In sowjetischen Rechenzentren die gleichen Probleme

25.07.1975

Mit Dr. Martin Graef, Direktor des Zentrums für Datenverarbeitung an der Universität Tübingen, der einen Monat in Moskau und Novosibirsk mit Kollegen arbeitete, sprach CW-Chefredakteur Dr. Gerhard Maurer

- Sie waren einen Monat in zwei sowjetischen Großrechenzentren in Moskau und in Novosibirsk, - jeweils ausgerüstet mit Schreibtisch, verbunden mit engem Kontakt zu den dortigen Spezialisten. Sind sich Datenverarbeiter in Ost und West ähnlich? Doch, das kann man sagen. Der Alltag dort ähnelt unserem Alltag hier in vielen Punkten. Auch in der Sowjetunion ist die EDV heute schon zu einer gewissen Selbstverständlichkeit geworden. Eine Ehrfurcht vor der Maschine - im Sinne eines Allerheiligtums - habe ich nirgends vorgefunden. Als Unterschied fiel auf, daß die Mitarbeiter der sowjetischen Rechenzentren im allgemeinen eine bessere Grundausbildung haben als bei uns. So sind zum Beispiel Wartungs-Techniker fast ausnahmslos ausgebildete Diplom-lngenieure und programmiert wird meist von Mathematikern oder anderen Hochschul-Absolventen. Lediglich der Operator-Beruf ist wie bei uns ein Anlernberuf.

- Das klingt wie bei uns zu Pionierzeiten, als auch nur die Bestqualifizierten sich mit der neuen Geheimwissenschaft beschäftigten.

Das ist nur bedingt richtig. Die Anlagen in den von mir besuchten Rechenzentren sind reine Serienprodukte, die sicher über hundertmal innerhalb des Landes an den verschiedensten Stellen sich im Einsatz befinden.

- Sprechen wir mal über diese Hardware. Um welche Maschinen handelt es sich und wie kann man sie mit westlichen Maßstäben klassifizieren?

In beiden Rechenzentren - sowohl in Moskau wie in Novosibirsk - stand als größte von mehreren Anlagen die BESM 6, in Novosibirsk sogar mehrfach. Dieser Rechner ist größenordnungsmäßig etwa mit der CDC 3300 zu vergleichen. Wie diese handelt es sich um eine Wortmaschine. Der Kernspeicher ist in Seiten aufgeteilt, ein Teil dieser Seiten befindet sich während der Ausführung des Programmes jedoch nicht im Kernspeicher, sondern auf Trommelspeichern.

- Also in IBM-Terminologie dürfte es sich um einen Rechner der Größenordnung 360/50 handeln. Gab es auch vergleichbare Peripherie?

Als einen für die Funktion sehr bedeutungsvollen Massenspeicher hatte ich bereits die Trommel erwähnt. Daneben gibt es selbstverständlich auch noch eine Reihe von Magnetplattenspeichern, die in Aufbau, Funktion und Leistung etwa mit unseren Platteneinheiten vergleichbar sind. In den Gesprächen über die Platteneinheiten zeigte es sich, daß unsere BASF-Platten dort bekannt sind und auch einen guten Ruf haben. Daneben gab es selbstverständlich noch eine Vielzahl von Magnetbandstationen. Von der Papierperipherie ist in erster Linie der Schnelldrucker zu erwähnen, der außer den lateinischen auch die kyrillischen Buchstaben im Zeichenvorrat hat.

- Könnten Sie sich vorstellen, daß Sie mit dieser Hardware ebensogut an ihrer Universität in Tübingen arbeiten können?

Es ist allgemein bekannt, daß die Wahl der Rechenanlage mit der ein Rechenzentrumsleiter zu arbeiten hat, nicht alleine vom Rechenzentrumsleiter bestimmt wird. Insofern würde ich es als eine echte Aufgabe ansehen auch eine solche Anlage zu betreiben - und ich bin davon überzeugt daß die Benutzer dann auch zufriedene Benutzer wären. Schließlich ist es eine Multiprogramming-Maschine an die Bildschirme angeschlossen sind, über die man auch im Dialog Programme erstellen und austesten kann.

- Wie sah es mit der Software aus?

Insgesamt gibt es für die BESM 6 fünf verschiedene Betriebssysteme von denen das Betriebssystem Dispak weitaus am meisten im Einsatz ist.

- Welchen Komfort bietet es, ist es eher ein DOS- oder ein OS-Betriebssystem?

Es ist sehr schwer, hier einen Vergleich anzustellen, weil man dann sofort ins Detail gehen müßte. Ich würde aber trotzdem das Dispak für ein OS-ähnliches Betriebssystem halten.

- Und wie steht es um die Sprachen?

Weitaus am verbreitetsten sind die Programmiersprachen Fortran und Algol. Cobol und PL 1 wird relativ selten nur angewendet, auch die Assembler-Sprache findet nur sehr selten Anwendung - weit unter zehn Prozent.

- Sind das - sagen wir - westkompatible Versionen von Fortran und Algol? Würden Programme auch im Westen laufen oder andersrum?

Ich habe bei meinem Aufenthalt in der Sowjetunion keine Programme dort geschrieben und zum Lauten gebracht, so daß ich hierauf keine genaue Antwort geben kann. Aber den Eindruck, daß es sich bei den Sprachen um die bei uns verbreiteten Normen handelt, da abweichende Sprachdialekte mit anderen Namen belegt waren. Insgesamt würde also mit dem im allgemeinen üblichen Umstellungsaufwand ein Programmaustausch möglich sein.

- Gibt es westliche Programme, - sagen wir wissenschaftliche Pakete und dergleichen - in den von Ihnen besuchten Rechenzentren ?

Soweit ich den Eindruck gewonnen habe, handelt es sich ausschließlich um Eigenentwicklungen.

- Wie steht es um die Möglichkeit der sowjetischen Kollegen, sich zu informieren? Wird auf West-Know-how zurückgegriffen?

Ich habe sehr viel von den Bibliotheken der dortigen Rechenzentren Gebrauch gemacht und habe dabei festgestellt, daß es sehr viel englischsprachige Literatur, - teils im Original, teils übersetzt - gibt. Darüber hinaus haben die Mitarbeiter und Benutzer des Rechenzentrums Gelegenheit, in diesen Bibliotheken Einblick in praktisch alle gängigen Fachzeitschriften des Westens zu gewinnen.

- Ist die Computerwoche schon bis Novosibirsk vorgedrungen?

Hier muß ich Sie enttäuschen, ich habe die Computerwoche leider nirgends gesehen. Aber darf ich mit der Gegenfrage kommen: Haben Sie denn mal versucht, eine nach Novosibirsk zu schicken?

- Was nicht ist, kann ja noch kommen? Spricht der sowjetische DV-Spezialist Englisch?

Selbstverständlich kann der sowjetische DV-Spezialist auch Englisch. Es wird aber wesentlich weniger Englisch gesprochen als bei uns. Dabei fiel auf, daß für sehr viele Anglismen der Datenverarbeitung russische Worte benutzt werden.

- Nennen Sie uns doch ein Beispiel.

Solche selbstverständlichen Worte wie Job Processing oder Magnetic Tape sind nicht so bekannt. Für Job Processing sagt man "Regime Paketa", - also "Paketerledigung".

- Sie haben in Novosibirsk auch zwei Vorträge gehalten. Worum gings? Wurde diskutiert? Was vor allem wollte man von Ihnen wissen?

Der eine Vortrag ging über "Die Struktur eines Rechenzentrums in der Bundesrepublik und ihre Anpassung an das Profil der Applikationen". Der zweite Vortrag behandelte "Die Steuerung der Effektivität eines Rechenzentrums". Hierbei kamen insbesondere die Probleme der Sicherheit und Zuverlässigkeit zur Sprache.

- Worüber wurde dann diskutiert?

Die sich daran anschließenden Diskussionen gingen sehr in die Länge. Man war doch sehr daran interessiert zu hören, wie wir in der Bundesrepublik die Alltagsprobleme im Rechenzentrum meistern.

- Hat man Sie als so eine Art Prophet betrachtet?

Das nun wirklich nicht. Wir haben uns so wie Kollegen hier unterhalten.

- Haben auch Sie dabei lernen können? Können wir im Westen von Erfahrungen aus der Sowjetunion profitieren?

Selbstverständlich gibt es auch Punkte, wo wir von unseren sowjetischen Kollegen Iernen können. So hatte ich zum Beispiel den Eindruck, daß man dort aus der vorhandenen Hardware wesentlich mehr produktive Arbeit herausholt als bei so manchem Rechenzentrum bei uns.

- Wie das? Dreischichtbetrieb sicherlich. Was noch?

Die Anlagen dort werden rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche betrieben, wobei der Sonntag keine besondere Sonderstellung einnimmt. Darüber hinaus gibt es in wesentlich größerem Umfange Restriktionen in der Benutzung, die einzelne Programmierer oder die Fachabteilung zwingen, mit den zugeteilten Kapazitäten besonders wirtschaftlich umzugehen.

- Können Sie hier ein bißchen ins Detail gehen?

Im Verhältnis zu den Aufgaben wird festgelegt, wie oft und in welchem Umfange pro Tag eine bestimmte Fachabteilung die Anlage nur benutzen darf. Um den vorgegebenen Plan auch erfüllen zu können, sind die Programmierer vielmehr als bei uns gezwungen, effektiven Code zu programmieren.

- Wie würden Sie Ihren Gesamteindruck abschließend hier beschreiben?

Ich war erstaunt, bei dieser Reise zu erfahren, welchen selbstverständlichen Platz die EDV im Alltag in der Sowjetunion bereits einnimmt. Wenn wir hier bei uns auch nur sehr wenig bisher darüber erfahren haben, so soll uns das keineswegs veranlassen anzunehmen, daß man in der Sowjetunion bezüglich der EDV hinterm Mond sei. Ganz und gar nicht. Die Alltagsprobleme sehen genauso aus wie bei uns.

Dr. Martin Graef (41)

ist seit 1970 Direktor des Zentrums für Datenverarbeitung an der Universität Tübingen. Ersten Kontakt mit der EDV hatte er bereits während seines Physik-Studiums. Vor seinem Tübinger Job war er zweieinhalb Jahre Leiter einer Gruppe für Systemprogrammierung bei der Deutschen Lufthansa. Im Rechenzentrum der Uni Tübingen sind Graef und seine 34 Mitarbeiter für den Betrieb einer CDC 3300 verantwortlich, - noch in diesem Jahr soll zusätzlich eine TR 440 installiert werden. Die Reise in die Sowjetunion wurde durch das Auswärtige Amt im Rahmen der Kulturkontrakte der Bonner Ostpolitik arrangiert.