Industrie sucht junge Akademiker als künftige Partner

16.10.1987

Senator Dr. Ernst Wrede Mitglied des Vorstandes der ZVEI-Landesstelle Bayern

Unsere Volkswirtschaft befindet sich in einem Umstrukturierungsprozeß ökonomischer, technischer und organisatorischer Art, dessen Endstufe nicht abzusehen ist. Die Menschen entwickeln neue Sichtweisen von Arbeit, Beruf, Freizeit - sie werden in Zukunft anders "geführt" und motiviert werden müssen. Die demographische Entwicklung zeigt nach dem extremen "Geburtenberg" in den 60er Jahren eine stark fallende Tendenz mit der Folge, daß bis zum Jahre 2000 die Zahl der unter 30jährigen sich auf die Hälfte reduzieren wird.

Hinzu kommt daß die industrielle Produktionsweise immer mehr zu planerischem Vordenken zwingt, also in verschiedenen Dimensionen komplexer wird und daher auch zu einer Tätigkeitsverschiebung zu tertiären Funktionen" innerhalb des sekundären Sektors fährt. Gerade diese Entwicklung hat einen starken Bezug zu Vor- und Ausbildung von Hochschulabsolventen, von denen uns als Industrie in erster Linie die Ingenieure, die Naturwissenschaftler sowie die Kaufleute interessieren. Der industriestandort der Bundesrepublik Deutschland hat also nur dann Lebenschancen, wenn die Qualifikation der Beschäftigten auf einem hohen Niveau ist und dieses auch genutzt werden kann. Deshalb trägt die Wirtschaft eine hohe Verantwortung bei der Ausgestaltung und dem Ablauf von Ausbildung und Studium, nicht nur weil sie selber davon betroffen ist, sondern weil es um die Zukunft der Gesellschaft geht.

Die Wirtschaft darf sich deshalb nicht erst Gedanken machen, wenn die Absolventen der verschiedensten Schulen auf Arbeitsplatzsuche gehen. Sie muß eine vorausschauende Personalplanung betreiben, besonders mit Blick auf zukünftig erforderliche Qualifikationsstrukturen. Sie muß die Ergebnisse dieser Vorausschau transparent machen und weitergeben, und dies auf vielfältige Weise: als quantitative Information und in qualitativer Hinsicht.

Anforderungsstrukturen müssen beschrieben, Erwartungshaltungen in fachlicher Hinsicht so deutlich wie möglich fixiert werden. In einer dynamischen Wirtschaft verändern sich solche Informationen ständig, deshalb ist es erforderlich, daß ein solcher Informationsprozeß andauernden Charakter hat. Heute wissen wir, daß in allen Schulen, Anstalten jeden Typs, Wert auf eine "gründliche Grundausbildung" gelegt werden sollte: Allgemeinbildung steht vor Spezialbildung. Diese Vielfalt mag für junge Leute verwirrend sein. Hier ein Beispiel: Seit einigen Jahren ist bekannt, daß Absolventen technischer Fachrichtungen gute Arbeitsmarktchancen haben und daß sie - ceteris paribus - auch gut bleiben werden. In der Tat sind die Studienanfängerzahlen bei den Ingenieurwissenschaftlern bundesweit von 1980 bis 1983 rapide angestiegen - von zirka 35 000 auf 60 000, Universitäten und Fachhochschulen zusammengenommen. Seit diesem Jahr gehen diese Zahlen zurück, vorwiegend aufgrund der demographischen Entwicklung.

Gerade bei den Absolventen der bayerischen Fachhochschulen zeigt sich, daß die dort obligatorischen praktischen Studiensemester einen positiven arbeitsmarktpolitischen Stellenwert haben. Arbeitslose Fachhochschulabsolventen, technischer und ökonomischer Disziplinen gibt es, bei einer einigermaßen akzeptablen Qualifikation, nicht.

Ich brauche nicht zu betonen, daß die Wirtschaft selbstverständlich keine Berufswahllenkung will. Die Entscheidung für einen Beruf muß uneingeschränkt beim Einzelnen bleiben.

Ich wende mich den Hochschulen, also den Universitäten und den Fachhochschulen, zu. Wir wissen, daß heute rund 2,3 bis 2,5 Millionen Menschen mit Fachhochschul- und Universitätsabschluß beschäftigt sind. Die meisten von ihnen beim Staat, der in Zukunft allerdings nur noch einen wesentlich kleineren Teil der Absolventen einstellen wird. Im Jahre 2000 wird die Gesamtzahl der deutschen Hochschulabsolventen auf zirka vier Millionen angestiegen sein. Ob alle eine adäquate Arbeitsstelle bekommen werden, ist eine offene Frage.

Im Verantwortungsbereich der Wirtschaft liegt also auch die Aufgabe, mit Universitäten und Fachhochschulen den Dialog aufzunehmen, hinsichtlich veränderter Anforderungsprofile in der Wirtschaft.

Es geht dabei nicht darum, die Hochschulen zu verlängerten Werkbänken der Industrie zu machen; vielmehr gilt es, neue Entwicklungen in beiden Bereichen weiterzugeben und ständige Information zu pflegen, die letzten Endes den Hochschulabsolventen zugute kommen soll. Ihre Qualifikation wird heute über die ökonomische Zukunft entscheiden. Made in Germany war ein "Facharbeiterprädikat", der Mega-Chip ist Repräsentant und Synonym des technisch-wissenschaftlichen Zeitalters. Die Verantwortung der Wirtschaft ist es also, von sich aus eine Zusammenarbeit mit der Wissenschaft anzustreben und über zukünftiges gemeinsames Handeln einen Konsens zu finden.

Es wird heute des öfteren erwähnt, daß 40jährige und Ältere nicht mehr gewillt oder tatsächlich nicht in der Lage seien, mit neuen technischen und ökonomischen Entwicklungen mitzuhalten.

Deutet man diesen Gedanken weiter, könnte dies heißen, daß bei vielleicht noch zunehmendem Tempo neuer Entwicklungen bald schon die 30- bis 40jährigen zum sogenannten "alten Eisen" gehören. Ab dem Jahr 2000 werden jedoch - davon bin ich überzeugt die 40- bis 50jährigen Neuheiten kreieren müssen; als eindeutige Begründung dafür müssen also bereits heute personal- und weiterbildungspolitische Strategien entwickelt werden.

Noch längst nicht alle Unternehmen und Schulen sehen diese Dimension. Qualifikationserhaltung und Verbesserung, nicht nur in einer eng begrenzten fachlichen Hinsicht, werden also das A und O einer zukünftigen Personalpolitik sein müssen.

Nicht nur der einzelne Mitarbeiter muß diese Tatbestände kennen; für die beruflich betriebliche Qualifikationserhaltung tragen die Unternehmen selbst Verantwortung. Jüngste Daten zeigen, daß noch nie soviel an betrieblicher Weiterbildung durchgeführt wurde wie heute. Wesentlich ist natürlich, daß die Unternehmen die Kosten für die Weiterbildung auch übernehmen können. Qualifikationsverbesserungen können nicht nur nebenbei erworben, werden, sondern sind ein unternehmenspolitischer Tatbestand, dem sich die Wirtschaft nicht entziehen kann.

Nicht nur große Unternehmen sind zukünftig auf gut ausgebildete Hochschulabsolventen angewiesen. Diese Aussage schmälert die duale Ausbildung nicht im geringsten. Ohne sie wäre der "Theoretiker" von der Hochschule nicht existenzfähig. Die notwendigen Ressourcen von den Hochschulen könnten dadurch gesichert werden, daß die Wirtschaft von sich aus notwendige Informationen Über Zahl, Qualität und Ausformung zukünftiger Anforderungsprofile abgibt. Die Verantwortung der Wirtschaft beginnt also bereits dann, wenn sich der junge Mensch noch in der Schule befindet. Die Hochschulen brauchen einen ständigen Informationsaustausch - zumindest mit solchen Bereichen der Wirtschaft, die auf einem hohen technisch-organisatorischen Niveau stehen. Eine wissenschaftliche Ausbildung für einen präzisen "Verwendungszweck" darf die Wirtschaft indes nicht wollen; das Studium soll so, angelegt sein, daß der Hochschulabsolvent selbst Entwicklungspotentiale besitzt. Spezialkenntnisse können in der täglichen Arbeit erworben werden.

Die Betriebe müssen einsehen, daß die Aufgabe der Qualifikationserhaltung eine unternehmerische Funktion darstellt und systematisch betrieben werden muß. Der Regelkreis "Hohe Qualifikation = hohe Wettbewerbsfähigkeit = Existenzfähigkeit der Betriebe = hohe Wertschöpfung, aus der staatliche Leistungen finanziert werden können = politische Stabilität" sollte als unabdingbarer Leitsatz herausgestellt und viel stärker in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Allerdings sollte es nicht als Schlagwort behandelt sondern als Essential einer zukünftigen allgemeinen ökonomischen und sozialen Wohlfahrt: Unsere Wirtschaft braucht mehr Mitmacher und Partner.