Globalisierung 2003: Von Mumbai nach Monheim

Indische Softwerker entdecken Deutschland

26.09.2003
MÜNCHEN (ajf) - Dass zunehmend deutsche IT-Aufgaben nach Indien ausgelagert werden, hat sich inzwischen in der Branche herumgesprochen. Doch die Software- und Servicekonzerne des Subkontinents werden nun auch verstärkt hierzulande aktiv: Sie akquirieren kleinere IT-Firmen, die als Brückenkopf dienen sollen.

Um Indien kommt gegenwärtig kaum jemand in der der IT-Branche herum: Keine Woche vergeht, in der nicht ein neuer Outsourcing-Deal, eine Entwicklungspartnerschaft oder ein Joint Venture gemeldet wird. Meistens geht es bei den Abkommen um Einsparungen, also Arbeitsplatzabbau - in der Regel wird das aber gleich auch wieder dementiert. Für die einen ist Indien das gelobte Land, wo Bytes und Sourcecode fließen; andere fühlen sich an Frondienste erinnert, die man bisher anderen Branchen als der IT zuschrieb.

Aus der rapide gestiegenen Offshore-Outsourcing-Nachfrage in den USA und Großbritannien, ausgelöst nicht zuletzt durch Branchenkrise und Preisdruck, haben viele indische Software- und Serviceanbieter Kapital schlagen können. Sie sind selbst zu international aufgestellten Konzernen geworden, für die ein jährliches Umsatzwachstum von 30 Prozent bislang keine Seltenheit ist. So hat der indische IT-Konzern Wipro angekündigt, zu seinen 24000 weitere 9000 Mitarbeiter einzustellen - 3000 für Business Process Outsourcing (BPO), 6000 für die Softwareentwicklung. Kein Problem in Indien, wo vergangenes Jahr knapp 120000 IT-Absolventen aus den Universitäten geströmt sind.

Um das hohe Tempo zu halten, müssen jedoch neue, wachstumsträchtige Märkte her: Deutschlands IT-Szene - bislang zu einem Gutteil in US-amerikanischer Hand - rückt in den Fokus. "Deutschland ist ein hervorragendes Pflaster für die Inder, denn sie drängen mit aller Macht ins Lösungsgeschäft", berichtet Herbert Weber, Leiter des Berliner Fraunhofer-Instituts für Software- und Systemtechnik (ISST). Der Wissenschaftler fungiert für indische IT-Firmen als Anlaufstelle, wenn sie in den deutschen Markt einsteigen wollen. Damit beide Seiten von der Verbindung profitieren, wird zur Zeit am ISST ein Konzept ausgearbeitet, das noch in diesem Jahr vorgestellt werden soll. "Früher oder später werden die indischen Anbieter kommen", sagt Weber, "und noch haben wir die Chance, mit Kooperationen die Vorteile auch zu nutzen."

Laut Weber sind die Inder dabei nicht an Dienstleistern, sondern in erster Linie an deutschen Softwarehäusern interessiert. Von diesem Geschäft versprechen sie sich im Gegensatz etwa zum Outsourcing deutlich größere Kostenvorteile: Indische Anbieter können im Software-Business die Masse der heimischen Entwickler in die Waagschale werfen. Hinzu kommt das Wissen deutscher Softwerker um Branchen und Lösungen, das wiederum in indische Programme einfließt. "Die indischen IT-Firmen benötigen alternative Angebote zu ihrer ,verlängerten Werkbank'', die bis in die Anwendungsentwicklung hineinreichen", sagt Weber.

Das Problem der Inder: Sie können zur Zeit noch nicht beim deutschen Anwender anklopfen und ihre Software anbieten, weil sie die Geschäftsprozesse häufig nicht beherrschen. "Deshalb ist es wichtig für die indischen Companies, Partnerschaften mit Unternehmen vor Ort einzugehen, die diese Fachverfahren kennen", folgert der ISST-Leiter. Deutsche IT-Anbieter sprechen in der Regel die Sprache ihrer Kunden - in doppelter Hinsicht. Auch machen sich die Inder sonst nichts vor: Dass viele Anwender einen Ansprechpartner aus ihrem Kulturkreis bevorzugen, ist kein Geheimnis.

Mitte September war Deloitte & Touche Corporate Finance zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt: Um kulturelle und sprachliche Barrieren zu überwinden, ziehen indische Unternehmen den Kauf deutscher Anbieter in Erwägung, hieß es in einer Studie. Das Prinzip hinter den Deals: Deutsche Firmen sollen transformiert werden, gefragt sind vor allem Consultants und Projekt-Manager. Sie dienen später als Ansprechpartner der Kunden. "Programmiert wird künftig in Indien, weil es dort günstiger ist", sagt Andreas Pohl, Geschäftsführer von Deloitte & Touche Corporate Finance, einem Spezialisten für Firmenübernahmen.

Allerdings ist bis jetzt höchstens eine Handvoll heimischer Firmen von Indern geschluckt worden. Statt dessen haben Branchengrößen wie Tata Consultancy Services, Wipro oder Infosys vorerst eigene Büros eröffnet und auf organisches Wachstum vertraut - bislang ohne durchschlagenden Erfolg. Daher setzen auch sie inzwischen auf Zukäufe, berichtet Pohl. Vor allem gelte es, den deutschen Markt zu gewinnen und von dort aus weitere Länder in Kontinentaleuropa zu erschließen. In den Vereinigten Staaten verfolgen die Inder schon seit längerem diese Strategie. "Deutschland hängt immer zwei Schritte hinter den USA zurück", beobachtet der Deloitte-Geschäftsführer, der hierzulande für dieses Jahr noch eine große Akquisition erwartet.

Auf der Suche nach einem Partner

Dass die meisten indischen IT-Unternehmen nach geeigneten Übernahmekandidaten suchen, bestätigt auch Subramaniam Ramadorai, CEO von Tata Consultancy Services. Der größte Software- und Serviceanbieter des Subkontinents mit einer Milliarde Dollar Jahresumsatz sucht allerdings nicht nur Verstärkung für Deutschland, sondern für eine Reihe von Ländern weltweit. Um eventuell vorhandene Lücken im eigenen Softwareportfolio zu schließen, kämen verschiedene Optionen in Betracht, gibt sich Ramadorai diplomatisch - Partnerschaften mit Überkreuzlizenzen, Joint Ventures oder Beteiligungen bis hin zur kompletten Übernahme sind möglich. Die Bereitschaft ist vorhanden, das Geld auch, nun fehlt lediglich noch das passende Unternehmen, heißt es Tata-intern.

Der ideale Kaufkandidat ist laut Deloitte-Manager Pohl ein privat geführtes Unternehmen, das weniger als 50 Millionen Euro pro Jahr umsetzt. Die Transaktion müsse beherrschbar bleiben, was gegen börsennotierte Firmen spricht. Companies in finanzieller Bedrängnis sind ebenfalls nicht gefragt - stabile Kundenbeziehungen und vorhandenes Wachstumspotenzial sind Mindeststandard: "Wenn die Inder ein etabliertes Unternehmen kaufen, ist das ein erfolgversprechender Weg", argumentiert Pohl.

Überhaupt scheinen viele indische Firmen momentan einen erfolgversprechenden Weg gefunden zu haben. Die Entwicklung der kleinen Firma vMoksha macht exemplarisch deutlich, was Inder mit "Energie" und "Überlebenswillen" meinen, wenn sie auf die Erfolgsfaktoren ihrer IT-Unternehmen und ihrer Entwickler angesprochen werden. Erst im Jahr 2001 wurde der Dienstleister vom ehemaligen Chef von IBM Global Services India gegründet, 2002 übernahm vMoksha bereits vier Firmen in den USA und Asien, dieses Jahr soll die Zahl der Beschäftigten auf über 1100 verdoppelt werden.

Mitte September kündigte vMoksha-Firmenchef Pawan Kumar laut "India Times" an, weitere Softwareunternehmen in den USA und Europa übernehmen zu wollen. Diese seien interessanter als indische Firmen, weil sie relativ gesehen billiger zu haben sind. Am Geld soll es jedenfalls nicht scheitern: Der IT-Konzern Infosys bezeichnet sich selbst als "zweitprofitabelstes Unternehmen der Welt" nach Microsoft. Gewinnspannen von über 20 Prozent des Umsatzes sind aber auch beim Wettbewerb keineswegs eine Ausnahme.

Dünne Kapitaldecken

Davon können deutsche IT-Firmen gegenwärtig nur träumen - es ist schon schwierig, Geldgeber für eine Expansion oder zur Stärkung der Kapitaldecke zu finden. Das Softwarehaus Arexera aus der Nähe von München beispielsweise hat es bei Banken und Investoren versucht - ohne Chance. Abgeschlossen wurde daher ein Beteiligungsdeal mit der indischen Softwarefirma Aftek, berichtet Arexera-Geschäftsführer Hermann Havermann. Sein Fazit lautet: "Von der Transaktion haben beide Seiten profitiert."

Arexera greift auf die internationale Vertriebsorganisation der Inder zurück, hat die Kapitaldecke gestärkt und darüber hinaus Zugriff auf qualifizierte Entwickler in Indien zu günstigen Preisen, zählt Havermann auf. Aftek wiederum werde unabhängiger vom amerikanischen Markt, könne die eigenen Programme in Deutschland anbieten und außerdem die Arexera-Software in den USA verkaufen. Innerhalb der nächsten drei Jahre will Havermann seine Einnahmen verdoppeln - die Zahl der Mitarbeiter steige indes geringer an. Allerdings: "Ohne die Inder würden wir überhaupt nicht expandieren."

Wachsen wollte auch die Monheimer Softwarefirma AD Solutions AG, die seit kurzem eine 100-prozentige Tocher der indischen Company NIIT ist und deren rund 80 Mitarbeiter auf einen Schlag 3500 neue Kollegen bekommen haben. Es war "unsere freie Entscheidung, den Weg zu gehen", sagt ADS-Vorstandschef Rolf Stephan. Ein Merger mit einem deutschen Unternehmen ähnlicher Größe sei zwar angedacht worden, aber nicht in Frage gekommen: "Doppelt so groß sind wir immer noch klein."

Nun versteht sich das Unternehmen als Dienstleister, der die vermeintlichen Schwierigkeiten zwischen indischen Anbietern und deutschen Anwendern - Sprache, Kultur, Haftungsfragen - überbrückt. Monatliches Reporting an die Muttergesellschaft in Mumbai ist Pflicht, ansonsten "haben wir viel Freiheit", so Stephan. Den Schritt habe auch er nicht bereut, lediglich der deutsche Markt erfülle gegenwärtig seine Erwartungen nicht. "Es ist wichtig, dass man die Chancen wahrt und am Steuer bleibt", bilanziert der ADS-Vorstandschef.

Die Analysten von Gartner sehen die indischen Dienstleister und Softwerker inzwischen an einem Scheideweg angekommen. Sie müssten sich sowie ihr Portfolio über das reine Programmieren hinaus differenzieren und zudem die Vor-Ort-Mannschaften in den USA und den Kernmärkten Europas ausbauen. Aber auch die deutsche IT-Szene muss sich schnell entscheiden, wie sie sich dem indischen Vorstoß gegenüber verhält. "Wenn wir die nächsten fünf Jahre ungenutzt ins Land gehen lassen", warnt ISST-Chef Weber, "haben die Inder die Kompetenz woanders erworben und kommen trotzdem her."

Kein Ausverkauf

"Es ist keine Frage mehr, ob sich die indischen IT-Unternehmen hierzulande einkaufen", sagt Heinz Paul Bonn, Vizepräsident des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien (Bitkom). Die Frage sei vielmehr, wann sie es tun werden. Dabei warnt Bonn vor hitzigen Diskussionen über Stellenabbau, Brain Drain und die Globalisierung an sich - das Thema verdiene eine "nüchterne Analyse", zudem komme man heutzutage an den Offshore-Modellen einfach nicht mehr vorbei.

Gegenwärtig geht vielen heimischen Dienstleistern das Geld aus, und die Suche nach frischem Kapital gestaltet sich schwierig. Einen Ausverkauf des IT-Mittelstands würde Bonn bedauern, auch wenn er ihn nicht wirklich befürchtet. Die Aufgabe müsse sein, Firmen aus beiden Ländern in vernünftiger Weise zusammenzubringen: "Das Branchenwissen eines deutschen Mittelständlers verbunden mit der Technologie aus Indien ist eine exklusive Mischung", sagt der Bitkom-Vizepräsident. Zweifler fordert Bonn auf, sich selbst ein Bild von der indischen IT-Kompetenz zu machen.