zeigen sie doch: Es gibt kostengünstige Alternativen zu den proprietären TK-Anlagen der etablierten Player.

Was ist VoIP?Voice over IP - kurz VoIP - bezeichnet die Übertragung von Sprache über das Internet Protocol (IP). Im Gegensatz zur traditionellen leitungsvermittelten Übertragung wird dabei für ein Gespräch keine dedizierte Verbindung für die komplette Dauer der Kommunikation geschaltet. Bandbreite wird nur dann benötigt, wenn auch tatsächlich gesprochen wird.

Die Übermittlung der Sprache erfolgt dabei in Form von Datenpaketen. Zu diesem Zweck muss ein digitaler Signalprozessor (DSP) die Sprache zunächst kodieren. Komprimierungsverfahren sollen dafür sorgen, dass so wenig Bandbreite wie möglich beansprucht wird. So ist es etwa mit dem von der International Telecommunication Union (ITU) festgelegten Verfahren G.729 möglich, Sprachsignale so zu verdichten, dass für die Übertragung lediglich 8 Kbit/s benötigt werden. Dennoch kann es bei starker Auslastung des Netzes passieren, dass einzelne Pakete verloren gehen, was zu Aussetzern bei der Übertragung führt. Durch spezielle Verfahren lassen sich diese störenden Effekte jedoch verringern. Trotzdem müssen bei VoIP Techniken im Netz implementiert werden, die die bevorzugte Behandlung der Sprache sicherstellen. Hersteller lösen dieses Problem, indem sie proprietäre Methoden verwenden oder auf Standards wie das Resource Reservation Protocol (RSVP) zurückgreifen.

Ein Vorteil von VoIP besteht darin, dass es den Einsatz von billigeren, Server-basierten TK-Anlagen ermöglicht. Dabei übernimmt eine eigens dafür entwickelte Software - in der Regel auf Basis eines Standard-Betriebssystems wie Windows NT oder Windows 2000 - die Funktionen einer klassischen Nebenstellenanlage (zum Beispiel Herstellen oder Beenden von Verbindungen oder Rufnummernverwaltung). Vertraute Leistungsmerkmale der Telefonie werden dabei auf IP-Basis nachgebildet. Die für den Sprachbetrieb erforderliche hohe Verfügbarkeit kann durch den redundanten Betrieb mehrerer solcher Server realisiert werden.

IP-Telefone gibt es als reine Softwarelösungen oder als dedizierte Tischgeräte. In der Soft-Variante macht ein Software-Client aus dem PC des Mitarbeiters (der dafür mit Soundkarte, Lautsprecher und Mikrofon ausgestattet sein muss) ein vollwertiges Endgerät. IP-Tischtelefone besitzen ein eigenes Betriebssystem, können aber auch mit dem PC verbunden werden. Sie sind den klassischen Telefonen sehr ähnlich, werden aber im Gegensatz zu diesen direkt an das LAN angeschlossen.

VoIP - eine Auswahl der Player

3Com: Soft-PBX, IP-Telefone.

Info unter http://www.3com.de/produkte/lan_telefonie/nbx100.shtml

Alcatel: IP-fähige PBX, IP-Telefone.

Info unter http://www.alcatel.de/telecom/bsd/voice/a4400.htm

Cisco: IP-Telefone, Soft-PBX, Gateways, Multi-Service-Router.

Info unter http://www.cisco.com/warp/public/752/ds/german/iptel.html

Clarent: VoIP-Gateways, Soft-PBX.

Info unter http://www.clarent.com/products/enterprise

Datus: IP-Telefone, Gateways.

Info unter http://www.datus.de/de/02.html

Lucent: Gateways, Switches, Server.

Info unter http://www.lucent.de

Motorola: Multi-Service-Router.

Info unter http://www.motorola.de/ing/zielgruppe/grossunternehmen.shtml

Nortel: Gateways, IP-PBX, Switches.

Info unter http://www.nortelnetworks.com/solutions/enterprise/data/unified.html

Siemens: IP-fähige TK-Anlagen, Soft-PBX, IP-Telefone, Switches, Gateways.

Info unter anderem unter http://www.ic.siemens.com/CDA/Site/pss/1,1294,208500-0-999,00.html

Swyx: Soft-PBX, IP-Telefone, Gateways.

Info unter http://www.swyx.de/swyxware/index.html

Tedas: Soft-PBX, IP-Telefone, Gateway.

Info unter http://www.tedas.de/htmlger/produkte.html