Surfer hängen 40 Stunden und mehr am Netz

Internet: Erst der Spaß, dann die Sucht?

30.10.1998

Der US-Autor R. W. Greene beantwortet die Suchtfrage wie folgt: Immer wenn Sie lächeln, drehen Sie Ihren Kopf zur Seite. Sie träumen in HTML. Ihr Partner verweist darauf, wie wichtig Kommunikation in einer Partnerschaft ist. Sie schaffen deshalb einen neuen Computer und einen zweiten Telefonanschluß an, damit Sie zwei sich in einem Chat-Room treffen können...

Kommt das Gespräch auf "Internet-Sucht", dann brechen viele Leute in schallendes Gelächter aus. Selbst das World Wide Web hat sich dieses Phänomens bereits angenommen. Auf vielen Web-Sites kann man die oben genannten Suchthinweise in verschiedenen Variationen finden.

Aber die Anzahl von Personen, die darüber nicht mehr lachen können, wächst. "Mein Mann zerstört mit seiner Sucht nicht nur unsere Ehe, er hat sich auch selbst verändert. Seine Persönlichkeit, seine Werte, sein Einstellung, seine Gewohnheiten und auch sein Verhältnis zu den Kindern sind nicht mehr die gleichen." So klagt eine Frau, die sich unter dem Pseudonym "Rachel" Ratschläge gegen Internet-Abhängigkeit von Angehörigen holt. In den USA existieren bereits sogenannte "Internet addiction support mailing lists", die dem Suchtphänomen nachgehen und Erste-Hilfe-Maßnahmen anbieten.

Psychiater bestätigen, daß sie zunehmend in ihren Praxen und per E-Mail mit dieser Art von Sucht konfrontiert werden. Einige Surfer kommen mit den bunten Grafiken auf den Web-Seiten, der Anonymität und der Geschwindigkeit der Kommunikation nicht klar und vernachlässigen ihre Familien, die Arbeit oder die Schule nur um möglichst lange online zu bleiben.

Das führt zu den absurdesten Reaktionen, wenn sich Familienmitglieder gewaltsam Aufmerksamkeit verschaffen wollen. So kletterte in den USA ein Schüler aus dem Fenster im dritten Stock, nur um die Telefonleitung zu reparieren, die ihm seine Eltern in letzter Verzweiflung durchgeschnitten hatten. Ein Ehemann in Massachusetts wußte sich nicht mehr anders zu helfen, als das Modem seiner Frau aus dem Fenster zu werfen, weil sie sich weigerte, den PC abzuschalten. Allerdings handelte er sich damit massive Repressalien ein.

Online-Süchtige verlieren den Realitätsbezug

Das New Yorker Marktforschungsunternehmen Jupiter Communications Inc. schätzt, daß im Jahr 2002 allein in den USA 116 Millionen Personen im Internet surfen werden. Zwischen fünf und zehn Prozent davon sollen suchtgefährdet sein. Und die wenigsten lassen sich behandeln.

Dabei erbrachte eine Studie von Kimberly Young bereits im Jahr 1996 erstaunliche Ergebnisse. Die Psychologin an der Universität von Pittsburgh befragte 396 Surfer, die sich selbst als abhängig bezeichneten, sowie eine Kontrollgruppe von 100 Nichtabhängigen. Es zeigte sich, daß die Süchtlinge im Durchschnitt 38,5 Stunden in der Woche im Internet surften, während die Nichtabhängigen weniger als fünf Stunden online waren. Mindestens 90 Prozent der Abhängigen gaben an, dadurch mittelstarke oder heftige Beeinträchtigungen ihres akademischen, zwischenmenschlichen oder finanziellen Umfelds zu erleiden.

Internet-Freaks hängen länger im Netz, als sie planen, kämpfen mit erhöhtem Risiko von Depression und Vereinsamung und verlieren den Realitätsbezug. "Surfer fühlen sich sicher, denn unliebsame Besucher lassen sich einfach per Mausklick entfernen", beschreibt Rachel ihre Erfahrungen. Sie vermutet, daß ihr Ehemann sie am liebsten "in eine andere Dimension gezappt hätte, wenn er einen Zauberstab gehabt hätte".