IT in Versicherungen

Internet löst Investitionswelle aus

04.02.2000
Einige Milliarden Euro werden allein die hundert größten deutschen Erstversicherer innerhalb von zehn Jahren in ihre Infrastruktur investieren. Wohin soll das Geld fließen? Welche Techniken brauchen die Gesellschaften, um im Verdrängungskampf zu überleben? Johannes Kelch* fragte Unternehmensberater, die sich auf das Versicherungsgeschäft spezialisiert haben.

Ohne Internet, so die Experten übereinstimmend, läuft in der Versicherungsbranche bald gar nichts mehr. Doch gehen die Meinungen darüber, wie das Netz möglichst gewinnbringend zu nutzen sei, weit auseinander.

Nach den apokalyptischen Visionen von Mummert + Partner wird das Internet mit dem Online-Abschluss von Verträgen zum erfolgreichsten Außendienstmitarbeiter der Branche. Die Unternehmensberatung prognostiziert, dass "langfristig" ein Viertel der Versicherungsgeschäfte direkt übers Netz abgewickelt wird. Nur jene Agenturen und Makler, die sich auf beratungsintensive Produkte spezialisierten, seien in der Lage, dem elektronischen Konkurrenten Paroli zu bieten. Ein von nationalen Schutzzäunen befreites Euroland wird nach einer Studie der Consulter zum "Dorado der Schnäppchenjäger".

Nach Ansicht von Wilhelm Alms, Vorstandsvorsitzender von Mummert + Partner, fehlt es in den deutschen Versicherungsunternehmen allerdings am Know-how im Umgang mit Internet-Technologien. Die Großen der Branche, so Alms, "bauen ganz schreckliche Oberflächen". Ein anderes Design sei dringend erforderlich. Und: "Ein bisschen Java-Programmierung" reiche nicht aus, um Kunden online zum Versicherungsabschluss zu führen.

Völlig anders zeichnet Fred Chiachiarella, Leiter des betriebswirtschaftlichen Instituts beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV, das Bild vom Internet-gestützten Vertrieb. Der Betriebswirt stellt sich darunter weniger die Selbstbedienung am PC als vielmehr die gemeinsame Session von Vermittler und Kunde am Bildschirm vor. Das Zusammenwachsen von Internet und Telefon begünstige die von einem Vermittler geführte Online-Bearbeitung eines Antrags. Es seien vielfältige Abstimmungsprozesse nötig, bis der Kunde schließlich signalisiere, dass er das gewünschte "Produkt" gefunden habe.

Der für das Marktsegment Versicherungen in Deutschland zuständige Unternehmensberater bei Cap Gemini, Bernhard Achter, glaubt nicht an eine explosionsartige Vermehrung des Direktvertriebs von Versicherungspolicen. Der E-Commerce mit dem Endkunden werde in nächster Zeit "verhalten, aber konstant" wachsen. Achter verweist auf die Barriere der digitalen Signatur, die einem raschen Zuwachs in absehbarer Zeit entgegenstehe.

Der Experte gibt ferner zu bedenken, dass sich mit dem Direktvertrieb übers Internet derzeit lediglich eine Kundengruppe erreichen lasse, die sehr häufig wechsle oder sehr preissensibel sei. Für Versicherer rechneten sich dagegen stärker die "Bindung guter Kunden und die Risikoselektion".

Frank Dünnleder, Leiter des Geschäftsbereichs Versicherungen bei der PDV Unternehmensberatung in Hamburg, sieht das Internet überwiegend als Servicemedium. Eine bessere Verzahnung des Informationsaustauschs zwischen Zentrale und Außendienst über das Web verkürze die Prozessdauer, beschleunige den wechselseitigen Datenaustausch und erübrige Doppel- und Dreifacherfassungen, wie sie heute durchaus noch üblich seien.

Gewachsene Anwendungen zum Internet hin öffnen

Im Internet sieht Dünnleder allenfalls ein ergänzendes Vertriebsmedium. Im Kundeninteresse sei beispielsweise die Möglichkeit, von einem anonymen Kontakt übers Internet unmittelbar zu einer persönlichen Beratung durch einen Fachmann im Call-Center zu wechseln. Generell sei das Versicherungsgeschäft ein "Beziehungsgeschäft". Eine Versicherung sei "ein notwendiges Übel"; auf die persönliche Überzeugungsarbeit durch einen Berater könne man deshalb nicht verzichten.

Einen anderen Akzent setzt Josef Schmaus, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Schmaus, Schnürer und Co. mit Schwerpunkt Versicherungswirtschaft und Internet. Schmaus rät den Versicherern, sich überall dort im Internet zu "positionieren, wo viele potenzielle Kunden vorbeikommen", in Portalen, auf den Seiten von Fußballclubs, aber auch in den virtuellen Versicherungsbüros von Außendienstmitarbeitern und Maklern.

Als wichtigste Aufgabe für Versicherer nennt er die "Öffnung bestehender, gewachsener IT-Anwendungen gegenüber dem Internet". Erste Priorität habe die Übernahme von Daten aus dem Internet in den Host-Rechner mit den Bestandsdaten. Der umgekehrte Weg vom Host ins Internet sei nachrangig.

Die Zukunft gehört nach Schmaus'' Überzeugung indessen all jenen Anwendungen, die komplett auf Internet-Technologie beruhen, auf einem zentralen Server laufen und dem Anwender lediglich Oberflächen und Daten auf einen Thin Client überspielen. Es gingen zwar noch viele Jahre ins Land, bis solche Konzepte in die Wirklichkeit umgesetzt seien. Doch die Entwicklungsarbeit in dieser Richtung lohne sich. "Wer hier am mutigsten investiert, zählt morgen mit Sicherheit zu den Marktführern", ist sich der Unternehmensberater sicher.

Ganz unabhängig von den Möglichkeiten des Internet halten alle befragten Fachleute eine verbesserte IT-gestützte Ansprache und Bindung der Kunden für enorm wichtig. Cap-Gemini-Mann Achter nennt auf die Frage, was für Versicherer denn aktuell besonders wichtig sei, als Allererstes das Customer-Relationship-Management (CRM). Die Versicherungsbranche habe in den vergangenen Jahren ihr Hauptaugenmerk auf das Back-Office-Management gelegt. Jetzt komme der Umsetzung des Servicegedankens eine besondere Bedeutung zu.

Während fast alle Experten das hohe Lied von der Kundenbindung anstimmen, scheiden sich die Geister bei der Frage, welche informationstechnischen Instrumente sich dafür am besten eignen. Achter gibt dem Call-Center eine große Zukunft. Es werde sich zum Kundenkontakt-Center weiterentwickeln, wo auch die elektronischen Kanäle (etwa mit E-Mail-Anfragen oder ausgefüllten elektronischen Formularen) landen.

Für Schmaus wird das Call-Center "noch wichtiger werden". Es werde sich zum "Multimedia-Servicepunkt" weiterentwickeln. Das Internet werde zudem der Bildtelefonie zum Durchbruch verhelfen. Damit werde das Call-Center eine umfassende, persönliche Kontaktaufnahme ermöglichen. Schmaus kann sich außerdem vorstellen, dass das künftige Call-Center nicht mehr an einem zentralen Ort betrieben wird, sondern sich in viele dezentrale Arbeitsplätze atomisiert. Der "dramatische Kostenverfall" der technischen Ausstattung pro Arbeitsplatz begünstige die Dezentralisierung von Call-Center-Lösungen.

Eine diametral entgegengesetzte Meinung vertritt Mummert+Partner-Vorstand Alms. Nach seinem Dafürhalten macht es nur wenig Sinn, in ein Call-Center zu investieren. Zwar ließen sich damit durchaus Kosten senken, ein Call-Center sei jedoch eine "Übergangstechnologie für die nächsten Jahre, solange der Sprung zu besseren Technologien nicht geschafft" sei. Nur wenige Call-Center - "wo arme Menschen am Telefon traktiert werden" - könnten überleben.

Auf einen der drei ersten Plätze auf der Themenliste für Versicherungen setzt Alms jedoch die verbesserte Organisation des Informationswesens. Ein Data Warehouse mit entscheidungsorientierten Informationssystemen müsse unübersichtliche Tabellen ablösen, wie sie derzeit noch gebräuchlich seien.

Dünnleder von der PDV Unternehmensberatung sieht in der Zusammenführung der Bestände aus unterschiedlichen Versicherungssparten in einem Data Warehouse einen erheblichen Vorteil für die Unternehmen. Nur die Vereinheitlichung der Datenbestände mache eine ertragsorientierte Gesamtsicht auf den Kunden möglich. Erst dadurch könnten Versicherer die Frage beantworten: "Was kostet und was bringt ein Kunde?"

Der elektronischen Archivierung kommt bei der Neuorganisation der Informationsbestände hingegen keine besondere Bedeutung zu. Für den Chef von Mummert + Partner, Alms, zählt sie bereits zum "Business as usual". Chiachiarella vom GDV und Unternehmensberater Schmaus sind überzeugt, dass die meisten Versicherungsunternehmen ihre Dokumente bereits in einem elektronischen Archiv abgelegt haben. Dünnleder von der PDV Unternehmensberatung glaubt ebenfalls nicht an einen Boom in diesem Bereich.

Ein hoher Bedarf besteht in der Branche hingegen an Softwaresystemen, die eine Vielzahl äußerst flexibler, an den individuellen Bedarf der Kunden angepasster Produkte erzeugen. "Mit am größten" ist für Dünnleder der Druck auf die Versicherer, das Produktwissen anders als bisher abzubilden. Mit einem "Produkt-Server" könne man das bisher verstreute Produktwissen an einem Ort zusammenführen. Alms ist zwar ebenfalls dieser Meinung, beurteilt die derzeit erhältlichen Produkt-Management-Systeme aber noch als unzulänglich. Sie seien erst auf dem Weg zur "Qualität für Flexibilität".

Schmaus warnt die Versicherer vor "allzu großer Kreativität". Zielgruppengerechte Ansprache mache Sinn, aber es müsse ein "Mindestmaß an Transparenz für die Verbraucher" bestehen bleiben. "Wenn die Tarife zu einem Dickicht mutieren, stellt sich die Frage, ob dies der ganzen Branche gut tut", so der Experte.

Beim Stichwort "Komponententechnologie" fallen die Reaktionen der Befragten sehr unterschiedlich aus. Wilhelm Alms sieht darin die "einzige Chance". Softwaresysteme für Versicherungen müssten wie ein größeres Bauwerk aus standardisierten Komponenten und individuell gefertigten Bestandteilen zusammengefügt werden.

Demgegenüber äußert sich Bernhard Achter sehr zurückhaltend zu den Aussichten der Komponententechnologie. Sie sei "bislang nicht so erfolgreich". Abgesehen von der Frage, ob die Softwarelieferanten das Konzept unterstützten, müsse sich noch herausstellen, ob Komponenten dem individuellen Bedarf der Versicherer wirklich gerecht werden könnten. Skeptisch ist auch Frank Dünnleder. Universell einsetzbare Komponenten seien noch "nicht erkennbar".

Zu den Top-Drei-Themen der Versicherungsbranche rechnet Alms auch das IT-gestützte Schadens-Management. Eine optimale Internet-basierte Unterstützung der Prozesskette vom Schadenseintritt bis zur versicherungstechnischen Abwicklung könne zu einer Einsparung von 30 bis 40 Prozent der Schadenskosten führen.

TOPTHEMEN DER VERSICHERUNGSBRANCHE

1. Internet

E-Commerce: Direktvertrieb von Policen, Versicherungsabschluß am PC

E-Business: Informationsaustausch zwischen Zentrale, Agenturen, Außendienst

Schadensregulierung: Schadensmeldung, versicherungstechnische Abwicklung

2. Kundenbindung und Risikoselektion

Call-Center: Weiterentwicklung zum Mulitmedia-Servicepunkt/Kunden-Kontakt-Center

Customer-Relationship-Management:-Entdeckung der individuellen Kunden

3. Neuorganisation der Informationsbestände

Data Warehouse:-Zusammenführung der Daten quer durch alle Sparten

Dokumenten-Management/elektronische Archivierung

4. Produkt-Managementsysteme

5. Komponententechnologie

6. IT-gestütztes Schadensmanagement, Quelle: JK

Kunde: Kostenkiller?

Ein Versicherungskunde, der seine "Akte" am heimischen Bildschirm selbst bearbeitet, senkt die Abwicklungskosten des Versicherungsunternehmens auf ein Minimum, so behauptet die Unternehmensberatung Mummert + Partner und stützt sich dabei auf Zahlen aus Amerika. Danach kostet eine Vertragsänderung über eine Agentur rund 19 Dollar, über ein Call-Center acht Dollar und per Selbstbedienung übers Internet nur 50 Cent.

Anders sieht das hingegen Fred Chiachiarella vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV: "Der Abschluss übers Internet bedeutet nicht, dass im Unternehmen nichts mehr gemacht werden müsste". Man brauche durchaus einen Vermittler oder Mitarbeiter, der über den Antrag entscheiden und dabei einige Fragen beantworten müsse: Wurde alles richtig beantwortet, besteht eine Deckungslücke, lohnt sich ein Abschluss mit diesem Kunden?

*Johannes Kelch ist freier Journalist in München.