Bewertungskriterien für die grafische DV in Entwicklung und Konstruktion:

Integration für alle Anwendungen erreichen

23.04.1982

Mit der Einzel- und Kleinserienfertigung von Maschinen für die Papierverarbeitungs-, Kartonagen- und Getränkeindustrie befaßt sich die Jagenberg-Werke AG. Die Einführung der grafischen Datenverarbeitung sollte bei dem Düsseldorfer Unternehmen zu einer höheren Wirtschaftlichkeit führen und die Konkurrenzfähigkeit des Maschinenherstellers verbessern. Dr.-Ing. Ewald G. Welp, Leiter der Entwicklungs- und Versuchsanstalt von Jagenberg, beschreibt Einsatzbeispiele und Anwendungskonzepte in seinem Unternehmen.

Vor der Einführung der grafischen Datenverarbeitung in unserem Unternehmen wurden Computer vorrangig im kommerziellen, daneben im technisch-wissenschaftlichen Bereich und im Fertigungsbereich eingesetzt. Im Entwicklungs- und Konstruktionsbereich werden jetzt auch mit Hilfe der DV umfangreiche technisch-wissenschaftliche Berechnungsprobleme sowie administrative Konstruktionsaufgaben, wie zum Beispiel Stücklistenverwaltung, gelöst.

Bei der Einführung der grafischen Datenverarbeitung sind bestimmte organisatorische und personelle Voraussetzungen zu berücksichtigen.

Insbesondere sind wir gewillt, einen wesentlichen Anteil der Software anwendungsorientiert selbst zu entwickeln. Wir meinen, daß der Einsatz schlüsselfertiger, das heißt firmenfremder Hard- und Software-Systeme zu außerordentlichen Schwierigkeiten führen kann, vor allem dann, wenn Art und Philosophie der Programmierung keinen Richtlinien und Normen unterliegen sowie eine Anbindung an vorhandene Hard- und Software-Systeme unmöglich ist.

Forderungen

Die an der grafischen Datenverarbeitung bei uns beteiligten Gruppen stellen verschiedenartige Forderungen. Für das Unternehmen steht die Wirtschaftlichkeit im Vordergrund. Es sollte dafür als Bemessungsgrundlage die folgenden Bewertungskriterien nach ausreichender Entwicklungs- und Anwendungszeit verwenden:

- Grad der Rationalisierung im Sinne einer Produktivitätssteigerung,

- Grad der Integration horizontal im Sinne einer geschlossenen Bearbeitung über Bereiche und Abteilungen hinweg, vertikal im Sinne einer tieferen Durchdringung des Problems,

- Grad des technischen Fortschritts im Sinne einer Produkt- und Funktionsverbesserung.

Die Forderungen unserer zentralen Entwicklungsstelle für CAD-Software sind ausgerichtet auf ausreichende Rechnerkapazität wie Speicherplatz, Rechen- und Antwortzeiten, auf geeignete Peripherie am Arbeitsplatz wie Digitalisiertablett, Drucker, Hardcopyeinheit, auf erweiterungsfreundliche Basis-Software mit einer CAD-orientierten Programmiersprache, mit strukturierter Programmierung und sauberen Programm- und Datenschnittstellen.

Die Gruppe der Anwendet fordert benutzerfreundliche Programme mit hohem Dialoggrad, kurze Antwortzeiten bei anstehenden Problemen, allgemeine Zugänglichkeiten der Hard- und Software, geringen Verwaltungsaufwand, benutzerorientierte Programmdokumentation. Parallel zu diesen Forderungen der verschiedenen Unternehmensgruppen wurden aus Einsatzbeispielen und Anwendungskonzepten Entscheidungskriterien für die Realisierungsphase abgeleitet.

Realisierung

Die Realisierung basiert auf den unternehmensspezifischen Bedürfnissen und Möglichkeiten. Es ist zweckmäßig, von einem unternehmensspezifischen Lösungsraum für CAD- und CAM-Anwendungen, auszugehen, der die Produktionsphasen und als Parameter die Konstruktionsobjekte enthält (Abbildung 1). Die Analyse des Soll-Zustandes bei uns ergibt eine Betonung der Produktionsphasen Angebotserstellung, Funktionsfindung, Prinziperarbeitung, technische Berechnungen, Fertigungsunterlagen und Dokumentation, wobei besonderes Gewicht auf die Phasen technische Berechnung, Fertigungsunterlagen und Fertigungssteuerung gelegt wird. Daraus folgt die Notwendigkeit, ein erweiterungsfähiges CAD-Hardware und Software-System zu installieren.

Diese Vorgehensweise schließt kurz- und mittelfristig Insellösungen, wie zum Beispiel schlüsselfertige Systeme oder vorwiegend grafisch orientierte Systeme, aus.

Diese Überlegungen führten zu der in Abbildung 2 dargestellten und besonders hervorgehobenen Hardwarekonfiguration für den technischen Unternehmensbereich.

Ausgehend vom Leitgedanken einer zentralen DV wird der Rechner IBM 4341 dieser Duplex-Anordnung bei Erhalt der vollen Kompatibilität vorrangig für technische Datenverarbeitung, insbesondere für die grafische DV, eingesetzt.

Die Zuordnung und Verteilung der grafischen Arbeitsplätze IBM 3277GA¹ erfolgt Pool-orientiert. So bilden die erwähnte zentrale Entwicklungsstelle und die NC-Programmierung, auch örtlich gesehen, eigene Pools. Weitere Pools entstehen kontinuierlich im Bereich der

Konstruktionsabteilungen mit der Übergabe abgeschlossener und freigegebener CAD-Entwicklungsprojekte an die Benutzer. Im Sinne der Benutzerakzeptanz erfolgt die Einrichtung dieser Arbeitsplätze mit Bedacht und unter Einbeziehung der Arbeitnehmervertreter.

Die gewählte IBM-Software GIAM² als allgemeine grafische Kommandosprache bietet besondere Vorteile hinsichtlich der Erweiterung um benutzereigene Programme, Bildung von Makroinstruktionen für eine benutzerfreundliche Handhabung sowie die Verfügbarkeit der erzeugten Daten für die weitere Verwendung. Um den Forderungen der horizontalen Integration nachzukommen wurden für den Bereich Numerical Control beziehungsweise NC-Fertigung das von IBM angebotene Softwarepaket APL*APT³ installiert. Mit dieser Installation wird die Kopplung zu GIAM hergestellt. Für gewisse Anwendungen in der technischen Berechnung eignet sich GAS-APL4, als Basis-Software, wie gezeigt wird.

Die hier erläuterten Einsatzbeispiele und Anwendungskonzepte für IBM 3277GA mit GIAM, GAS-APL, APL*APT sind der derzeitigen Entwicklungsphase entnommen und können deshalb nicht als abgeschlossene Projekte angesehen werden.

Technische Berechnungen

Für sogenannte kinematische Berechnungen - beispielsweise zur Konstruktion des Antriebs einer Etikettierstation - wurden von Jagenberg eine umfangreiche Basis-Software und anwendungsspezifische Software in Fortran entwickelt. Die bisher in Tabellenform und als Plotterzeichnungen vorliegenden Ergebnisse eigneten sich jedoch nicht für Optimierungen. Aus diesem Grunde wurde die Basis-Software in APL übertragen und durch grafische GAS-APL-Funktionen erweitert .Durch diese grafische Unterstützung der Kinematik-Software gelingt es nun, bei schrittweiser Berechnung Bewegungsabläufe im Bildwiederhol-Modus auf dem grafischen Schirm in bewegten Bildern sichtbar zu machen (Abbildung 3). Hierdurch wird dem Anwender eine ausgezeichnete Möglichkeit für die Entwicklung und Optimierung ungleichförmig übersetzender Getriebe- Kurvenscheiben- und Kurbelgetriebe-gegeben.

Eine weitere Anwendung auf dem Gebiet der technischen Berechnungen ist die Generierung von FE-Netzen 5 im Dialog auf der Basis von GAS-APL in Verbindung mit benutzereigener APL-Software. Die Generierung ist in hohem Grade interaktiv. Sie beginnt im ersten Shritt mit der Konturaufnahme des Bauteils auf dem Digitalisiergerät oder durch detaillierte Koordinateneingabe über den alphanumerischen Bildschirm. Im zweiten Schritt werden Superelemente in der Kontur definiert, die anschließend durch einen Berechnungsschritt die gewünschte Anzahl von finiten Elementen erhalten. Der Netzerzeugung kann der dritte Schritt, die Netzmanipulation (Verschieben von Knoten und Knotenlinien, Ergänzen oder Eliminieren von Elementen und so weiter), folgen.

Variantenkonstruktion

Die grafische DV wird für Variantenkonstruktionen in unserem Unternehmen immer dort eingeführt werden, wo eine Verbesserung der vertikalen und horizontalen Integration und eine Produktivitätssteigerung zu erwarten sind. Als Beispiel sei die Konstruktion der Formatteile im Etikettiermaschinenbau erwähnt. Als Formatteile werden die Bauteile verstanden, die in ihrer Gestaltung unmittelbar von den zu verarbeitenden Etiketten abhängen.

Diese Aufgabe wird mit GIAM bearbeitet und so durchgeführt, daß ausgehend von der konkreten Etikettengeometrie, die vom Digitalisiergerät aufgenommen wird (Abbildung 4), auf dem grafischen Bildschirm im Dialog Anordnung und Gestaltung der Bauelemente weitgehend automatisch erzeugt werden. Als Ergebnisse entstehen vom Plotter ausgegebene Zusammenstellungs- und Einzelteilzeichnungen (Abbildung 5), alle geometrischen Daten für die Weiterverwendung in APL*APT und somit die Unterlagen für die NC-Fertigung.

Wie aus dem unternehmensspezifischen CAD/CAM-Lösungsraum zu erkennen ist, soll die grafische Datenverarbeitung, auch für administrative Produktionsphasen herangezogen werden. Der elektrische Anordnungsplan - beispielsweise für eine Papierverarbeitungsmaschine - entsteht unter Verwendung von GIAM dadurch, daß den jeweiligen Positionen, in der von einer Datei abgerufenen Maschinendarstellung, elektrische Elemente in symbolischer Darstellung zugeordnet werden. Das Ergebnis der grafischen Darstellung und auch die erzeugten Listen der eingesetzten elektrischen Elemente können für die Stücklisten, den Einkauf oder die Dokumentation verwendet werden. Die gleichzeitige Speicherung der Ergebnisse erlaubt den schnellen Datenzugriff bei gleichen oder ähnlichen Maschinen dieser Produktgruppe.

Die kurz beschriebenen Einsatzbeispiele und Anwendungskonzepte zeigen deutlich, daß eine quantitative Beurteilung von Aufwand und Nutzen gegenwärtig noch nicht möglich ist. Faßt man jedoch die aufgezeigten Bewertungen für den angestrebten Nutzen zusammen, dann lassen sich das kurz- und mittelfristige Ziel erkennen. Die grafische Datenverarbeitung soll in allen Bereichen den technischen Fortschritt fördern, besonders bei den technischen Berechnungen.

Erste Beispiele

Die Rationalisierung im Sinne einer Produktivitätssteigerung, die natürlich in allen Anwendungsbereichen wirksam werden muß, wird beispielsweise auf dem Gebiet der technischen Berechnungen bereits sichtbar. Die Auslegung und Optimierung von Kurvenscheiben- und Kurbelgetrieben bis hin zum Bewegungsablauf der konkreten Getriebeglieder wird im Dialog am grafischen Bildschirm durchgeführt und reduziert die Bearbeitungszeit um ein Vielfaches gegenüber dem zuvor praktizierten Verfahren: Berechnungen im Stapelbetrieb, grafische Ausgabe auf dem Plotter.

Durch Hardware- und Software-Investitionen für die grafische Datenverarbeitung entstehen dem Unternehmen Fixkosten oder Bereitschaftskosten, die nicht unabhängig von der Art und von dem Umgang sind. Um diese Kosten günstig zu beeinflussen, muß darauf geachtet werden, daß Softwaresysteme zur Hardwarekonfiguration passen, Programme und Dateien gepflegt werden, um Datenexplosionen zu vermeiden. Weitere Kosten entstehen durch die Erstellung von ergänzender Software für firmenspezifische Problemlösungen. Man kann sie als produktfixe oder programmfixe Kosten bezeichnen. Sie sollen sich binnen eines gewissen Zeitraumes durch vermehrte Anwendung amortisieren und haben somit den Charakter einer Investition.

Durch die Einführung der grafischen Datenverarbeitung wird eine personelle Umstrukturierung stattfinden. Es muß jedoch gewährleistet bleiben, daß die Mitarbeiter der Entwicklung folgen können. Dies

bedeutet in der Einführungsphase, daß entsprechende Mittel für die Ausbildung verfügbar sein müssen.

Gekürzte Fassung eines Beitrages aus den IBM Nachrichten 32 (1982),Heft 258. Nachdruck freundlicher Genehmigung der IBM Deutschland GmbH.