IT-Wirtschaft schafft neuen "Arbeitskraft-Typus"

"Internet-Profis wollen viel verdienen und früh aufhören"

01.12.2000
Eine sich ständig verändernde Cyberwelt erfordert selbständige, qualifizierte und motivierte Mitarbeiter. Wie der typische Internet-Profi aussieht, wollte Ina Hönicke* von Professor Rudi Schmiede vom Institut für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt wissen. Von Ina Hönicke*

CW: Sie vertreten die Meinung, dass die IT-Wirtschaft in Deutschland einen "neuen Menschentypen" schafft. Was verstehen Sie darunter?

Schmiede: Es hat sich nicht ein neuer Menschentyp, sondern der neue Typus eines Arbeitskraft-Unternehmers gebildet. Die in der Internet-Wirtschaft tätigen Mitarbeiter sind zum einen in der Lage, selbständig zu handeln, zum anderen sind sie sich ihrer momentan starken Arbeitsmarktposition bewusst. Grund für diesen neuen Typus sind die umfassenden organisatorischen Veränderungen, die mit der Globalisierung und Informatisierung einhergehen. Allerdings ist dieser Typus nicht nur ein Phänomen der Internet-Welt. Er ist auch in anderen Branchen, in denen IuK- und vor allem Web-Technologien eingesetzt werden, zu finden.

CW: Können Sie diese umfassenden Organisationsveränderungen ein wenig näher beschreiben?

Schmiede: Die viel zitierte Globalisierung heißt nicht, dass wir es mit einem neuen Weltmarkt zu tun haben. Neu ist vielmehr, dass jetzt ein weltumspannendes, technisches und organisatorisches System in Echtzeit funktioniert. In diesem System haben wir es mit verstärkter Arbeitsteilung, Outsourcing, Internationalisierung der Produktion sowie zunehmender Kommunikation als unabdingbarer Voraussetzung dieser Prozesse zu tun. Die heutige Globalisierung ermöglicht darüber hinaus eine größere Marktnähe. Dadurch arbeiten die Beschäftigten allerdings unter Bedingungen erhöhter Unsicherheit.

CW: Welche Art von Unsicherheit meinen Sie?

Schmiede: Die Beschäftigten sind unsicher, welchen Effekt ihre Arbeit hat, ob sie langfristig sicher ist und wie der ökonomische Erfolg aussehen wird. Schließlich erleben sie in ihren Unternehmen den Abbau von Bürokratien, die Abflachung der Hierarchien, eine horizontale Organisation, stärkere Dezentralisierung und vieles mehr. Um bei diesen Veränderungen mithalten zu können, benötigt die Wirtschaft einen Arbeitstypus, der in seiner Tätigkeit stärker bewusst agiert, kreativ ist, aktiv motiviert und ein reflektierendes Verhältnis zur Arbeit hat. Im Grunde verlangen die Unternehmen die eierlegende Wollmilchsau.

CW: Glauben Sie wirklich, dass Mitarbeiter, die all diese Kriterien erfüllen, in großen Unternehmen tätig sind? Klingt das nicht eher nach Selbständigkeit?

Schmiede: Diese Tendenz gibt es ja bereits seit Mitte der achtziger Jahre. Und bei Startups zu arbeiten ähnelt doch auch stark dem Selbständigen-Status. Schließlich ist bei diesen so genannten Turnschuh-Unternehmen noch nichts formalisiert.

CW: Auch Startups können wachsen.

Schmiede: Stimmt. Dann werden sie zu Lackschuh-Unternehmen. Das sind die Firmen, die mittlerweile so groß geworden sind, dass die Startup-Bedingungen nicht mehr gelten. Dementsprechend stehen sie unter einem großen Druck zu mehr Professionalisierung. Bislang waren die Beschäftigten gewohnt, direkt miteinander zu reden. Wenn nun aber zwei Abteilungen an einem Projekt sitzen und geregelt werden muss, wer welche Arbeit zu tun hat, wird es problematisch. Dann klappt es nicht mehr auf Zuruf oder Management-by-Friendship. Hierfür sind organisierte Kommunikationsprozesse erforderlich - und die beherrschen die Mitarbeiter der Lackschuh-Unternehmen nicht selbstverständlich.

CW: Nach Meinung von Experten sind Management-Fehler die Hauptursache für das Scheitern von Startups. Sehen Sie das ähnlich?

Schmiede: Eine solche These ist mir zu einseitig. Ich sehe in den Grenzen der Eigenkapitalisierung ein weiteres, mindestens ebenso schwerwiegendes Problem. Bei Venture Capital handelt es sich schließlich nicht um eine Dauerfinanzierung. Einem kleinen Teil der Startups gelingt es, an die Kapitalmärkte zu gehen - der größere Teil wird aufgekauft oder lässt sich aufkaufen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Division, die zu lukrativen Konditionen vom amerikanischen Softwaregiganten Sun Microsystems übernommen wurde. Von diesem Typus gibt es eine ganze Reihe erfolgreicher Firmen, die aber an die Grenze der Eigenkapitalisierung gelangen. Auf sie warten traditionelle Firmen, die nur ein begrenztes Kreativitätspotenzial im Hause haben und die Newcomer mitsamt ihren motivierten Mitarbeitern nur allzu gerne aufkaufen.

CW: Ein weiteres Ergebnis Ihrer Forschungen ist die Entwicklung völlig neuer Perspektiven für die biografische Planung der Internet-Profis.

Schmiede: Arbeiten bis zur Rente gilt für die Internet-Profis - in realistischer Einschätzung der Unsicherheit, der sie ausgesetzt sind - nicht mehr. Heute heißt die Devise, schnell und viel zu arbeiten und dabei viel Geld zu verdienen. Da ihre Jobs unsicher sind, wollen die Internet-Profis das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Sie versuchen, möglichst viel Geld zu verdienen und die Chancen im Anlagebereich und bei Aktienoptionen zu nutzen. Microsoft beispielsweise hat junge Leute zu relativ niedrigen Gehältern eingestellt, ihnen aber gleichzeitig Aktienoptionen eingeräumt. Das führt zu einer Lebensplanung, spätestens mit 45 Jahren über ein ausreichendes finanzielles Polster zu verfügen, um aufhören zu können. Eine solche Lebensplanung reicht natürlich auch ins Privatleben hinein. Kein Wunder, dass der Wunsch nach verbindlichen Partnerbeziehungen und Kindern bei einer großen Anzahl dieser jungen Leute nicht gerade häufig anzutreffen ist.

CW: Pleiten und Kurseinbrüche haben in der Internet-Welt mittlerweile für Verunsicherung gesorgt. Glauben Sie, dass die Goldgräberstimmung bei den jungen Leuten dennoch andauern wird?

Schmiede: Bislang schon. Wenn ich allerdings in die Zukunft blicke, bin ich eher skeptisch. Schließlich hält der Bereinigungsprozess in der IT-Branche unvermindert an. Die Zukunft scheint den Großen wie Bertelsmann oder AOL Time Warner zu gehören. Diese Unternehmen breiten sich wie Kraken aus und lähmen die Kleineren in gewisser Weise.

CW: Fachleute monieren, dass in den Startups zu wenig Management-Know-how vorhanden ist. Wäre es dann nicht ratsam, sich dafür einen "alten" Hasen ins Haus zu holen?

Schmiede: In der New Economy gibt es keine alten Hasen. Eine solche Lösung kommt höchstens für bestimmte Bereiche wie die Kosten- und Leistungsrechnung oder die Rechtsabteilung in Frage. Das Kernproblem der Newcomer besteht aber darin, eine stärker formalisierte Organisation zu entwickeln und trotzdem die Kreativität und Motivation der Mitarbeiter zu bewahren. Für die Lösung dieses Dilemmas stehen keine alten Hasen zur Verfügung. Ältere IT-Profis, die jahrelang in einem so genannten traditionellen Unternehmen tätig waren, können sich in diese Problematik nur schwer hineindenken. Also bleibt den jungen Unternehmen nichts anderes übrig, als selbst eine Lösung zu finden. Unternehmensberater können hier helfen, wenn sie sich wirklich auf die Problematik einlassen und nicht nur Allgemeinplätze modisch verpackt reproduzieren.

CW: Für viele Newcomer scheinen der Spaß am Arbeitsplatz und die Aktienoptionen fast wichtiger als der Job selbst.

Schmiede: Die Karriere -, wie sie in traditionellen Unternehmen üblich ist -, gibt es für den Internet-Typus nicht. Karriere heißt für ihn nichts anderes, als sich durch einen Unternehmens- oder Branchenwechsel neue Kenntnisse zu erwerben. Dadurch wird der Marktwert erhöht. Viele der jungen Leute sind sogar davon überzeugt, dass ihre Karriere zu Ende ist, wenn sie das Unternehmen nicht spätestens nach drei Jahren verlassen.

CW: Gemeinsames Frühstücken und ein paar Extras machen bei vielen Internet-Profis durchgearbeitete Nächte wett. An mögliche gesundheitliche Schäden denkt keiner.

Schmiede: Das muss differenziert betrachtet werden. Eines wird deutlich: Die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben verwischen zunehmend. Man arbeitet zusammen und unternimmt etwas zusammen. Ein Indiz dafür sind meines Erachtens die Feierabend-Diskotheken. Hier erfüllen die Leute sich das Bedürfnis, nach Feierabend weiterzukommunizieren. Da diese Diskotheken bereits am späten Nachmittag aufmachen, kommen die Internet-Profis früh ins Bett und sind am nächsten Tag wieder fit. Vielleicht ist das auch eine Art gesundheitlicher Vorsorge. Früher war das jedenfalls anders.

CW: In den USA haben die Startup-Mitarbeiter große Probleme bei der internen Kommunikation. Nicht selten werden Psychotherapeuten zu Hilfe gerufen. Können Sie sich vorstellen, dass sich eine solche Form der "Startup-Therapie" auch hierzulande durchsetzen wird?

Schmiede: Davon höre ich zum ersten Mal. Die psychologischen Probleme sehe ich aber durchaus. Sobald in einem Unternehmen formale Strukturen installiert werden, entsteht ein heftiger Konkurrenzdruck. Als Folge entwickeln sich Verhaltensweisen wie Mobbing oder die berühmte Ellenbogenmentalität. Beides ist mit Angst und Bedrohung verbunden. Zudem spielen gerade in der Softwarebranche das Burnout-Syndrom und die daraus folgenden Depressionen eine wichtige Rolle. Die Mitarbeiter leiden darunter, dass ihre Qualifikation so rasch veraltet und sie nicht die Möglichkeit haben, ihr Wissen kontinuierlich auf den neuen Stand zu bringen. Hier sind in der Tat Psychotherapeuten gefordert.

*Ina Hönicke ist freie Journalistin in München.