Informationverschmutzung psychisch mobil bekämpfen

10.06.1988

Dr. Klaus Haefner, Professor für angewandte Informatik Universität Bremen

Bis zur Erfindung des Kraftfahrzeugs war der Mensch in seiner physischen Mobilität ausschließlich auf biologische Leistungen angewiesen, auf seine eigenen Beine oder die seines Pferdes. Die Verkehrstechnik erweiterte die menschliche Mobilität in hohem Maße. Wir nutzen heute mit dem Auto gut die zehnfache und mit dem Flugzeug zirka die hundertfache Geschwindigkeit und Reichweite.

Die intensive Nutzung der Potentiale der Verkehrstechnik - und inbesondere des Automobils - setzt allerdings dreierlei voraus: Ein individuell nutzbares Fahrzeug, eine angemessene Infrastruktur und die persönliche Fähigkeit, sich mit dem Fahrzeug in der Infrastruktur aus Verkehrswegen und Verkehrsregeln angemessen zu bewegen. Heute - nach einer hundertjährigen Entwicklung - nutzen breite Schichten der Bevölkerung physische Mobilität mit Verkehrstechnik, wenn es auch immer noch zu viele Unfälle gibt.

Durch Computer und moderne Telekommunikation haben wir mittlerweile eine analoge, aber viel mächtigere Option: die psychische Mobilität durch Informationstechnik. Allerdings ergibt sich derzeit eine mit der Frühgeschichte des Automobils vergleichbare Situation: Heutige "Denkzeuge" sind zwar leistungsfähig, aber wenig benutzerfreundlich. In Analogie zum Kraftfahrzeug der zwanziger Jahre muß man bei einem fremden System lange nach "Gas" und "Bremse" suchen. Es gibt noch keine Standards, geschweige denn Normen in der Mensch/Computer-Kommunikation .

Auch die Infrastrukturen lassen zu wünschen übrig, Netzwerke sind langsam und teuer, die Zugänge kompliziert und unübersichtlich, das Regelwerk wenig transparent. Will man ans Netz, so müssen lästige, von der Post regulierte Routinen abgewickelt werden. Ein direktes "Anzapfen" ist - vergleichbar mit der Tankstelle, wo Hardware in Hardware gesteckt wird - kaum möglich. Erst ISDN wird hier Abhilfe schaffen.

Die größten Defizite liegen aber vor allem beim Menschen: Nur wenige besitzen einen "Informationstechnik-Führerschein", und viele wissen kaum etwas über die Struktur der technisch bestimmten informationellen Umwelt, in der sie sich - in unserer Analogie zur physischen Mobilität - "besoffen" und "auf der linken Straßenseite" bewegen (siehe "Vielseher" oder "Basic-Freaks").

Wir brauchen also eine neuartige Grundbildung breiter Schichten - insbesondere auch der älteren Generation -, um die psychische Mobilität mit Informationstechnik zu realisieren: Es sind die Grundstrukturen der Informationstechnik, die Mensch/Computer-Kommunikation und die Struktur der informationellen Umwelt zu vermitteln. Die bisherigen Bemühungen in den Schulen, Hochschulen und Betrieben sind noch zu verstärken.

Darüber hinaus wird es immer wichtiger, die "typisch menschlichen" Qualifikationen jenseits der Leistung der Informationstechnik zu vermitteln: Fähigkeiten zum Verständnis von Zusammenhängen, zur Sozialisation und zur Kommunikation, Kreativität und Innovativität, Fleiß und Motivation müssen in viel höherem Maße als je zuvor verbreitet und erworben werden. Hier kann nur der Mensch wirksam werden.

Die Zukunft unserer Wirtschaft, unseres Privat- und unseres Gesellschaftslebens darf nicht primär von den Informatikern gestaltet werden, sondern von verantwortungsbewußten Menschen, die ihre psychische Mobilität mit dem Denkzeug Informationstechnik nutzen, um typisch menschliche Probleme zu lösen, und ihre Interessen entsprechend zu vertreten.

Mittelfristig wird nur der Betrieb überleben, der eine angemessene Komplementarität menschlicher und technischer Informationsverarbeitung in einer ClM-Welt organisiert. Es werden nur die Familien stabil bleiben, die sich ihre informationelle Umwelt nach humanen Kriterien selbst organisieren und der "Informationsverschmutzung" widerstehen. Nur der Staat wird politisch und sozial stabil bleiben, der den Weg in eine "direktere" Demokratie findet in der der durch Informationstechnik psychisch mobile Mensch aktiv am politischen Geschehen mitwirken kann.

Der Schritt vom "autonomen" nur auf sein Gehirn angewiesenen Homo sapiens zum technisch unterstützten, psychisch mobilen "Homo sapiens informaticus" ist eine notwendige Voraussetzung für den Weg in eine human computerisierte Gesellschaft. Wird dieser Weg nicht gegangen, so droht uns das, was die Gegner des Automobils um die Jahrhundertwende prophezeit haben: "Einige wenige werden sich die Technik aneignen und damit den Rest überfahren!"