Innovation bedeutet nicht nur Technik

12.09.1986

Man sollte es deutlich aussprechen: Der von Herstellern vielbeklagte und von Branchenauguren häufig konstatierte "Anwendungsstau" für neue Bürotechnik kann eigentlich nicht überraschen. Sicher, gemessen an den technikeuphorischen Prophezeiungen eines "Büro 2000", die in den siebziger Jahren im Umlauf waren, und wohl auch an den technisch bereits verfügbaren Möglichkeiten zur Integration von Daten, Text, Bild und Sprache sowie zur Vernetzung von bisher isolierten Geräten ist das Lamento der Hersteller verständlich; doch steht die schöne heile Technikwelt des papierlosen Büros, die in den Hersteller-Prospekten aufscheint, in deutlichem Kontrast zu der zunehmenden Skepsis von Anwendern, die bereits ihre eigenen leidvollen Erfahrungen mit sehr viel bescheideneren Technikanwendungen gemacht haben. Diese Anwenderskepsis erwächst nicht nur aus Erfahrungen mit der systemtechnischen Leistungsfähigkeit der Hersteller, sondern auch aus Akzeptanzproblemen bei den eigentlichen Nutzern der Systeme; diese Akzeptanz will sich in der Praxis oft genug nicht allein deshalb einstellen, weil neue Geräte und Systeme doch eine Erleichterung der Arbeit versprechen.

Hersteller, besonders aber die Anwender, haben deshalb Lehrgeld bei der Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechnik (IuK) zahlen müssen, und ein wesentlicher Grund dafür ist sicherlich ein verkürztes Innovationsverständnis; denn wer bei Innovationen immer nur an Technik denkt, braucht sich über Mißerfolge nicht zu wundern. Viele Innovations- und Investitionsruinen - seien es nun beispielsweise Textsysteme, die als Edelvervielfältiger genutzt oder aber flexible, vernetzte Systeme, die in einem engmaschigen Netz hierarchisch gestufter Zugriffskontrollen und tayloristischer Formen der Arbeitseinteilung ihr eigentliches Leistungspotential nicht entfalten können - sind oft genug die Folge eines solchen technisch verkürzten Weges in die Bürozukunft.

Es gibt jedoch ermutigende Anzeichen, daß die schwindende Technikfaszination einer neuen Nachdenklichkeit Platz macht, die zu einem neuen Verständnis von Innovation führen könnte. Gefragt ist ein Innovationsverständnis, in dem nicht die Technik, sondern die ökonomischen, organisatorischen und sozialen Aspekte ihres Einsatzes in den Mittelpunkt der Überlegungen rücken. Die Leitvorstellung "Organisation kommt vor Technik", die H.-J. Bullinger schon vor einiger Zeit den Anwendern ins Pflichtenheft für Technikeinführungen geschrieben hat, weist hier in die richtige Richtung.

Im Programm der Bundesregierung "Forschung zur Humanisierung des Arbeitslebens (HdA) wird ein solcher ganzheitlich orientierter Innovationsansatz bei der Förderung der menschengerechten Anwendung neuer Bürotechnik verfolgt. In Untersuchungen, vor allem aber praktischen Modellversuchen in Industriebetrieben, Behörden und privaten Dienstleistungsunternehmen werden jeweils technisch-organisatorische Lösungen erarbeitet und erprobt, die das enorme Gestaltungspotential und die hohe Anwendungsflexibilität neuer IuK-Technik unter menschengerechten und zugleich wirtschaftlichen Gesichtspunkten ausloten und demonstrieren sollen. Die wichtigsten Ansatzpunkte und Gestaltungsdimensionen für menschengerechte Lösungen liegen dabei in den folgenden Bereichen:

Mit neuen IuK-Techniken kann der Beschäftigte sicher in vielen Arbeitsbereichen von einfachen, häufig monotonen und manuell aufwendigen Arbeiten entlastet werden. Andererseits tritt jedoch mit neuen Techniken eine Verschiebung der Belastungskonstellation zu eher psychomentalen Belastungen ein. Eine neuartige Verhaltensdisziplin, Dauerkonzentration, eine neue technisch bestimmte Gleichförmigkeit der Anforderungen sowie eine Leistungsverdichtung sind häufig beobachtete Folgen der Arbeit am Bildschirm, die sich in einem erhöhten Beanspruchungsempfinden niederschlagen können. Die Arbeitsgestaltung muß sich deshalb von dem Ziel leiten lassen, Über- und Unterforderungen zu vermeiden, sowohl durch entsprechende Maßnahmen der Softwaregestaltung wie auch arbeitsorganisatorisch durch die Mischung unterschiedlich belastungsintensiver Tätigkeitsbestandteile. Positive Erfahrungen mit solchen Mischarbeitsformen liegen zwar für Schreibtätigkeiten vor, fehlen aber weitgehend für den Bereich der technisch unterstützten Sachbearbeitung im administrativen und technischen Büro.

Neue IuK-Techniken ermöglichen eine Reduzierung der Arbeitsteilung im Sinne einer Schaffung ganzheitlicher Tätigkeiten mit höheren Anforderungen und erweiterten Handlungsspielräumen. Dies ist jedoch keine zwangsläufige Folge des Technikeinsatzes. Besonders für Sachbearbeiter- und Fachaufgaben (und hier sowohl im administrativen wie technischen Büro!) stellt sich die Frage, ob das Modell der integrierten oder "autarken" Sachbearbeitung, das auf viele Org./DV-EDV-Planer eine beträchtliche Faszination ausübt, als generelles zukunftsweisendes Modell angesehen zu werden.

Für viele Aufgabenstellungen, (zum Beispiel relativ heterogener und komplexer Art) von Verwaltungseinheiten dürfte etwa ein Modell qualifizierter Unterstützungstätigkeit im Rahmen einer flexiblen, kooperativen Arbeitsteilung zwischen Unterstützungskraft und Sachbearbeiter die angemessene Lösung darstellen. Darüber hinaus muß bei der Einführung integrierter Sachbearbeitung im einzelnen geprüft werden, welche Tätigkeitselemente integriert und wie die Funktionsteilung zwischen Mensch und Maschine konkret unter Berücksichtigung einer entsprechend gestalteten Software aussehen soll. Völlig fehlen dagegen neue Organisationskonzepte für ganze Verwaltungseinheiten, die die Möglichkeiten integrierter, vernetzter Systeme ausschöpfen können. So wäre zum Beispiel eine Vereinfachung von Organisationsstrukturen und eine Ausdünnung von Hierarchien sicher möglich, wird sich aber mit der Technikeinführung nicht von selbst ergeben. Im Gegenteil steht zu befürchen, daß Lösungen, die bisherige Arbeitsteilungen und Kompetenzen konservieren, vorherrschen werden. Hier bedarf es neben der Entwicklung entsprechender Gestaltungskonzepte auch neuer Verfahren und Instrumente des Innovationsmanagements.

Mit neuen Techniken kommen neue Anforderungen auf die Beschäftigten zu, die teilweise zu gänzlich neuen Tätigkeitsbildern führen werden; andererseits besteht bei entsprechenden Qualifikationsengpässen immer die Gefahr, daß mangelnde Qualifikationen durch "intelligente" Software ersetzt wird und dem Menschen lediglich qualifikationsarme Restfunktionen verbleiben, die gesicherte berufliche Entwicklungsmöglichkeiten verhindern. Solche Gefahren können nur durch eine breitangelegte Weiterbildungsoffensive vermieden werden. Gefragt sind deshalb Qualifizierungsmodelle, die fachliche, technische und sozial-innovatorische Qualifikationsinhalte gleichermaßen umfassen und gleichzeitig neue Wege eröffnen, wie der betriebliche Stellenwert von Qualifizierung als einer "Restgröße" von Reorganisationsmaßnahmen überwunden werden kann.

Hier hat sich in den letzten Jahren ein deutlicher Klimawechsel vollzogen: Es gibt kaum eine Technikeinführung (und schon gar nicht im Büro), bei der nicht aus Sorge um die Akzeptanz eine Beteiligung der betroffenen Nutzer vorgesehen wird -wenngleich Art und Ausmaß dieser Beteiligung extrem unterschiedlich ausfallen können und nun sicher in vielen Fällen von einer Pseudo-Beteiligung sprechen kann. Die Beteiligungsansätze müssen gezielt in zwei Richtungen weiterentwickelt werden: einmal in Richtung praktikabler Verfahren bei der Softwareentwicklung oder -anpassung, die Systementwickler und Planer zu einem frühen Zeitpunkt in einen konstruktiven Dialog mit den späteren Nutzern bringen; zum anderen bei der Einführung integrierter Technik in Richtung von Organisationsentwicklungsansätzen, die auf Veränderungen ganzer Organisationseinheiten und -kulturen zielen.

Die traditionellen Wirtschaftlichkeitsverfahren, die zur Bewertung von Reorganisationsmaßnahmen im Büro zur Verfügung stehen, sind größtenteils geräte- oder arbeitsplatzorientierte Amortisationsrechnungen. Damit können weder qualitative Faktoren (wie Erhöhung der Informationsverfügbarkeit, Versteifung des Informationsflusses, Verbesserung der Abstimmungsmöglichkeiten, Erhöhung der Flexibilität und Verbesserung der Dienstleistung) noch der Verbundaspekt der Leistungserstellung hinreichend erfaßt werden. Wenn nicht die Chancen echter Innovationen schon im Planungsstadium von Reorganisationen zunichte gemacht werden sollen, müssen deshalb neue Verfahren entwickelt und erprobt werden.

Es gibt also noch eine Menge zu tun, was Phantasie, Augenmaß und Durchsetzungsvermögen aller Beteiligten am Innovationsprozeß erfordert. Das HdA-Programm versucht, hier in der Praxis vorhandene zukunftsweisende Ansätze und Ideen zu unterstützen und weiterzuentwickeln. Die Lösung der anstehenden Zukunftsaufgaben dürfte jedenfalls nur dann möglich sein, wenn auch Antworten auf die genannten Probleme gefunden werden.