Die DV-Kräfte-Nachfrage kennt kein Nord-Süd-Gefälle:

Informatiker sind bundesweit Mangelware

19.02.1988

Nicht nur im Süden, sondern auch im Norden Deutschlands sucht die High-Tech-Branche Arbeitskräfte. Beispiel Berlin: Dort sind In etwa 6000 Software- und Systemhäusern über 4000 Programmentwickler tätig. Für Investoren wie Beschäftigte stellen jedoch nicht nur die Steuervorteile einen Anreiz dar, um Spree-Athen in den nächsten Jahren verstärkt als Domizil zu wählen. Firmen wie Nixdorf, Siemens und die Lufthansa offerieren bereits gegenwärtig zukunftsweisende Jobs für Informatik-Experten. Den Wissenstransfer sichern zwei Universitäten und vielfältige Kooperationsmöglichkeiten zwischen Hochschule und Wirtschaft.

Beispiel München: Seen, Berge und blauer Himmel machen die bayerische Metropole für Arbeitskräfte zwar attraktiv, vor allem aber zieht eine Elektronik-Branche, die ständig auf der Suche nach qualifiziertem Personal ist, Fachkräfte aus ganz Deutschland an. Derzeit zählen die High-Tech-Betriebe im Münchener Raum etwa 130 000 bis 150 000 Beschäftigte. Neu erschlossene Gewerbefläche, beispielsweise der umfunktionierte Flughafen in Riem, Iassen in den nächsten Jahren über 14 000 Stellen erwarten - und dafür stehen nicht genügend Ingenieure, Programmierer und Techniker aus der Region zur Verfügung. Die "Preußen" können kommen.

- Wenn man Berlin hört, denkt man zunächst an Kultur, Politik, an die vielgepriesene Berliner Luft...

Weichhardt: ...und bald denkt man sicher auch an Berliner Software. Zielstrebig hat sich Berlin nämlich zu einem Zentrum der Software-Technologie entwickelt. Während es weltweit an qualifizierten Software-Entwicklern mangelt, verfügt der Berliner Arbeitsmarkt noch immer über ein großes Reservoir an qualifizierten Informatikern. Bedeutende Firmen wie VW, Nixdorf, Siemens und die Lufthansa und weitere elf bekannte Unternehmen haben dies erkannt und in Berlin eigene Softwarehäuser gegründet. Das Wachstum der Softwarefabriken hat diese Entscheidung in allen Fällen als richtig bestätigt.

- Was macht Berlin für die Investierenden denn so attraktiv?

Weichhardt: Die besondere Qualität Berlins hat ihren Ursprung im breitgefächerten Know-how der Berliner Universitäten und den über 500 Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen. Sicher tragen auch die vielen finanziellen Vorteile für Investoren dazu bei, daß außerordentlich attraktive Software an der Spree entsteht. Nicht umsonst sind bereits über 4000 Software-Entwickler in 600 Software- und Systemhäusern erfolgreich in Spree-Athen tätig. Das Angebot dieser Softwarehäuser deckt fast das gesamte Anwendungsspektrum ab; von Teachware über Expertensysteme bis hin zu CIM-Computer-Animation- und Desktop-Publishing-Anwendungen.

- Bekanntlich sind Informatiker inzwischen Mangelware. Finden die Systemhäuser in Berlin eine ähnlich desolate Situation vor?

Weichhardt: War in der Vergangenheit die Verfügung von Informatikern allein ausschlaggebend, sich für ein Software-Engagement in Berlin zu entscheiden, so ist heute anerkannt, daß Berlin mehr als nur qualifizierte Mitarbeiter ins Feld führen kann. Vor allem die beiden Universitäten mit ihren vielen Instituten, sowie die Fachhochschulen und die Technologieförderung des Berliner Senats tragen zu diesem einzigartigen Innovationspotential bei.

So hat Berlin neben München einen der leistungsfähigsten Informatik-Fachbereiche Deutschlands mit zur Zeit 2000 Informatik-Studenten. Jährlich verlassen rund 200 diplomierte Informatiker allein die Technische Universität. Die TU ist mit 28 Informatik-Professuren ausgestattet; alle bedeutenden Gebiete sind vertreten. In 20 Forschungsgruppen arbeiten etwa 200 wissenschaftliche Assistenten und Mitarbeiter sowie über 200 Tutoren und sonstige Mitarbeiter. An der FU Berlin sind sieben Informatik-Professuren tätig. Sowohl die Stadt als anziehender Studienort als auch die Lehrinhalte der Informatikausbildung garantieren auch zukünftig steigende Absolventenzahlen. Ebenso stehen inzwischen Absolventen, die in der Wirtschafts- beziehungsweise Ingenieurinformatik fachkundig sind, als anwenderorientierte Mitarbeiter zur Verfügung.

- Wandern nicht eine Reihe von Studenten nach Beendigung des Studiums in die Bundesrepublik ab?

Weichhardt: Für viele Studienabgägnger ist der 30prozentige Steuervorteil für Arbeitnehmer ein Anreiz, nach Abschluß des Studiums in Berlin zu bleiben, das Kulturleben und das vielfältige Freizeitangebot zu genießen. Für Unternehmen, die auf der Suche nach qualifizierten Software-Entwicklern sind, ist Berlin also ein optimaler Standort.

- Wie sieht der Technologie-Transfer zwischen Software-Unternehmen und den Hochschulen aus?

Weichhardt: Das Kooperationspotential zwischen Softwarehäusern, Forschungsinstituten und den universitären Einrichtungen ist immens. Die Zusammenarbeit ergibt sich schon während der Studienzeit, da ein Drittel der Studenten sich das Studium selbst durch eine Nebentätigkeit, auch bei Softwarehäusern, finanziert.

Berlin spielt im Rahmen europäischer Verbundprojekte, wie "Esprit" und "Eureka", eine maßgebliche Rolle. So wird der technische und administrative Bereich des Projekts der Eureka Software Factory (ESF) in Berlin seinen Standort finden. Hiervon wird zweifellos die Berliner Software-Landschaft profitieren.

- Bieten sich den Unternehmen, die Berliner Luft schnuppern wollen, genügend Kooperationspartner an?

Weichhardt: Für Kooperationen gibt es in Berlin viele Möglichkeiten. So ist im Bereich der Fabrikautomation das Produktionstechnische Zentrum (PTZ) ein begehrter Partner. Aber auch Institutionen wie die Bundesanstalt für Materialprüfung und das Bundesumweltamt kommen in Betracht. Ein hesorragendes Verkehrsnetz und kurze Wege erleichtern die Kooperationsmöglichkeiten von Sofwarehäusern untereinander beziehungsweise mit ansässigen Hardware-Entwicklern. Auch die Entwicklungsstätten bedeutender Systemanbieter eröffnen Kooperationsmöglichkeiten .

- Wie weit ist der Bereich Telekommunikationssoftware inzwischen gediehen?

Weichhardt: Neue Telekommnikationsanwendungen erfordern neue

Softwaresysteme. Das Zusammenspiel von Computer- und Telekommunikationstechniken kann in Berlin bereit; im Anfangsstadium erprobt und mitgestaltet werden. Berlin nimmt an dem ISDN-Feldversuch der Deutschen Bundespost teil; es existiert bereits ein öffentliches

Breitband-ISDN (Stichwort; BERKOM), und an der TU werden demnächst neue breitbandige Kommunikationsdienste entwickelt und erprobt. Die Integration von Anwendungssoftware in Telekommunikationsnetze und -dienste ist ein vielversprechendes Innovationsfeld.

- Mit welchen weiteren Vorteilen können Sie Investoren und Arbeitnehmer nach Spree-Athen locken?

Weichhardt: Mit dem Umfang eines Projekts wird der Standort des Softwareproduzenten immer unbedeutender. Für das zentrale EntwickIungssystem ist Berlin deshalb ein idealer Standort. Da es sich bei Software außerdem um ein leicht übertragbares und individuell anpaßbares Gut handelt, ist eine Bindung an die herkömmlichen Vertriebswege nicht mehr notwendig. Beispielweise sind die Fernwartung von Sofwareapplikationen und das Übertragen neuer Softwareversionen auch über öffentliche Netze möglich.

Berlin ist, da Industriestandort, auch als Absatzmarkt für Software interessant; viele mittelständische Betriebe haben einen Bedarf an Anwendungslösungen. Ebenso für die Abwicklung von Ostgeschäften bietet Berlin günstige Voraussetzungen.

Berlin ist eine internationale Kongreßstadt, in der regelmäßig Fachtagungen und bedeutende Kongresse zum Thema Software stattfinden; Ausgelöst durch die vielfältigen Gründungsaktivitäten hat sich der Markt für Venture-Capital positiv entwickelt. Risiko-Kapital-Förderung haben bereits einige Softwarehäuser mit Erfolg nutzen können.

Besondere PIuspunkte, die für den Standort Berlin sprechen, sind die finanziellen Anreize. Sowohl die Investitionszulage bis zu 40 Prozent zum Beispiel für Software-Entwicklungsinvestitionen als auch hohe Sonderabschreibungsmöglichkeiten bieten eine hervorragende Startfinanzierung, die gerade im Bereich der Software-Entwicklung eine bedeutende Rolle spielt. Der 10prozentige Umsatzsteuerbonus für den Hersteller wird begleitet von einem Vier-Prozent-Bonus für den Abnehmer im übrigen Bundesgebiet.

- Seit wann fördert die Stadt München bereits Unternehmen der High-Tech-Branche?

Zehetmeier: Seit Beginn der 70er Jahre fahren wir eine aktive Förderungspolitik für Wirtschaftsunternehmen. Wir hatten das Glück der Stunde, als Siemens seinen Sitz in den 50er, Anfang der 60er Jahre von Berlin nach München verlegte. Um diesen Nukleus herum sammelten sich rasch Konkurrenz- und Zulieferfirmen. Gezielt geworben haben wir nur bei Nixdorf.

- Können Sie Zahlen über den Anteil der High-Tech-Branche an der Wirtschaft der Stadt nennen?

Zehetmeier: Wir gehen davon aus, daß in München selbst rund 65 000 Menschen speziell im High-Tech-Bereich arbeiten. Die Region eingerechnet, dürften es um 80 000 sein. lnsgesamt hat der Großraum München rund 800 000 Arbeitsplätze. Davon sind direkt und indirekt im High-Tech-Bereich etwa 130 000 bis 150 000 Personen beschäftigt.

Die Konkurrenz Baden-Württembergs zu Bayern, die sogenannte Südschiene, ist bekannt. Stuttgart ist durch Sindelfingen eine IBM-Stadt, München eine Siemens-Stadt. Mir liegen Zahlen aus dem November 1986 vor. Danach zählen wir im Bereich Elektronik, elektronische Bauelemente, elektronische Geräte und Anlagen, auch den Mikroelektronik-Bereich inbegriffen, 494 Firmen, auf dem Sektor Computer, Datenverarbeitungsanlagen, Zubehör und Computersteuerung 438 Betriebe, weiterhin bei Datenverarbeitung und Computersoftware 458 Unternehmen. Der Elektronikbereich im weiteren Sinn zählt fast 1400 Betriebe. Darunter fallen nicht nur große Firmen; es sind, und das ist das stabilisierende Element, oftmals kleinere Organisationen, die ausgesprochen boomen.

- Gibt es bei der Vergabe von Gewerbeflächen für den High-Tech-Bereich Maximen?

Zehetmeier: Wir vergeben Gewerbeflächen grundsätzlich nach dem Umfang der zu erwartenden Gewerbesteuer, Arbeitsplätze und Rentabilität sowie Arbeitsplatzquadratmeter, Frauenarbeitsplätze und Ausbildungsplätze.

Das Problem der großen Elektronikfirmen ist: Häufig ändert sich ihre Unternehmensstrategie oder auch die Präferenz für Regionen und damit auch der Bedarf recht schnell. So gestalten sich Verhandlungen zwischen der Stadt und Unternehmen wie etwa IBM und Nixdorf, um einmal zwei der größten zu nennen, nicht immer einfach.

- High-Tech-Firmen sind sichere Steuerzahler...,

Zehetmeier: Ja ...

- ... aber unsichere Kandidaten, was die Unternehmensplanung betrifft. Ist das vielleicht auch ein Grund, weshalb München den High-Tech-Zug etwas bremsen will? Zitat Zehetmeier: "München darf keine Stadt der Eggheads, kein Elektronik-Valley werden."

Zehetmeier: Ich bin ein konservativer CSU-Bürgermeister und will nicht steuernd eingreifen. Jede Monostruktur ist jedoch auf Dauer gefährlich - siehe Schiffahrt, Werften oder Stahl und Kohle. High-Tech findet vielfach nur noch als Forschung, Beratung, Verkauf und Service statt. Das produzierende Gewerbe darf deshalb nicht verdrängt werden. Diversifizierung der Wirtschaft sichert die Zukunft einer Stadt. Bremsen will ich wiederum nicht. Denn ich bin mir im klaren, daß der wirtschaftliche Aufschwung Münchens in den letzten Jahren im wesentlichen den neuen Technologien zu verdanken ist.

- Haben die Bürger Münchens die High-Tech-Branche eigentlich in ihr weiß-blaues Herz geschlossen?

Zehetmeier: Der Bürger verfolgt im allgemeinen diese Entwicklung nicht so genau, aber politische Sprecher vor allem der Grünen und vom linken Flügel der SPD haben ihre Vorbehalte, ebenso wie gegen die Entwicklung der Kommunikationsindustrie.

- Die Lebenshaltungskosten sind aber doch enorm gestiegen?

Zehetmeier: Wenn die Zahl gut dotierter Arbeitsplätze zunimmt, heißt das nicht, daß diese Beschäftigten auch gleichzeitig die alteingesessenen Bewohner verdrängen. Ein hochbezahlter Beschäftigter steckt sein Geld nicht unter die Matratze, sondern finanziert immer auch minder bezahlte, minder qualifizierte Arbeitsplätze mit. Das war so, und das ist so. Auch die Auswirkung auf Wohnungsmieten ist - nach meinen Erkenntnissen - so dramatisch nicht. Und von teuren Wohnungen haben wir immer noch einen gewissen Überhang. An schlichterem, billigerem, preiswerterem Wohnraum gibt es noch erheblichen Mangel.

- Demnach zahlen die EDV-Eggheads also jeden Preis und treiben die Lebenshaltungskosten nach oben?

Zehetmeier: Nein. Das kann man nicht einer Branche allein anlasten. Die Lebenshaltungskosten sind hoch, das ist problematisch, doch wenn wir sie künstlich niedrig hielten, wollten noch mehr Arbeitnehmer - nicht nur aus strukturschwachen Gebieten Bayerns, sondern aus der gesamten Bundesrepublik - nach München kommen, und sie alle bringen wir wirklich nicht mehr unter. Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften im Münchner Raum ist weithin bekannt.

- Gesucht wird der Facharbeiter, der qualifizierte Mitarbeiter . . .,

Zehetmeier: ... und an der Suche nach qualifizierten Mitarbeitern, etwa Ingenieuren, ist vor allem die Elektronikbranche außerordentlich stark beteiligt. Trotz zwei - wenn ich die Bundeswehrhochschule in Neubiberg dazurechne - drei Universitäten der Fachhochschule sowie Fortbildungs- und Umschulungsinstituten mit einem großen Ausbildungspotential stehen nicht genügend Ingenieure, Programmierer und Techniker zur Verfügung.

- Unterstützt die Stadt München diese Ausbildungsanstrengungen?

Zehetmeier: Dazu müssen wir kaum etwas tun, sondern die Firmen handeln aus Eigeninteresse. Direkt wird die Stadt über die Volkshochschule aktiv, die sie auch finanziert. Sie weist zwischen 50 000 und 60 000 Hörer im Semester auf. Die Angebote reichen in die Fortbildung, speziell mit modernen Techniken. Weiterhin fördern wir High-Tech zusammen mit dem Staat über unser Münchner Technologiezentrum, in dem etwa 30 Gründungsfirmen untergebracht sind - ein Großteil aus der Elektronik-Branche.

- Demnach bedeutet München also mehr als Seen, Berge und blauer Himmel für Arbeitskräfte aus "Preußen"

Zehetmeier: Alle Arbeitskräfte haben eine große Auswahl an Positionen. Sie sind dabei nicht nur auf eine High-Tech-Firma angewiesen. Das ist ein besonderer Wert Münchens. Daneben spielt noch der sogenannte Erlebniswert - das Umland - eine Rolle. Hinzu kommt die Auswahl an Schulen, an Universitäten in München sowie in der Nähe der Stadt Deswegen ist München für den, der ein Job-Angebot hat, ein verlockender Standort.

- Was tut München, um für die Zukunft verlockend zu bleiben?

Zehetmeier: Wir wollen beispielsweise in den nächsten Jahren rund 220 Hektar neue Gewerbeflächen, etwa Freiham, erschließen, des weiteren großflächige Grundstücke der Bundesbahn. Wir haben auch im Osten am Flughafen, der im Jahre 1991/92 erschlossen werden wird, noch Grundstücksreserven.

- Wieviel neue Arbeitsstellen erwarten Sie?

Zehetmeier: Die Schätzzahlen für die erwarteten neuen Arbeitsplätze liegen bei rund 14 200 Stellen.

- Auf welchem Platz würden Sie die High-Tech-Stadt München im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten sehen?

Zehetmeier: An erster Stelle.