IT in der Prozeßindustrie/

Integrierte Systeme nicht offen für Integration

06.09.1996

Beim Blick in die Hochglanzbroschüren der Softwarehersteller entsteht der Eindruck, daß es keinen Bereich im Unternehmen mehr gibt, der nicht durch Standardsoftwarelösungen abgedeckt werden kann. Ob Bürokommunikations-, Dokumentenmanagement-, Finanzbuchhaltungs- oder Vertriebsinformationssysteme: Überall gibt es Lösungen, die in allen Industriebereichen eingesetzt werden können. Doch gerade in den Kernbereichen - nämlich Materialwirtschaft, Produktion, der Produktionsplanung, Logistik und Auftragsbearbeitung - trifft dies keinesfalls zu. Projektteams in Unternehmen der chemischen Industrie und der Lebensmittelindustrie sowie in den Unternehmen der dimensionierenden Industrie können ein Lied davon singen, wie schwer es ist, ein Softwaresystem zu finden, das ihre besonderen Anforderungen abdeckt.

Die Wurzel des Übels liegt in der historischen Entwicklung von Standardsoftwarelösungen in Produktion und Logistik und der Marketing-Ausrichtung der großen Softwarebieter integrierter Komplettlösungen.

Entwicklung von Produktionssystemen

Der größte Teil der Standardsoftwarepakete baut auf Basiskonzepten auf, die in den späten 50er Jahren entwickelt wurden und auf den Anforderungen von sogenannten diskreten Fertigungsunternehmen beruhen. Am augenscheinlichsten wird diese Tatsache am Konzept von "Stückliste und Arbeitsplan", das auch heute noch in der überwiegenden Zahl von PPS-Systemen verwendet wird. Es besteht kein Zweifel, daß das, was den ersten PPS-Anwendern wie dem US- Landmaschinenhersteller "JI Case" geholfen hat, auch heute in der diskreten Industrie Gültigkeit besitzt. Immer noch werden Maschinen und elektronische Geräte mit Hilfe von stücklistenbasierenden Systemen geplant und produziert. Das Prinzip, alle Teile und Arbeitsschritte zu definieren, die zur Erzeugung einer diskreten Einheit eines Endproduktes führen, hat sich bis heute in dieser Industrie nicht geändert.

Resultierend aus diesem frühen Erfolg, erkennt man sowohl an Datenstrukturen und Funktionen den ehemaligen Fokus der Softwareunternehmen auf dieses Marktsegment.

Die Frage, ob sich die Systeme auch in anderen Industrien bewährt haben, muß entschieden verneint werden. Hunderte von Unternehmen in der Prozeßindustrie und der dimensionierenden Industrie haben in den letzten 30 Jahren traditionelle Materialbedarfsplanungssysteme implementiert und hohe Beträge ausgegeben, um die Systeme an ihre Anforderungen anzupassen. In nicht wenigen Fällen war dies eine Fehlinvestition.

Themen wie "Kuppelproduktion", "Recycling" und "Chargen-/ Subchargenkontrolle" sind für die Mehrzahl der Softwareanbieter bis heute Fremdwörter. Auch ihr Versuch, die fehlende Funktionalität durch spezielle Module zu komplettieren, hat sich in nur wenigen Fällen bewährt. Am System selbst wurden kosmetische Korrekturen vorgenommen. Da aber Festlegung auf ein integriertes Softwaresystem und dessen Einführung eine Sache ist, die, je nach Umfang des Projektes, sechs- bis siebenstellige Beträge erfordert, kann man sich kaum mehr eine Fehlentscheidung leisten. Auf der anderen Seite wird - angesichts der Vielzahl von Systemen sowie der Breite und Tiefe ihrer Funktionalität - immer undurchschaubarer, welches das richtige System ist.

Werden Materialien und Produkte nur durch den Artikelschlüssel charakterisiert? Die Klassifizierung eines Produktes durch Artikel- oder Materialschlüssel ist in den meisten Fällen nicht praktikabel. Versuche, die Produkte mit all ihren Erscheinungsformen und Ausprägungen durch einen Schlüsselbegriff zu kennzeichnen, führen in dieser Industrie im allgemeinen zu einer nicht mehr überschaubaren und verwaltbaren Vielzahl von Produktnummern.

Beispiel: Ein Hersteller von Aluminiumbändern produziert ein bestimmtes Produkt mit seiner jeweiligen Spezifikation in einer variablen Breite von 500 bis 1000 Millimeter, einer Rollenlänge von 50 bis 100 Meter, zehn Farbvarianten und fünf verschiedenen Beschichtungen. Bei einer möglichen Bandbreite pro Zentimeter und einer Rollenlänge pro Meter ergeben sich in diesem Fall:

50 mal 50 mal 50 mal 5 = 12 500 Artikelnummern für das gleiche Produkt.

Kunden bestellen in vielen Fällen ein Produkt mit bestimmten Ausprägungen, die oftmals sehr spezifisch für eine weitere Verwendung auf den Anlagen dieser Kunden angelegt sein müssen.

Lösungsansatz: Als eine Problemlösung bietet sich die Definition eines Produktschlüssels, der den kleinsten gemeinsamen Nenner eines Produktes oder Materials darstellt. Darüber hinaus muß auf jeder Charge oder Subcharge (Rolle, Coil oder Gebinde) gewährleistet sein, die spezifischen Charakteristika eines Materials zu definieren und zu hinterlegen. Je nach den Parametern des jeweiligen Materials und gemäß den Anforderungen des Unternehmens muß es möglich sein, diese speziellen Merkmale zu führen und in die Funktionalitäten in Materialwirtschaft, Vertrieb, Produktion, Produktionsplanung und Kalkulation einfließen zu lassen.

Unterstützung von dualer Mengenführung: Eingleisige Mengenführung pro Artikel, wie dies in herkömmlichen Produktions- und Logistiklösungen angeboten wird, muß beim Einsatz in der dimensionierenden Industrie scheitern oder dürfte auf

hSchwierigkeiten stoßen.

In vielen Fällen wird das Material oder Produkt - klassifiziert nach Gewicht und anteiliger Höhe des Preises pro Gewichtseinheit - in die Bestandsbewertung übernommen. Kunden zahlen hier oftmals einen Verkaufspreis, bezogen auf Kilogramm oder Teil. Zur Ermittlung der verfügbaren Lagerkapazität ist es gerade bei Regallagerung wichtig zu wissen, wie schwer ein bestimmtes Produkt ist.

Andererseits werden zur gleichen Zeit Informationen bezüglich der Menge an Einzelstücken des gleichen Materials (zum Beispiel Aluplatten) oder der Lauflänge pro Alucoil benötigt. Die Aussage, daß von irgendeinem Produkt 12000 Kilogramm vorhanden sind, besagt nichts über die Anzahl der Einzelstücke im Lager.

Lösungsansatz: Das System muß hier generell eine mehrgleisige Mengenführung ermöglichen. Neben einer führenden Maßeinheit muß es möglich sein, eine zweite Maßeinheit zu integrieren. Die Führung dieser Maßeinheiten sollte hier von der Charge (Serie) bis zum Einzelstück (Rolle, Coil) reichen. Es muß möglich sein, eine dieser Maßeinheiten als Grundlage der Bestandsbewertung zu definieren. Auch für den Vertrieb (Verfügbarkeitsprüfung und Preisfindung) sollten diese Maßeinheiten zur Verfügung stehen.

Führung von Chargen, Subchargen und Einzelstücken gefragt: Chargenführung und die Möglichkeit zur Chargenverfolgung ist heute schon in relativ vielen diskret orientierten Softwaresystemen gegeben. Dies reicht in der Regel nicht aus: Es bestehen hohe Anforderungen, neben der jeweiligen Produktionscharge auch Subchargen und Einzeleinheiten (Rollen, Stücke, Coils) zu führen.

Die das Einzelstück identifizierende Nummer (Subchargen-, Rollennummer) wird in vielen Fällen durch den gesamten Produktionsprozeß beibehalten, was der Funktionalität heute verfügbarer Systeme nicht entspricht. Hier wird vielmehr am Ende des Produktionsschrittes eine neue Identnummer vergeben.

Lösungsansatz: Ein geeignetes System muß, neben einer ausgeprägten Chargenverfolgung und Chargenführung, zwei weitere Ebenen der Bestandsführung gewährleisten:

-Eine Subchargen- und eine Gebinde- oder Einzelstückverfolgung.

-Der Beginn der Vergabe dieser Idente innerhalb des Produktionsablaufes muß frei definierbar sein.

-Des weiteren muß es möglich sein, Chargen- und Subchargennummern durch den gesamten Produktionsprozeß bis zum Endprodukt beizubehalten.

Einsatz von Stücklisten/Arbeitsplänen: Stücklisten und Arbeitspläne sind, wie eingangs erwähnt, aus den Anforderungen diskreter Fertigungsunternehmen entstanden. Die Hauptaufgabe von Stücklisten war und ist die Unterstützung der Materialbedarfsplanung durch Auflösung aller für die Fertigung notwendigen Einsatzmaterialien und Komponenten. Speziell in Industrien, die Produkte durch Zusammenbau und Montage herstellen, erfüllen Stücklisten ihre Aufgabe.

In der dimensionierenden Industrie sind diese Arbeitsweisen jedoch kaum zu finden. Hier entstehen Produkte durch spezielle Prozesse. Oft wird ein Haupteinsatzmaterial durch Prozesse wie Walzen, Beschichten, Drucken und Schneiden/Konfektionieren erzeugt. In diesem Fall ist eine Beschreibung und Definition des gesamten Produktionsprozesses einer lediglich materialorientierten Sicht vorzuziehen. Faktoren wie Energien, Personaleinsatz, Maschinen und andere Prozeßkomponenten spielen in diesen Fertigungsstrukturen eine dem Materialeinsatz mindestens ebenbürtige Rolle.

Stücklisten-orientierte Systeme sind immer auf die Erzeugung eines Endproduktes ausgerichtet. Im Verlauf verschiedener Prozesse, wie zum Beispiel beim Schneiden oder beim Walzen, fallen jedoch unerwünschte Abschnitte, Vorläufe oder Reste an, die in der Materialwirtschaft, der Produktion und insbesondere in Vor- und Nachkalkulation berücksichtigt werden müssen. Dies bedeutet aber auch, daß diese Neben-, Kuppel-, Abfall- und Recyclingprodukte in der Prozeßstruktur, die zu einem oder mehreren Produkt(en) führt, definiert werden können.

Da Prozesse stark von der Technologie abhängig sind, mit der sie gefertigt werden, führt eine Trennung von Materialstruktur (Stückliste) und Fertigungsstruktur (Arbeitsplan) oftmals zu inkorrekten Ergebnissen in Planung und Produktion.

Lösungsansatz: Eine ganzheitliche Betrachtung des Fertigungsprozesses (Prozeßmodell, Produktionsmodell) ist einer Aufsplittung in Stückliste und Arbeitsplan vorzuziehen. Es muß möglich sein, in diesen Prozeßdefinitionen alle für Fertigung, Kalkulation oder Planung wichtigen Faktoren zu hinterlegen - ob Energien, Arbeit, Kosten, Material oder andere. Dies darf sich jedoch nicht nur auf Einsatzfaktoren beschränken, sondern muß ebenfalls bei den produzierten Endergebnissen etwa in Form von Abfall, Kuppelprodukten oder Recyclingmaterial, der Fall sein.

Alternative Produktionsverfahren (Anlagen beziehungsweise Technologien), die zum gleichen Produkt führen, müssen unabhängig voneinander definiert und verwaltet werden.

Technologische Anforderungen: Es ist nicht realistisch anzunehmen, daß es irgendein Standardsoftwareprodukt gibt oder geben wird, das alle Anforderungen eines speziellen Anwenders abdecken kann. Es gilt, das System zu finden, das den größten Prozentsatz der Anforderungen abdecken kann. Um das Delta zwischen Anforderung und Abdeckungsgrad der Software zu überbrücken, haben Unternehmen große Summen in Anpassungsprogrammierung und Modifizierung investiert.

Anpassung von Standardsoftware: Der Hauptgrund, weshalb Anwender und auch Software-Anbieter sich dagegen sträuben, die Modifizierung einer Standardsoftware vorzunehmen, liegt im Verlust der sogenannten Releasefähigkeit und somit aller Vorteile bei Erwerb einer Standardlösung. Nichtsdestotrotz finden sich Heerscharen von Anwendern in der Situation wieder, daß aus dem ehemaligen Standardpaket eine angepaßte Kundenlösung wird, deren Modifikation, Pflege und Weiterentwicklung schnell ein Vielfaches der Lizenzgebühr des Standardpakets kostet. Hinzu kommt der erforderliche Zeitaufwand für die Anpassung eines neuen Releases mit seinen oftmals wertvollen Funktionalitäten.

Die Technologie in der Softwareentwicklung hat bislang nur die Produktivität des Softwareentwicklers unterstützt, nicht die Interessen der Anwender. Vor einem Einsatz von Technologieplattformen, die auf dieser alten Maxime basieren, ist zu warnen.

Lösungsansatz: Die Aussage, daß Änderungen der Funktionalität oder der Datenstruktur zu einem Verlust von Releasefähigkeit führen, verliert mit den neuen Technologien und Werkzeugen in der Software-Entwicklung ihre Berechtigung. Technologien wie die objektorientierte Softwareentwicklung haben Anwendungen hervorgebracht, die vom Anwender gestaltet und geändert werden können, ohne daß Auswirkungen auf den Standard der Programme zu befürchten sind. Da, wie schon erwähnt, kaum ein Unternehmen den puren Standard einführen wird und die Modifizierung enorme Summen verschlingen kann, ist verstärktes Augenmerk auf diesen Faktor zu richten.

Integration bei Komplettlösungen: Integration wird als Hauptargument herangezogen, um Standardkomplettlösungen einzusetzen. Leider bezieht sich Integration bislang immer auf eine Softwarelösung. Alle Funktionen und Daten sind integriert, solange es sich um das Paket eines Lieferanten handelt. Integration bezieht sich bislang weniger auf die Einbindung anderer Anwendungen anderer Anbieter. Es steht nicht zu erwarten, daß es einen Softwarehersteller gibt, der alle Bereiche eines Industrieunternehmens mit seinen Produkten beliefern kann. Ebenso illusorisch ist die Vorstellung, daß ein Hersteller alle Industriezweige aus seiner Produktpalette mit den optimalen Lösungen versorgen könnte. Es wird immer Spezialisten geben, die in bestimmten Gebieten Lösungen offerieren, aber nicht alle Unternehmensbereiche abdecken. Bislang sprach gegen einen Einsatz solcher Systeme immer der Aufwand bei Integration der Produkte. Standardisierungen zur Kommunikation zwischen Produkten verschiedener Anbieter, wie es die OAG (Open Applications Group) betreibt, verleihen dem Begriff "Integration" heute schon eine neue Dimension.

Lösungsansatz: Moderne Systeme benutzen normierte Schnittstellen (APIs), die sich mittels standardisierter Nachrichten mit Fremdanwendungen kommunizieren können und so eine Integration der jeweils besten Systeme in ihrem Bereich ermöglichen. Dies übertrifft die Funktionalität rein betriebswirtschaftlicher und produktionsbezogener Anwendungen bei weitem. Die neue Generation von Systemen integriert auch alle Standard-Desktop-Anwendungen - wie Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Mail- und Präsentationssysteme und kann auch für diesen Bereich Investitionsschutz gewährleisten.

Wesentlich bei dieser Entwicklung ist, daß Systeme den wichtigsten Industriestandards entsprechen (OAG, COBRA, OLE). Nur so läßt sich die Abhängigkeit von einem einzigen Lieferanten mit allen damit verbundenen sattsam bekannten Unliebigkeiten und Nachteilen vermeiden.

Angeklickt

Häufig wird noch getrennt zwischen Materialstruktur (Stückliste) und Fertigungsstruktur (Arbeitsplan). Das führt in der Regel zu inkorrekten Ergebnissen. Eine ganzheitliche Betrachtung ist dieser Aufsplittung vorzuziehen. Dennoch sind Standardkomplettlösungen nicht das Mittel der Wahl. Moderne Systeme nutzen normierte Schnittstellen (APIs), die die Integration der jeweils besten Systeme ermöglichen.

"Dimensionierende Industrie"

Was unterscheidet die dimensionierende Industrie von anderen Fertigungsunternehmen, und welche Unternehmen fallen unter diese Kategorie?

Der dimensionierenden Industrie sind diejenigen Unternehmen zuzurechnen, deren Produkte sich nicht durch einen Artikel oder Materialschlüssel in ihrer genauen Ausprägung beschreiben lassen. Vielmehr sind weitere kennzeichnende Merkmale notwendig, um ein Produkt genau charakterisieren zu können, wie Breite, Dicke, Länge, Durchmesser, Farbe oder weitere Charakteristika.

Typische Beispiele sind Unternehmen, die folgende Produkte fertigen:

- Aluminiumbänder und -folien

- Papier und Tapeten

- Fußbodenbeläge und Teppiche

- Folienhersteller

- Graphitelektroden

- Bau- und Dämmstoffe

- Deckenelemente

Die Anforderungen an die Funktionalität integrierter Softwarelösungen unterscheiden sich bei diesen Unternehmen wesentlich von denen diskreter Fertigungsunternehmen, wie zum Beispiel eines Herstellers von Küchenmaschinen.

*Frank Schiewer ist Anwendungsberater bei der Marcam GmbH in Düsseldorf.