IT in der Prozeßindustrie/Verbrauch und Produktion von Information

Intranet: Ein Quantensprung für das Bayer-Pharma-Forschungsnetz

22.08.1997

Die Zahlen sind beeindruckend: Alle 30 Sekunden wird irgendwo auf der Welt eine neue chemische Substanz synthetisiert, alle zwei Minuten ein Patent angemeldet und alle fünf Minuten eine medizinische Erkenntnis gewonnen. "Diese Informationen sammeln wir und bereiten sie für die konzernweite Nutzung speziell im Pharmabereich auf", sagt Klaus-Eike Möller, Leiter der wissenschaftlichen Information und Dokumentation im Pharmabereich der Bayer AG. Zwar ist die gut gepflegte Bibliothek noch immer zugänglich, aber die meisten Informationen rufen die Mitarbeiter des Pharma-Forschungszentrums am Rande Wuppertals an ihrem PC-Bildschirm ab.

Ein kaum 20 Quadratmeter großer klimatisierter Rechnerraum ist das Herzstück des Bayer-Pharma-Forschungsnetzwerks, das 20 Länder rund um den Globus erreicht und auch dem Datenaustausch und dem Versand von E-Mails dient. Vier Stützpunkte in den USA und Kanada, zwei Niederlassungen in Japan sowie weitere 40 Standorte auf allen Kontinenten kommunizieren mit Bayer Wuppertal. Die Hauptstützpunkte sind mit Standleitungen permanent verbunden.

Das Wuppertaler Forschungszentrum sammelt die umfangreichen chemischen und biologisch-pharmakologischen Daten zentral für alle in der Pharmaforschung tätigen Bayer-Mitarbeiter. Eine halbe Million chemische Strukturen, sogenannte Prüfpräparate, stehen als dreidimensionale Gebilde für das Molecular Modelling in der Datenbank Iris/Casis bereit. Die bunten Molekülmodelle sind auf dem Bildschirm drehbar und mit anderen chemischen Verbindungen zu vergleichen: So werden bereits in der Theorie chemische Wirkstoffe zusammengesetzt, bevor die Synthese im Labor nachvollzogen wird. Das spart viel Zeit.

Digital stattete Bayer Pharma bereits 1974 mit der ersten DEC 10 - Vorgänger der heute zahlreich installierten VAX-Rechner - und 20 Systemen aus. "Digital war der erste Hersteller, dessen Rechner chemische Strukturen darstellen und verarbeiten konnte", erklärt Martin Blunck, Fachgruppenleiter in der Wuppertaler Fachabteilung.

Unter dem Stichwort "verfügbare Chemikalien" sind 150000 chemische Verbindungen gespeichert, alle käuflichen Chemikalien der Welt - eine wichtige Quelle für den organisch-präparativ tätigen Chemiker.

Ein Expertensystem simuliert Reaktionen

Zu den interessantesten Anwendungen der Chemie gehört die computerassistierte Syntheseplanung (Casp), ein Expertensystem, das chemische Reaktionen simuliert. Das in den USA entstandene Programm wurde gemeinsam mit anderen europäischen Firmen weiterentwickelt. Casp lief nur auf Rechnern von Digital. Auch heute noch ist bei Pharmaforschern Digitals "Open VMS" am weitesten verbreitet. Der Grund liegt für Möller auf der Hand: "Pharma-Forschungsergebnisse müssen extrem geschützt werden. VMS ist für unsere Anwendungen heute die beste Lösung."

Ein weiterer wichtiger Arbeitsbereich sind der Aufbau und die Pflege eines elektronischen Image-Archivs. Hier werden auf einem Dutzend optischer Platten mit zirka je 60 GB rund zwei Millionen Seiten aus wichtigen Dokumenten bereitgestellt: Zeitschriftenartikel, wissenschaftliche Berichte, Registrierungsunterlagen für Zulassungen bei Arzneimittelbehörden. Zur Arbeitsgrundlage der Pharmaforscher gehört auch die Beobachtung des Umfelds. Die Bayer-Datenbank hält mehr als zwei Millionen Informationen bereit: über Medikamente der Mitbewerber, alte und neue Patente, Pharmaprojekte und deren Entwicklungsstand sowie ein breites Spektrum an Nachrichten aus der Pharmaindustrie.

Die Beobachtung der Konkurrenz verursachte früher enorme Kosten: "Das Sammeln und Erfassen der Informationen ist sehr kostenintensiv. Heute liefern uns Informationsbroker auf Datenträgern wie Disketten und CD-ROM viele weltweit relevante Daten zu einem akzeptablen Preis", sagt Alexander Mullen, ein Kollege von Möller.

Das International Research Information System (Isis/Casis), aus dem sich auch der Bayer-Vorstand über aktuelle Entwicklungen informieren läßt, enthält alle Daten in einem Format, das mit einem Browser gelesen werden kann. Den "Netscape Navigator", die Zugangssoftware zum weltweiten Internet, setzt Bayer auch im Intranet ein, das vom Intranet-Server "Purveyer" der Process Software Corp. versorgt wird - ein Digital-Produkt. Das lokale Netz ist für großen Durchsatz ausgelegt und transportiert 2 MB pro Sekunde.

Die einheitliche Benutzeroberfläche von Netscape läuft auf jedem Rechner, auch auf einem Notebook. "Wenn uns der Microsoft-Explorer besser gefällt, können wir ohne großen Aufwand wechseln - eine geringe Investition", erklärt Fachgruppenleiter Mullen. Das "interne Internet" - für die Pharmaforscher das Re- search Wide Web - hatte wegen seiner Benutzerfreundlichkeit keine Akzeptanzprobleme.

Und anders als im kollabierenden öffentlichen Internet kommen die Informationen innerhalb von zwei bis drei Sekunden auf den Bildschirm. Die E-Mail-Funktion des Browsers vereinfacht die Kommunikation der Forscher. Innerhalb von Sekunden erreichen die Mitteilungen Kollegen in den USA, Japan, Frankreich und Großbritannien, mit denen die Wuppertaler per Standleitung verbunden sind. Die Zeitverschiebung spielt dabei keine Rolle, denn E-Mails warten im Briefkasten des Empfängers, bis sie abgerufen werden.

1500 Nutzer weltweit beziehen ihre Daten aus dem zentralen Speicher in Wuppertal. Nur 500 davon arbeiten im örtlichen Forschungszentrum. Weil die täglich und wöchentlich eingehenden Informationen zentral und nur einmal erfaßt werden, können alle Forscher im Bayer-Verbund jederzeit auf dieselben aktuellen Daten zugreifen. "Wir sparen uns Doppelarbeit und viel Geld", konstatiert Informationschef Möller.

Lediglich die komplexen chemischen Strukturen, deren Abfrage zeitaufwendiger ist, liegen auch auf den Rechnern der amerikanischen und japanischen Kollegen. Sie werden aus Deutschland täglich noch unter Aufsicht der internen von Mithat Mardin geleiteten Information Services Control Unit übermittelt.

Alle Iris- und Pharmline(Pharma Information Online)-Komponenten, die lokal ebenfalls von Bedeutung sind, lassen sich auf Wunsch der Amerikaner und Japaner duplizieren. Auf häufiges Replizieren wird wegen des hohen logistischen Aufwands allerdings verzichtet.

Lediglich vier Mitarbeiter betreuen das weltweite Informationsnetz der Bayer-Pharmaforschung. "Viele Lösungen wie etwa der Internet-Browser konnten ohne Anpassungsprobleme übernommen werden", so Möller. Er sieht sich mit seinem zentral-dezentralen Konzept als einer der Vorreiter in der Pharmaindustrie. "Immer mehr Mitbewerber werden allerdings wegen des kostensparenden, äußerst wirtschaftlichen Aufbaus folgen", vermutet er. Seine Abteilung versteht sich nicht als Systembetreuer eines Computernetzes, sondern will die Anwender umfassend betreuen und bei der Nutzung der vielfältigen Anwendungen beraten und unterstützen.

Ein zur Zeit besonders interessantes Thema ist die Einführung der Dokumentation zu Arzneimitteln mit optischen Speichern, sogenannten "Damos". Bis zu zwölf Jahren wird an einem neuen Medikament gearbeitet, dann erst erfolgt die Registrierung beim Bundesgesundheitsamt. Erst nach vier sehr aufwendigen Prüfungsphasen und klinischen Tests darf die Markteinführung beantragt werden.

Während in Deutschland vor 20 Jahren noch Unterlagen mit einem Umfang von etwa 6000 Seiten zur Prüfung durch das Bundesgesundheitsamt ausreichten, sind heute die Anforderungen an Wirksamkeitsnachweise, klinische Studien, die Beschreibung von möglichen Nebenwirkungen und pharmakologische Daten so hoch, daß 100 000 Seiten bedrucktes Papier kaum noch ausreichen. Fünfmal soviel verlangen die Amerikaner, und wer weltweit mit einem Medikament auf den Markt kommen will, muß für alle Registrierungen sieben Millionen Seiten präsentieren. Weil das mehrere Tonnen Papier wären, führt kein Weg an optischen Speicherplatten vorbei. "Damos" soll hier Abhilfe schaffen.

Die Informationsverarbeitung wird sich auch in der Pharmaforschung weiter stürmisch entwickeln. "Einen derartigen Quantensprung wie mit dem Intranet bei Forschungs-Informationssystemen habe ich in meiner 25jährigen Praxis als Forscher und Informations-Manager noch nicht erlebt", beteuert Möller.

Die Anbieter von Hard- und Software seien gut beraten, wenn sie gerade mit Pharmafirmen in strategischen Partnerschaften zusammenarbeiten würden. Pharmaforschung sei nicht nur durch einen extrem hohen Informationsverbrauch gekennzeichnet, sondern ist selbst führend in der Informationsproduktion. "Die Anforderungen an eine hochwertige Informationsverarbeitung und weltweite Kommunikation sind extrem heterogen", weiß Möller.

Angeklickt

Die Vielzahl von chemischen Strukturen, Wirksamkeitsnachweisen, staatlichen Bestimmungen, Patenten etc., über die die Forscher des Pharmabereichs der Bayer AG auf dem laufenden sein müssen, will das Unternehmen seinen Rang erfolgreich behaupten, hat einen besonders zuverlässigen und schnellen Zugriff auf eine Forschungsdatenbank notwendig gemacht. 1500 Forscher können zur Zeit weltweit über ein Intranet auf den gewaltigen Datenbestand zugreifen.

*Friedhelm Weidelich ist freier Journalist in Düsseldorf.