"Schulen ans Netz": Eine Kritik an pädagogischen Defiziten

Internet ist bisher nur Beiwerk für konventionellen Unterricht

03.12.1998
Vor zweieinhalb Jahren bekamen die ersten deutschen Schulen einen Zugang zum Internet. Mittlerweile sind bereits 6500 angeschlossen. Das allein ist für Rainer Busch* noch kein Grund zur Freude. Der Urheber der Bildungsinitiative "Schulen ans Netz" zieht eine kritische Zwischenbilanz.

Der Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologie wird zur Schlüsselkompetenz. Er muß daher allgemeines Bildungsgut werden. Diese Herausforderung anzunehmen ist die Leitidee der Bildungsinitiative "Schulen ans Netz", die vor vier Jahren entstanden ist. Zu dieser Zeit war das Internet im wissenschaftlichen Umfeld weitgehend anerkannt, und es zeichnete sich deutlich ab, daß sich diese Technologie in Wirtschaft und Gesellschaft ausbreiten würde.

Im Bildungswesen wurde das Thema Internet lediglich durch die Eigeninitiative einzelner Schulen oder in Modellversuchen in einigen Bundesländern behandelt. Eine flächendeckende Einführung war nicht vorgesehen, da sie als nicht erforderlich galt.

Finanzielle Unterstützung durch die Wirtschaft

Angesichts dessen versuchte die Initiative, die Wirtschaft für eine finanzielle Unterstützung zu gewinnen. Erst als die entsprechenden Zusagen eingegangen waren, haben der Bundesminister für Bildung und einige Kultusminister der Länder auch zugestimmt. Damit war die angestrebte "public-private-partnership" realisiert.

Mit einer zu etablierenden Medienbildung muß sich auch die Kulturpolitik der Bundesländer neu orientieren. Landesspezifische Zulassungsverfahren, wie sie für Schulbücher üblich sind, werden für Bildungssoftware nicht nur aus Kostengründen unannehmbar sein. Die Ausgaben für Technologie, Service und Fortbildungsmaßnahmen sind so hoch, daß sie nur über kooperative Partnerschaften und Aufgabenteilung der Bundesländer tragbar sind. Kooperative Modelle mit dem Ziel, Kosten zu senken und gleichzeitig die Dienstleistungen zu erweitern und zu verbessern, sind in der Wirtschaft weit verbreitet, ohne daß die jeweilige unternehmerische Souveränität eingeschränkt würde. Auch für die Bundesländer sind derartige Modelle eine unumgängliche Konsequenz und kein Widerspruch zu ihrer Kulturhoheit. Falsch verstandene kulturpolitische Eigenständigkeit oder mangelnde Einsicht in die Notwendigkeit von Kooperation zeigen deutlich das fehlende Verständnis für die Eigengesetzmäßigkeiten einer auf Informations- und Kommunikationstechnologie basierenden Bildung.

Der Kernpunkt der Bildungsinitiative ist die sachliche und methodische Verknüpfung von Technik und Pädagogik. Das Management der Bildungsinitiative ist jedoch gekennzeichnet durch ein flaches Versorgungsdenken, als würde es genügen, den Schulen ISDN-Anschlüsse und Internet-Software bereitzustellen. Die Marketing-Ziele der Telekom sind unverkennbar. Die Versorgung mit einem Multimedia-Computer pro Schule weist auf den gleichen Denkansatz hin. Mit einem Gerät pro Schule und etwa 30 Kindern pro Klasse ist Medienunterricht nicht realisierbar.

Mit dem vom Bundesbildungsministerium und der Telekom gesetzten Ziel, kurzfristig im Gießkannenprinzip 10000 Schulen an das Netz anzuschließen, waren die Probleme programmiert. Dieses von publizistischer Effekthascherei geprägte Ziel hat viele Schulen und auch die Telekom überfordert. Wenn die technischen Komponenten wie ISDN-Karte und -Anschluß oder Internet-Software mit zeitlichen Abständen von Monaten eintreffen, zeigt das deutlich, daß der technische Service der Telekom auf diese logistische Aufgabe nicht vorbereitet war. Auch der Ausbildungsstand der Telekom-Mitarbeiter (oder das Produkt T-Online?) zeigte bei der Anbindung eines schulinternen Netzwerkes an das Internet gravierende Schwachstellen. Fehlende Lehrerfortbildung und nicht vorhandene Service-Infrastrukturen für den Netzbetrieb haben daher in vielen Schulen zu Resignation und zum Abbruch des Projektes geführt.

Die Bildungsinitiative plante einen kontrollierten Einstieg mit etwa 150 Schulen: Zunächst sollten die Schulen gefördert werden, die bereit sind, pädagogisch-didaktische Konzepte zu entwickeln. Erst wenn ein solides Fundament von erprobten Unterrichtsprojekten bestünde und ausreichende Servicekapazitäten für den Netzbetrieb eingerichtet seien, könne eine flächendeckende Ausweitung erfolgen. Diese für den Erfolg der Bildungsinitiative wichtigen Meilensteine werden bis heute nicht berücksichtigt. Das Konzept des Vereins "Schulen ans Netz" unterwirft sich statt dessen den Vorgaben des Bundesministeriums und der Telekom.

Eine weitere wichtige Voraussetzung für den pädagogischen Erfolg des Vorhabens wären fachlich-technische Kenntnisse der Lehrer. Es ist unverständlich, daß nur in wenigen Bundesländern Fortbildungsprogramme für Lehrer aufgelegt wurden. Auch das Studium für Lehramtskandidaten und die Referendarausbildung sind auf die neuen Qualifikationsprofile nicht umgestellt worden.

Die bisher ausgebliebene Reform des Studiums geht einher mit unzureichender Curriculum-Forschung an den Hochschulen. Projekte zur Entwicklung der wissenschaftlichen Grundlage einer Medienbildung haben in der Kulturpolitik eine niedrige Priorität, Änderungen sind nicht erkennbar. Damit fehlt ein weiterer wichtiger Eckpfeiler für Innovationszyklen im Bildungswesen. Das Ziel, fächerübergreifenden, interdisziplinären Unterricht mit einem ganzheitlichen Ansatz von Wissen und Wissensverwertung zu betreiben, ist in weite Ferne gerückt. Multimedia und Internet werden nur als Beiwerk für den konventionellen Unterricht verstanden. Es darf daher nicht überraschen, daß ihr Einsatz häufig als schwach begründet empfunden wird.

Die Potentiale der Informations- und Kommunikationstechnologie werden bisher nicht ausgeschöpft. Gleiche Fehler wurden in den 8oer Jahren bei der Einführung der Bürokommunikation gemacht, als man die Schreibmaschine durch einen Computer und den Hausboten durch eine Vernetzung ersetzt hatte.

Ein Erfolg der Bildungsinitiative ist es, die Wirtschaft für eine massive finanzielle Unterstützung des Bildungswesens gewonnen zu haben. Jetzt muß diskutiert werden, ob oder welche Abhängigkeiten von der Wirtschaft entstehen - nicht nur im Interesse der Unabhängigkeit des Bildungswesens, sondern auch, um der Wirtschaft klare, für sie akzeptable Positionen herauszuarbeiten.

Die Bildungsinitiative sah daher eine neutrale Institution vor, die den Ausgleich der Interessen moderieren sollte. Mit der Dominanz der Telekom in der Organisationsstruktur des Vereins "Schulen ans Netz" ist das jedoch nicht möglich. Ein langfristiger Interessenausgleich der konkurrierenden Unternehmen zum Nutzen des Bildungswesens ist ebenso fehlgeschlagen. Zudem wird der Titel "Schulen ans Netz - eine Initiative des BMBF und der Telekom" den Tatsachen nicht gerecht, denn weder das Bundesministerium noch die Telekom haben die Initiative ergriffen. Sie sind lediglich Nutznießer der Idee und Leistung anderer, die sie aus Eigennutz nicht benennen. So muß auch die Behauptung der Telekom, "Schulen ans Netz" sei eine bezahlte Auftragsarbeit der Telekom gewesen, als nachweisbar falsch zurückgewiesen werden.

Die Telekom versucht offenbar, diesen Bereich des Bildungswesens für sich zu vereinnahmen. Die Reform des Bildungswesens ist aber eine so vielschichtige und gigantische Aufgabe, daß es nicht sehr weitsichtig ist, sie von einem einzigen Unternehmen dominieren zu lassen. Diese Einseitigkeit wird zu Recht die Kritiker stärken, die eine Abhängigkeit des Bildungswesens von der Wirtschaft befürchten.

Überbetonung der Technik zu Lasten der Pädagogik

Die bisherige Praxis der Bildungsinitiative offenbart leider viele Mängel und Versäumnisse. Die Abweichungen von den in der Studie "Schulen an das Netz" (www.schulweb.de/schnet95/) dargelegten Zielen und Aufgaben sind auffällig. Die Überbetonung der Technik und Vernachlässigung der Pädagogik haben einseitige Sichtweisen produziert und somit legitime, aber vermeidbare Kritik hervorgerufen. Für die künftige Gestaltung der Bildungsinitiative muß jetzt umgehend ein strategisches Gesamtkonzept entwickelt werden, um Fortbildungsprogramme für Lehrer aufzulegen, das Studium für Lehramtskandidaten zu reformieren und langfristig die technische Grundversorgung der Schulen zu sichern.

Trotz der bestehenden Mängel und Schwächen muß die Bildungsinitiative einschränkend als positiv bewertet werden, denn zumindest ist mit "Schulen ans Netz" ein wichtiger Schritt zur Reform des Bildungswesens getan und dessen Zukunftsfähigkeit eröffnet worden.

Rainer Busch ist Professor an der Universität für angewandte Wissenschaften in Bochum.