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Invidualsoftware trotzt den "Modewellen" der IT

21.02.2000
Interview mit Ernst Denert, SD&M AG

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Ernst Denert leitet das Softwarehaus SD&M AG und ist Honorarprofessor an der Technischen Universität München. Sein Unternehmen ist mit zirka 700 Mitarbeitern auf große Softwareprojekte spezialisiert. CW-Redakteur Heinrich Vaske sprach mit dem Firmenchef über die Perspektiven von Individualsoftware im SAP-Zeitalter.

CW: Ihr Unternehmen konzentrierte sich von Beginn an auf die Entwicklung von Individualsoftware. Der Markt tendiert aber auf allen Ebenen in Richtung Standardsoftware. Muss SD&M um seine Zukunft bangen?

DENERT: Überhaupt nicht! Standardsoftware hat sich ohne Zweifel enorm entwickelt und durchgesetzt. Daraus abzuleiten, dass wir mit unseren Individuallösungen keine Existenzberechtigung mehr haben oder zu Lückenbüßern verkommen, wäre aber falsch. Standard- und Individualsoftware werden nebeneinander existieren.

CW: Die rasante Ausbreitung von Fertigware geht doch eindeutig zu Lasten von Eigenentwicklungen.

DENERT: Standardsoftware hat sich vor allem solche Felder erobert, die leicht zu besetzen sind. Fakt ist aber, dass sich Unternehmen individuell präsentieren und im Wettbewerb differenzieren wollen. Im Zeitalter von Internet und E-Business gibt es neue Chancen, sich gegenüber dem Kunden darzustellen. Informationstechnik orientiert sich nicht mehr so sehr an internen Prozessen, sondern zunehmend am Endkunden. Mit Eigenentwicklungen können sich Unternehmen individuell präsentieren.

CW: Wir diskutieren schon seit Jahren über den vermeintlichen Vorteil von Individualsoftware, mit der man sich vom Wettbewerb differenzieren kann. In Wirklichkeit ist es doch so, dass viele Individualprogramme Altlasten sind, die optimal eingestellten Standardsystemen nicht das Wasser reichen können.

DENERT: Sicher kann man darüber streiten. Trotzdem: Wenn die Kunden-Schnittstelle überall gleich ausschaut, hat man im Zeitalter des E-Business keine Differenzierungsmöglichkeiten. Es ist aber auch richtig, dass Großunternehmen aufgrund ihrer IT-Historie gar nicht von heute auf morgen in allen Bereichen auf Standardsoftware umsteigen könnten.

CW: Die Standardsoftware-Anbieter bemühen sich darum, auf horizontaler und vertikaler Ebene mit ihren Lösungen möglichst viele Funktionen abzudecken. Gerät damit die installierte Basis an Individuallösungen in Gefahr?

DENERT: Das würde ich nicht sagen. Die Anbieter werden ihr Ziel nur zum Teil erreichen. Man kann folgendes Spektrum aufmachen: Eine 100-prozentige Domäne der Standardsoftware ist das Finanzwesen. Das andere Extrem ist die Kunden- und Vertriebsseite, die mehr und mehr von Internet und E-Commerce beeinflusst wird. Hier lässt sich weniger standardisieren, das alte Argument der besseren Differenzierungsmöglichkeiten bleibt gültig.

CW: Unter dem Begriff Customer-Relationship-Management (CRM) kommen aber jede Menge Standardprodukte auf den Markt, die genau hier ansetzen. Auch E-Business-Lösungen, Data Warehouses und Data Mining zielen in eine ähnliche Richtung.

DENERT: CRM ist zum Teil ein Modethema, auch wenn es einen ernsten Hintergrund hat. Die verfügbaren CRM-Lösungen decken nur bedingt ab, was gebraucht wird. Die Anwender werden sich damit beschäftigen - so wie sie sich vor fünf Jahren mit Business Process Reengineering beschäftigt haben. Warten wir ab, was am Ende übrig bleibt.

CW: Was halten Sie von den Branchenlösungen, die von ERP-Anbietern zunehmend auf den Markt gebracht werden?

DENERT: Sie weisen große Lücken auf, decken die Kundenanforderungen nur teilweise ab. Außerdem gibt es Branchen, die von den Anbietern vernachlässigt werden, weil die Branche schlichtweg zu klein ist. Einer unserer größten Kunden ist die Deutsche Bahn. Kein ERP-Anbieter würde eine Bahn-Lösung herausbringen. Hier müssen Individualanwendungen entwickelt werden. Das gilt für alle Branchen mit relativ wenigen Unternehmen, darunter auch die Banken. Hier gibt es im Prinzip nur eine namhafte Standardlösung, nämlich "Kordoba" von Siemens. Das Produkt existiert schon seit vielen Jahren, ist aber für Großbanken irrelevant. Die machen ihr eigenes Ding.

Natürlich gibt es auch bei den Banken Brot-und-Butter-Lösungen, so zum Beispiel Händlersysteme. Die ganzen zentralen Systeme, etwa für Konten- und Depotführung, für den Zahlungsverkehr etcetera, das sind Individuallösungen. Hier werden gigantische Datenmengen bewegt, die auf den größten Mainframes verarbeitet werden. Das gibt es nicht von der Stange.

CW: Gilt das nur für die Banken?

DENERT: Auch für die Versicherungswirtschaft. Es gibt in Deutschland gut 400 Versicherungen verschiedener Größenordnungen - von der Allianz bis zur Fahrlehrer-Versicherung. Die Branche wünscht sich schon seit Jahren eine Standardlösung, doch sie kommt nicht. Die Gesellschaften haben bereits gemeinsam ihre Anforderungen definiert und in der Versicherungs-Anwendungs-Architektur (VAA) schriftlich niedergelegt. Gemäß diesen Vorgaben sollte die Softwareindustrie ein Standardpaket entwickeln - bislang vergeblich. Einer unserer Wettbewerber krebst seit Jahren mit einem entsprechenden Projekt herum, doch es wird einfach nichts. Wer sich darauf einlässt, müsste einen dreistelligen Millionenbetrag investieren mit sehr unsicheren Aussichten und relativ wenigen Kunden. Große Player wie etwa die Aachen-Münchner oder Ergo würden nicht mitmachen, weil sie ihr eigenes Spiel spielen. Für die ganz Kleinen würde es zu teuer. Für die wenigen dazwischen lohnt es sich nicht.

Standardsoftware macht nur dort Sinn, wo genügend Abnehmer da sind, wo also ein Markt existiert. Das ist aber immer nur in bestimmten Querschnittsfunktionen der Fall, nie über alle IT-Funktionen und -Prozesse in einem Unternehmen hinweg.

CW: Unterliegt die Versicherungsbranche so geringen Veränderungen, dass sie ihre Anforderungen Jahre im voraus definieren kann?

DENERT: Eben nur in den angesprochenen Querschnittsfunktionen. Standardlösungen können aufgrund der langen Vorlaufzeit nie auf Basis der neuesten Technologie gemacht sein. Sie sind reaktiv, nutzen mit deutlichem Zeitversatz technische Neuerungen. Deshalb wird mit Standardsoftware allein kein großes Unternehmen glücklich. Die Theorie der Ökonomieprofessoren und Marketing-Strategen, wonach Unternehmen zuerst einen Markt analysieren, dann eine Strategie entwickeln und schließlich um die definierten Geschäftsprozesse herum die IT aufstellen, funktioniert nicht. Das ist ein Idealbild, aber nicht praxistauglich.Warum reden wir denn heute über E-Business? Wohl kaum, weil sich die Strategen in den großen Konzernen gedacht haben, den Versandhandel nicht mehr über Kataloge und Formulare, sondern über das Internet abzuwickeln. Wir reden darüber, weil mit Tim Berners-Lee ein Physiker die Hypertext-Struktur nutzte, um den Austausch von Publikationen unter Wissenschaftlern über das Internet zu ermöglichen. Er hat den ersten Browser programmiert, so ist das Ding in die Welt gekommen - eine universitäre Angelegenheit, die in die kommerzielle Sphäre gelangt ist. Man hatte die Technologie und ist erst dann darauf gekommen, was man damit machen kann. Als die Standardsoftware auf das Internet reagierte, hatten viele Unternehmen bereits Internet-Projekte betrieben. So läuft es in vielen Dingen. So wird es immer sein.

CW: Wenn man sich die Softwarehäuser in Deutschland ansieht, stellt man fest, dass immer weniger unabhängig von den großen Standardsoftware-Herstellern sind.

DENERT: Das gilt nicht für uns. Wir legen Wert auf unsere Unabhängigkeit und können sie uns auch erlauben. Ich weiß nicht, wie viele Menschen in der Individualsoftware-Entwicklung tätig sind und wie viele im Umfeld von Standardsoftware. Allein die Banken Deutschlands übertreffen aber locker eine SAP, was die Kopfzahl der Entwickler betrifft. Die Dresdner Bank allein beispielsweise beschäftigt über 2000 IT-Profis.

CW: Glauben Sie, dass der Vorstand der Dresdner Bank darüber besonders glücklich ist?

DENERT: Es ist das Kerngeschäft der Banken, IT zu entwickeln. Banken, Versicherungen, Touristikunternehmen - das sind reine informationsverarbeitende Unternehmen. Warum hat man denn wegen des Jahr-2000-Problems so sehr um die Banken gefürchtet?

CW: In den Banken werden Heerscharen von IT-Profis teuer dafür bezahlt, Legacy-Systeme zu pflegen und den laufenden Betrieb zu gewährleisten. Das ist wohl nicht das Kerngeschäft der Banken.

DENERT: Es gehört definitiv dazu. Die Banken haben vor 30 Jahren begonnen, in ihren Kernbereichen Kontenführung, Zahlungsverkehr etcetera Softwaresysteme einzusetzen. Die Software in diesen Kernbereichen ist zwar alt, aber besonders wichtig, weil sie das Rückgrat der Unternehmen darstellt. Darum müssen sie sich kümmern. Die neueren Systeme sind eher für das Randgeschäft.

CW: Der Softwaremarkt ist in den vergangenen Jahren eindeutig in Richtung Standardsoftware umgeschwenkt. Daraus ergibt sich die Frage, ob nicht viele Unternehmen nach dem Motto Mut zur Lücke standardisieren und Standardsoftware trotz fehlender Detailfunktionen einsetzen.

DENERT: Sicher. Der Trend, alles mit Standardsoftware machen zu wollen, ist eine dieser Wellen, die wir in der IT immer wieder haben. Business Process Reengineering, Standardsoftware, E-Commerce - das sind solche Wellen. Es gibt wirklich Großanwender, die gesagt haben, wir machen nur noch SAP. Nach zwei Jahren waren sie wieder bei uns. Es hat keinen Sinn, gegen diese Mentalität ankommen zu wollen. Wenn so eine Modewelle hochschwappt, hat man keinen Einfluss.

CW: Die Modewellen, von denen Sie reden, haben Unternehmenslandschaften von Grund auf verändert.

DENERT: Sie haben recht, ich muss aufpassen, wenn ich von Modewelle spreche. Das klingt so, als sei das alles nur dummes Zeug. Das stimmt natürlich nicht. Aber man kann beobachten, dass es zu bestimmten Zeiten Themen gibt, die für ein bis zwei Jahre besonders angesagt sind und dann wieder in der Versenkung verschwinden. Die genannten Dinge sind keineswegs inhaltlich ohne Substanz. Dennoch erzeugen sie einen Druck in den Unternehmen, der sachlich nicht immer begründet ist. Die Häufigkeit der Schlagwörter in der COMPUTERWOCHE sind ein Indiz dafür, was gerade en vogue ist. Sie gestalten diese Wellen mit - das ist kein Vorwurf, Sie müssen das tun.

CW: Meinen Sie nicht, dass es ein Fehler wäre, wenn sich beispielsweise eine Bank heute nicht um das Thema E-Commerce kümmern würde?

DENERT: Natürlich wäre das grundfalsch. Aber auch hier gilt es, sorgfältig zwischen Hype und realer Geschäftsmöglichkeit zu differenzieren.