Tektonische Verschiebungen in der Arbeitswelt

Industrie 4.0 - Fertigung fusioniert mit IT

27.11.2013
Von 
Walter Simon ist Wirtschaftstrainer und Zukunftsforscher in Bad Nauheim.

CIM scheiterte an fehlender und unausgereifter ITK

Das Internet für sich allein genommen ermöglicht allerdings noch keinen praktischen Nutzen. Millionen von miteinander verbundenen Computern bilden lediglich ein "leeres" Netz. Es bedarf zusätzlich entsprechender Dienste, die gewünschte Aufgaben erledigen: Im World Wide Web werden Web-Seiten übertragen. Outlook ermöglicht den Empfang und Versand von E-Mails. Wer über Ebay ein- und verkauft oder bei Google sucht, bewegt sich, wie der Fachbegriff lautet, im "Internet der Dienste". Man nutzt einen Dienst, ohne die Software installieren zu müssen. Die wird aus der IT-Wolke (Cloud) abgerufen.

Neuer Fertigungstakt: Künftig wird in der Fabrik nicht mehr sequentiell wie am Fließband gearbeitet, sondern entkoppelt und damit flexibler.
Neuer Fertigungstakt: Künftig wird in der Fabrik nicht mehr sequentiell wie am Fließband gearbeitet, sondern entkoppelt und damit flexibler.
Foto: Hewlett-Packard

Versuche, die Industrie mit Hilfe von Computertechnik zu revolutionieren, gab es bereits in der Vergangenheit. Fabrik-Manager, denen die CIM-Erfahrung (Computer-Integrated Manufacturing) aus den 1980er Jahren noch in den Knochen steckt, meinen, in der aktuellen 4.0-Industrie-Diskussion lediglich alten Wein in neuen Schläuchen zu erkennen. CIM scheiterte indes an der fehlenden beziehungsweise unausgereiften ITK. Hinzu kam die Vision einer menschenleeren Fabrik, die Ängste und Gegenwehr bei den Betroffenen auslöste.

Heute befinden wir uns, zumindest was die Technik angeht, in einer deutlich komfortableren Situation. Das benötigte IT-Equipment gehört im Privatbereich vieler Menschen längst zum Alltag, beispielsweise Multimedia, Social-Media- und Cloud-Techniken, iPads und Smartphones. Das alles kann auch der Industrie im Versionskontext 4.0 von Nutzen sein. Außerdem verfügt die deutsche Industrie über langjährige Erfahrungen mit eingebetteten Systemen und darüber hinaus über entsprechendes Software-Know-how. Seit gut 15 Jahren gibt es Ideen und Lösungen, die grundsätzlich dem Gedankengut der 4.0-Produktionsweise entsprechen. So werden beispielsweise in Autofabriken die im Fertigungsfluss befindlichen Fahrzeuge schon mit einem RFID-Transponder (Radio Frequency Identification) ausgestattet, mit denen der Produktionsleitstand in Echtzeit über den Fertigungsfortschritt informiert wird.

Aufgrund dieses Wettbewerbsvorteils in Verbindung mit dem hiesigen Maschinen- und Werkzeugbau soll Industrie 4.0, so der Wunsch der Bundesregierung, den Status einer Leuchtturmtechnologie made in Germany bekommen.

Von der Wertschöpfungskette 3.0 zum Wertschöpfungsnetz 4.0

Die geschäftlichen Möglichkeiten der Industrie 4.0 liegen aber nicht nur in Produktivitätsfortschritten. Die neue Fertigungsgeneration bietet zudem die Chance für neue Geschäftsmodelle. Schon heute beherbergen viele Industrieunternehmen unter ihrem Dach interne und externe Dienstleister etwa im Marketing, Rechnungswesen, Vertrieb und Personalbereich. Viele Dienstleis-tungen sind um einen Industriearbeitsplatz herum angesiedelt. Besonders im ITK-Bereich wird sich eine Vielzahl neuer Dienstleistungsjobs entwickeln. Hier ist, wie sich seit vielen Jahren abzeichnet, der größte Zuwachs zu erwarten, vor allem im Softwarebereich. Wenn virtuelle und reale Welt immer mehr verschmelzen und Daten immens an Bedeutung gewinnen, könnte die Datenverarbeitung als Sekundärmarkt fast wichtiger werden als der Primärmarkt selbst.

Darüber hinaus bieten sich auch Chancen für vielfältige Dienstleistungen im weiteren Umfeld. Das beschleunigt die Wandlung vom Produkthersteller zum produzierenden Dienstleister. Denkbar wäre etwa, dass Fabriken nicht mehr produktorientiert, etwa als Telefonfabrik, gebaut werden, sondern als Anbieter verwandter Produktionstechnologien, auf die sich entsprechende Werke schnell umrüsten ließen. Das Wissen und Können, über das früher der schwäbische Metallfacharbeiter oder der Solinger Besteckmacher verfügte, geht auf ITK-Fertigungskomponenten über.

Der Ursprung des industriellen 4.0-Sprungs liegt in den Möglichkeiten, die das Internet hard- und softwareseitig bietet. Schließlich stellt das Internet den Auslöser und (An-)treiber des industriellen Fortschritts dar. Alle Beteiligten agieren in einem Netz. Wer indes an einem Tornetz unten zieht, verformt dessen symmetrische Struktur. Jeder Knoten im Netz hängt mit allen anderen Knoten zusammen. Darum entwickelt sich auch die informationstechnische Vernetzung der Unternehmen mit ihren Zulieferern, Kunden und Geschäftspartnern zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Jede Änderung am Produkt oder im Produktionsverlauf zieht damit aber auch aufwendige Tätigkeiten bei allen Partnern nach sich. Ein funktionierendes Netz erfordert den Einsatz abgestimmter beziehungsweise eng verzahnter ITK-Systeme.

Herausforderung: Interoperabilität von Software und Daten

Die beteiligten Unternehmen bewegen sich also in einem Wertschöpfungsnetz. Ein Beispiel aus der Automobilbranche: 250 Systemlieferanten wirken an der 7er-Reihe des BMW mit. Mittlerweile werden 78 Prozent der Wertschöpfung an PKWs von den Zulieferern geleistet und nur 22 Prozent von den Herstellern selbst. Im Rahmen von Industrie 4.0 funktioniert die Zusammenarbeit zwischen der Automotive-Industrie und den Kfz-Herstellern aber nur, wenn die verschiedenen Dateiformate der Lieferanten interoperabel sind. Die Partner eines Wertschöpfungsnetzes müssen sich verständigen und Daten austauschen können. Sie benötigen einheitliche Softwareprogramme oder Systeme, die sich als Simultandolmetscher für die unterschiedlichen Softwaresysteme und Datenformate anbieten. Hier liegt gegenwärtig eines der zu lösenden Hauptprobleme.

Eingebettete Systeme: Mit Hilfe von eingebetteten Systemen erhalten Produkte die notwendige Intelligenz, um ihre Fertigung selbst zu steuern.
Eingebettete Systeme: Mit Hilfe von eingebetteten Systemen erhalten Produkte die notwendige Intelligenz, um ihre Fertigung selbst zu steuern.
Foto: Walter Simon

Es geht aber nicht nur um die Orchestrierung der Softwareanwendungen. Der Erfolg von Industrie 4.0 steht und fällt mit dem Zusammenwachsen von Maschinenbau, Automatisierung, Elektronik und ITK. Keiner dieser Akteure kann das Thema Industrie 4.0 allein bewältigen. Zu lösen sind darüber hinaus aber noch weitere Probleme, beispielsweise die mangelnde Rechtssicherheit, ausreichende Bandbreiten, die Datensicherheit bei unternehmensübergreifenden Netzen, die Akzeptanz der 4.0-Version industrieller Arbeit und die Qualifikation der beteiligten Mitarbeiter.

Die kommende Industrierevolution - Gewinner und Verlierer

Der Begriff "vierte industrielle Revolution" klingt zunächst einmal ziemlich radikal. Vielleicht sollte man den Buchstaben R streichen, so dass Evolution übrig bleibt. Bestimmte Entwicklungen könnten sich aber als Folge des Mooreschen Beschleunigungsgesetzes und der kurzen Halbwertszeit von Wissen sprunghaft vollziehen. Auch Lean Management war zunächst ein schwaches Signal im Business-Äther, wurde jedoch schnell stärker und gehört heute längst zum Industriealltag.

Die Erwartungen an das neue Industriezeitalter sind hoch. Experten träumen von Produktivitätszuwächsen von bis zu 30 Prozent. Produktivitätsfortschritt im Kontext von Industrie 4.0 bedeutet aber gleichzeitig, menschliche durch maschinelle Arbeit zu ersetzen. Das impliziert einen weiteren Rückgang des prozentualen Anteils der in der Industrie beschäftigten Menschen. Von 1991 bis 2007 fiel dieser Anteil in Deutschland von 29 auf 20 Prozent und wird bis 2020 Schätzungen zufolge nochmals um fünf Prozentpunkte sinken - ohne Berücksichtigung der aus der Industrie 4.0 resultierenden Zusatzeffekte. Nach einer allgemein akzeptierten volkswirtschaftlichen Faustregel steigt die Arbeitslosigkeit um ein Prozent pro drei Prozent gewachsene Wirtschaftsleistung. Gleichwohl wird der Anteil wissensbasierter Tätigkeiten in der Industrie zunehmen, in Forschung und Entwicklung (F&E), Konstruktion, Marketing, Personal- und Rechnungswesen.

Die Folgen: Tektonische Verschiebungen in der Arbeitswelt

Fast gleichzeitig mit dem Beginn der Diskussion um das Industrie-4.0-Szenario gaben zwei renommierte Arbeitsmarktforscher des Massachusetts Institute of Technology (MIT), Andrew McAfee und Erik Brynjolfsson, ihre Untersuchungsresultate zum Zusammenhang von Digitalisierung und Arbeitsplatzabbau bekannt. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die digitale Revolution mehr Jobs vernichten werde, als sie neue schaffen könne. Die Ökonomen warnten vor tektonischen Verschiebungen in der Arbeitswelt.

Natürlich wissen die MIT-Forscher, dass die digitale Revolution wie alle großen Produktivwellen auch neue Arbeitsplätze schafft. Aber was passiert, wenn sich auch die neu geschaffene Arbeit größtenteils informatisiert und automatisiert verrichten lässt? Viele IT-basierte Tätigkeiten basieren im Endeffekt auf Algorithmen. Je nach dem Grad ihrer Strukturierung können solche Jobs auch von einer Maschine verrichtet werden. Die Liste der Tätigkeiten, in denen Maschinen besser sind als Menschen, wird immer länger. Der Kampf Mensch gegen Technik könnte zugunsten der Technik entschieden werden. (ba)