Interview mit dem IT-Leiter der Europäischen Südsternwarte

Informationstechnologie am Ende der Welt

09.06.2015
Von   
Dirk Stähler befasst sich seit vielen Jahren mit der innovativen Gestaltung von Organisationen, Prozessen und IT-Systemen.

Stähler: Wie begegnen Sie den immer schnelleren Lebenszyklen bei der Hardware?

Wright: Pragmatisch. Wir kaufen gerade den erwarteten Bedarf an M620 für das ganze Jahr auf Vorrat um diesem Problem aus dem Weg zu gehen. In Kürze veröffentlichen wir eine neue Version der ESO Software. Wenn wir gleichzeitig gezwungen wären auf einen neuen Servertyp umzustellen, müssten wir alles neu testen. Wir hoffen die Problematik dadurch etwas abzuschwächen. Ob uns das auf Dauer gelingt weis ich noch nicht.
Die Hersteller haben ihre eigene Planung und die fokussiert primär darauf Einheiten zu verkaufen. Die hohe Entwicklungsgeschwindigkeit bei neuer Hardware ist für die ESO definitiv nicht hilfreich. Die Leistungsfähigkeit die wir mit unseren Systemen erreicht haben ist aktuell bei weitem ausreichend. Wir brauchen nicht jedes Jahr neue Hardware. Mit dem E-ELT wird sich das sicher ändern, aber da sprechen wir über Zeiträume von mehreren Jahren.

Aktuell errichtet die ESO auf dem 20 Kilometer von Paranal entfernten Berg Armazones das European Extremely Large Telescope (E-ELT). Mit einem Hauptspiegel von 39 Metern Durchmesser aus 798 sechseckigen Spiegelelementen wird es das weltweit größte optische Teleskop. Seine Instrumente werden um Größenordnungen leistungsfähiger sein, als die aller bisherigen Teleskope. Doch nicht nur für die Astronomen nähert sich das neue Teleskop physikalischen Grenzen. Auch die zugehörige Informationstechnologie steht vor großen Herausforderungen und Unbekannten. Im Jahr 2024 soll das neue E-ELT in die Infrastruktur des Paranal Observatoriums integriert sein und den Regelbetrieb aufnehmen.

Blick zur E-ELT Baustelle auf dem 20 km entfernten Berg Armazones.
Blick zur E-ELT Baustelle auf dem 20 km entfernten Berg Armazones.
Foto: ESO Paranal

Lässt sich die Zukunft planen?

Stähler: Was ist bei der Planung der IT-Infrastruktur für das E-ELT besonders anspruchsvoll?

Wright: Das E-ELT wird noch mal eine größere Datenmenge liefern. Wir haben aktuell keine Instrumente mit ähnlichen Kapazitäten, so dass uns die Vergleichsmöglichkeiten fehlen. Wir kennen ungefähr die erforderliche Rechenleistung der zugehörigen Infrastruktur. Diese wird rund zwei bis dreimal so groß sein wie die heute in Paranal verfügbare Leistung. Aber wir wissen nicht, wie groß die zu erwartenden Datenmengen sind und in welchen Zeiträumen sie zur Verfügung stehen.
Aktuell müssen Daten innerhalb von 24 Stunden in Deutschland verfügbar sein. Vielleicht werden wir diese Anforderungen ändern müssen, da die Datensätze zu groß werden. Das Projekt ist aus Sicht der IT noch weit in der Zukunft und die Technologie verändert sich so schnell. Ich arbeite gerade an der IT-Architektur für das E-ELT, aber seit dem Start des Projektes habe ich sie bereits drei oder viel mal überarbeitet. Wir sind von zwei Seiten unter Druck. Technologische Entwicklungen auf der einen und neue Anforderungen der Wissenschaftler auf der anderen Seite zwingen uns immer wieder zur Überarbeitung des Designs. Man jagt einem beweglichen Ziel hinterher. Unser Architekturentwurf ist deshalb ein lebendes Dokument, das sich immer wieder aktualisiert.

Stähler: Haben Sie ein Beispiel für uns?

Wright: Betrachten wir die Netzwerkplanung. Es gibt entweder 10, 40 oder 100 Gigabit Uplinks. Aktuell basiert die Planung für das E-ELT bereits auf 40 oder 100 Gigabit. Vor fünf Jahren dachten wir noch 10 Gigabit wären ausreichend. Jetzt haben wir das Design schon ändern müssen. Ich denke oft über die Frage nach, wie wir die Daten vom E-ELT nach Deutschland bekommen. Aber Vorhersagen über die technischen Möglichkeiten in 10 Jahren zu treffen ist schwer. Die Kapazitäten hängen nicht alleine von unserer Infrastruktur ab. Die verfügbare Bandbreite in Chile ist immer noch limitiert. Wir müssen schauen wie sich der Markt entwickelt.

Es gibt aktuell nur wenige 10 Gigabit Back-Bones. Das ist überhaupt nicht mit Europa vergleichbar. Wegen der geographischen Gegebenheiten ist Chile zwar gut mit Glasfaserkabeln erschlossen, da Glasfaser bei der Ausdehnung des Landes von Norden nach Süden die einzige Option ist. Aber die Infrastruktur entwickelt sich immer noch. Das E-ELT wird nach aktueller Planung mit mindestens 10 Gigabit ans Netz angeschlossen. Aber in dem Moment an dem wir die Technik tatsächlich bestellen, kann sich das auf 2 x 10, 2 x 40 oder vielleicht auch 100 Gigabit verändert haben. Das hängt auch von der Entwicklung der Infrastruktur in Chile ab. Vielleicht muss auch die ESO ihre Datentransferpläne ändern. Aktuell haben wir einfach nicht genug Informationen um eine verbindliche Vorhersage zu treffen.

Stähler: Da kommt eine Menge Arbeit auf die ESO IT in Chile zu. Wie organisieren Sie Ihr Team?

Wright: Aktuell haben wir in Paranal ein Team von 4 bis 5 Mitarbeitern. Die Besetzung ist für die Arbeiten die zu erledigen sind am Limit. Hauptaufgaben über den Tag sind vorbeugende Wartungsarbeiten um lange Ausfallzeiten zu vermeiden. Wir sind fern von jeder Zivilisation und müssen unseren Strom selber erzeugen. Dennoch kommt es manchmal zu Ausfällen. Man kann sich vorstellen, wenn die Systeme mehrere Monate nicht neu gestartet wurden dauert es lange bis die File System Checks durchgelaufen sind. In der Zeit steht die gesamte Anlage. Ausfallzeiten müssen wir soweit wie möglich reduzieren.

Weiterhin sind wir verantwortlich dafür, dass die Netzverfügbarkeit für alle Instrumente an den Teleskopen sichergestellt ist. In Paranal haben wir über 5000 Glasfaser Kerne. Das erfordert eine Menge Wartungsarbeiten. Das gesamte Netz verwendet keine Kupferkabel um das Risiko von Blitzschlägen zu reduzieren. Im La-Silla-Observatorium hatten wir in den 80er Jahren einen Blitzschlag. Der komplette Standort wurde lahmgelegt. Deshalb setzen wir heute nur noch auf Glasfaserkabel. Zusätzlich haben wir noch die Standardarbeiten einer IT Abteilung zu leisten. Neben der komplexen Teleskop IT bedeutet das die Betreuung der Laptops von Wissenschaftlern, Druckern und allen sonstigen Routineaufgaben einer IT Abteilung.

Standards oder Pragmatismus?

Stähler: Arbeiten Sie nach IT-Service Management Standards?

Wright: Alle Mitarbeiter in unserem Team und auch unsere Dienstleister sind ITIL zertifiziert. Wir arbeiten unter ITIL Guidelines. ITIL sollte aber nicht eins zu eins aus dem Handbuch übernommen werden. Aus meiner Sicht sind Standards wie ITIL sehr hilfreich, aber man muss die Frameworks anpassen. Wer das nicht macht endet an einem Punkt wo es einschränkend wirkt. Betrachten wir zum Beispiel das Change Management. Wenn eine kleine IT-Organisation alle ITIL Vorgaben vollständig übernimmt, wird sie in der Regel nicht genug Mitarbeiter haben um alle Rollen zu besetzten. Werden dann mehrere Rollen auf einen Mitarbeiter verteilt, wird mitunter das System kompromittiert. Ohne Anpassung funktioniert es also nicht. Nur wer ITIL an seine Umgebung anpasst wird Erfolg haben.

Stähler: Ist der Standort Paranal zertifiziert?

Wright: Nein. Im La-Silla-Observatorium haben wir den Prozess einmal durchlaufen und dort sind die Prozeduren auch noch aktiv. Aber wir sehen keine Notwendigkeit mehr einen offiziellen Stempel der Zertifizierung zu haben. Der Nutzen ist nicht erkennbar. Das soll aber bitte nicht falsch verstanden werden. Die grundsätzliche Idee dahinter ist gut. Für große Organisationen mag es auch sinnvoll sein sich zu zertifizieren. Für uns nicht. Wir verfolgen einen sehr pragmatischen Ansatz. Wenn zum Beispiel in einer Beobachtungsnacht ein System ausfällt und wir uns erst durch viele Prozeduren arbeiten müssen bevor wir ein System anfassen ist das nicht sinnvoll. Unser Ansatz ist es, die wenigen Kontrollen die in den Prozessen bestehen so effizient wie möglich durchzuführen. Bei einer vollständigen Anwendung von ITIL besteht die Gefahr, dass es zu bürokratisch wird. Es ist gut bis zu einem gewissen Grad Regeln zu besitzen, aber in unserem Umfeld darf es nicht übertrieben werden. Ich möchte niemanden angreifen. In der Standard Büro IT sind starre Regeln sicher gut. Bei uns würde das nicht funktionieren.

Stähler: Hat diese Flexibilität auch Nachteile?

Wright: Unsere Anwender planen die Flexibilität in ihr Kalkül ein. Das führt dazu, dass oft kurzfristig Änderungen gefordert werden. Die Erwartungshaltung ist, dass wir es leisten können - egal was es kostet. Es ist recht aufwändig alles auf Kurs zu halten. Durch die permanenten Änderungen in Plan müssen wir sehr darauf achten immer den Überblick zu behalten.

Mehr Nachteile fallen mir nicht ein. Ich arbeite gerne mit einer Struktur, aber es ist wichtig aufzupassen, dass es nicht zu bürokratisch wird. Besonders wenn nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen. Hier ist ein Beispiel: Windows XP. Microsoft hat den Support eingestellt und eigentlich müssten alle XP-Systeme deaktiviert werden. Wir haben einige Systeme unter XP, deren Hersteller keine neuen Treiber für ihre Hardware bereitstellen. Besonders betroffen sind speicherprogrammierbare PLC-5 Steuerungen. Alle Systeme zu ersetzen wäre sehr teuer. Am Ende haben wir uns entschieden bei den XP-Systemen die Netzwerk Interfaces zu deaktivieren. Die Systeme können nur noch mit ihrer eigenen Elektronik sprechen, aber nicht mehr im Netzwerk kommunizieren. Das war der pragmatische Weg um XP vom Netz zu nehmen.

Auch einige Oszilloskope verwenden noch XP als Betriebssystem. Was soll man mit denen machen? Den Mitarbeitern sagen du kannst tausende von Euro an Laborequipment wegwerfen oder mit diesen Geräten nicht mehr im Netzwerk arbeiten? Daten von XP Systemen müssen jetzt mit einem USB Stick transportiert werden. Die Geräte selbst sind nicht mehr im Netz. Das sind für mich pragmatische Lösungen. Hätten wir die Geräte aktualisiert, wäre es ein Projekt auf Jahre gewesen. Ich bin mir bewusst, es ist immer noch ein Sicherheitsrisiko. Aber es kann minimiert und kontrolliert werden. Das ist besser als externe Dienstleister zu beschäftigen für viel Geld unsere Systeme zu aktualisieren.

Stähler: Das klingt nach einem Arbeitsumfeld in dem häufig flexible Lösungen für neue Herausforderungen gefunden werden müssen. Was macht den Reiz der Tätigkeit bei der ESO IT für Sie aus?

Wright: Für mich ist diese Arbeitsumgebung sehr herausfordernd und es macht Spaß. Wenn ich daran denke, wie ich angefangen habe Büro IT in einem Unternehmen in England zu betreuen bin ich mir nicht sicher, ob ich immer noch in diesem Job wäre wenn es so weitergegangen wäre. Der Betriebsaspekt in Paranal macht es spannend. Wir bekommen Instrumente an den Teleskopen aus unterschiedlichen Ländern und es macht Spaß zu sehen, wie diese Systeme in die komplexe Teleskoplandschaft integriert werden und Daten liefern. Manchmal werde ich schräg angesehen wenn ich sage, das hier ist wie eine Produktionsstraße. Aber genau so ist es. Es ist eine Produktionsstraße für astronomische Daten. Und ich bin in der glücklichen Situation ein hoch motiviertes Team zu haben. Und unsere Kunden sind mit unseren Leistungen sehr zufrieden. Ich denke es ist gut so.

Andrew Wright (links) und sein Mitarbeiter Marcus Pavez bei der Arbeit im Kontrollzentrum der Teleskope.
Andrew Wright (links) und sein Mitarbeiter Marcus Pavez bei der Arbeit im Kontrollzentrum der Teleskope.
Foto: ESO Paranal

Stähler: Schauen wir zum Abschluss über Paranal hinaus. Wohin geht aus Ihrer Sicht die Entwicklung bei der wissenschaftlichen Datenverarbeitung in den nächsten Jahren?

Wright: Ich bin überzeugt, neue Hardwaretechnologie wird einige Türen öffnen. Durch die enormen Leistungssteigerungen bei der Hardware können wir mit unseren wissenschaftlichen Instrumenten heute Fragestellungen lösen, die noch vor wenigen Jahren durch die Rechenleistung begrenzt waren.
Die größte Herausforderung der Zukunft wird das Management der enormen Datenmengen die wir erwarten. Die Frage ist, ob das Internet bereits fähig ist den steigenden Anforderungen gerecht zu werden. In Europa ist die erforderliche Infrastruktur bereits gut entwickelt. Aber hier in Lateinamerika sind noch einige Probleme zu lösen. (bw)