In Sekunden verlässliche Aussagen

27.02.2006
Mit Supply-Chain-Planung in Echtzeit verbessert Boehringer Ingelheim Durchlaufzeiten und Liefertreue.

Eigentlich hatte die Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG nur ein Jahr eingeplant, um das Echtzeit-Planungssystem "Way RTS" von Wassermann einzuführen. Doch sie hatte den Aufwand unterschätzt, denn zunächst galt es, die funktional ausgerichtete Denkweise gegen eine prozessorientierte einzutauschen. Dann erst konnte das Pharmaunternehmen darangehen, die SCM-Software (Supply-Chain-Management) zu implementieren und mit dem von SAP stammenden ERP-System (Enterprise Resource Planning) zu integrieren. Doch letztlich hat sich der Aufwand gelohnt, so die Verantwortlichen.

Projektsteckbrief

Projektart: Integration von Ressourcenplanung und ERP-System.

Branche: Pharma.

Zeitrahmen: Erstellung des Lastenhefts Ende 2002, Projektende im Dezember 2000.

Stand heute: läuft produktiv.

Aufwand: drei Jahre, zwei für die Entwicklung, eins für die Implementierung.

Produkt: "Way RTS" von Wassermann, "R/3" von SAP.

Ergebnis: weniger Bestände, schnellerer Durchlauf, erhöhte Liefertreue.

Herausforderung: Pilotkunde.

Best Practice

• Organisation muss der Prozessdenke angepasst werden, das braucht seine Zeit.

• Der Rollout über Key User ist bei 180 Anwendern illusorisch.

• Das Change-Management darf nicht unterschätzt werden.

Mehr zum Thema

www.computerwoche.de/go/

569749: SCM-Lösungen im Vergleich;

553773: Woran SCM-Projekte scheitern;

561668: Planungs-Tools schließen ERP-Lücken.

Konkreter Handlungsbedarf

Boehringer Ingelheim erzielte im vergangenen Jahr mit fast 36000 Mitarbeitern einen Umsatz von mehr als acht Millionen Euro. Das Unternehmen beliefert 140 Länder mit rund 1000 Fertigprodukten, wobei jeden Monat etwa 10000 Fertigungsaufträge anfallen. Aufgrund des geschäftlichen Wachstums machten sich vor etwa drei Jahren Defizite in der Ressourcenplanung bemerkbar: Konflikte zwischen Versorgung und Kapazitätsauslastung ließen sich nicht rechtzeitig erkennen. Transparenz und Synchronisierung über alle Prozesse und Fertigungsstufen blieben Illusion, denn dazu hätten 16 verschiedene Screens aufgerufen werden müssen, was kaum jemand tat. Da die Prozesse in planerischer Hinsicht rückständig waren, ließen auch Umschlagshäufigkeit und Liefertreue zu wünschen übrig. Letztere lag bei 90 bis 92 Prozent, berichtete Markus Klomann, Abteilungsleiter Supply-Chain-Management und Logistik bei Boehringer Ingelheim, auf der jährlichen Anwenderkonferenz der Wassermann AG. Das Fazit des Lieferkettenfachmanns: "Wir hatten Handlungsbedarf."

Zunächst konzentrierte das Unternehmen sein Supply-Chain-Management (SCM) und die Logistik an den Standorten Ingelheim und Biberach. Gleichzeitig ersetzte es die funktional orientierte Organisation durch eine Matrix, in der jede Lieferkette quer durch die Bereiche Planung, Beschaffung, Lagerhaltung, Produktion und Qualitätssicherung verläuft. Die Verantwortung des SCM-Bereichs erstreckt sich per definitionem auf das Führen der Lieferketten sowie die Einhaltung von Terminen und Kosten, zudem umfasst sie ein Mitbestimmungsrecht bei der Festlegung der Kapazitäten und Ressourcen.

Als "die ganz große Herausforderung" bezeichnet Klomann allerdings die Aufgabe, das Denken in funktionalen Silos in den Köpfen der Mitarbeiter gegen ein Denken in Prozessen einzutauschen. Um dieses Denken visuell greifbar zu machen und zu unterstützen, suchte Boehringer Ingelheim ein Supply-Chain-Management-System, das seinen Ansprüchen gerecht werden konnte: Da das Unternehmen häufig Schnellaufträge abarbeiten muss, sollte die Software in der Lage sein, kurzfristige Planungsänderungen ohne Zeitverzug über alle Prozesse hinweg nachzuvollziehen. "Wir benötigten eine Echtzeitplanung", erläutert Klomann, "eine Planung mit dem Bildschirm, nicht mit Aktenpaketen unter dem Arm."

Die Ziele

In die Nutzwertanalyse wurden drei Produkte einbezogen. Bewertungsschwerpunkte waren unter anderen die Einbindung von Kapazitäten wie Labor und Qualitätssicherung, die simulative und rückstandsfreie Planung sowie die Fähigkeit zur Erstellung von Rüstmatrix und Kampagnenplanung. Am Ende entschied sich Boehringer Ingelheim für das damals ganz neue Echtzeitwerkzeug Way RTS von Wassermann.

Projektstart war Ende 2002. Die Ziele wurden wie folgt definiert:

• Nach der Softwareeinführung sollte der gesamte Leistungsprozess transparent sein - einschließlich der Qualitätssicherung und des Wareneingangs.

• Die Durchlaufzeiten waren deutlich zu verringern und

• die Liefertreue zu verbessern.

• Außerdem wollte das Unternehmen flexibler werden, um schneller auf Marktveränderungen reagieren zu können.

• Last, but not least sollte die Produktivität steigen.

Ein Lasten- und Pflichtenheft war innerhalb von sechs Wochen erstellt, berichtet Kloman, "aber die Diskussionen begannen erst danach". Zu den Kernanforderungen von Boehringer Ingelheim gehörten neben der Kampagnenplanung die "Available-to-Promise"-Prüfung, die Simulation von Planungsszenarien, die Packmittelversionierung sowie eine sehr granulare Abbildung der Prozessaufträge.

Mit der Entwicklung wurde 2003 begonnen. Als datenführendes System hatte Boehringer Ingelheim die SAP-Software vorgesehen. Dort sollten alle Stammdaten abgelegt werden - einschließlich der Packmittelversionierung und der Chargen-Stati. In R/3 waren auch Materialbuchungen, Chargen-Nummernvergabe und -zuordnung sowie die Freigabe von Prozessaufträgen und die Veränderungen der Chargenzustände nachzuhalten.

Zu lange Antwortzeiten

Für die operative Planung hingegen eignete sich die Software des Branchenführers weniger: "Die Anwortzeiten waren nicht, was wir Planer uns wünschten," so Klomann. Für die gesamte Feinplanung sowie für die Materialdisposition sollte deshalb Way RTS zum Einsatz kommen.

Im Detail dient das Wassermann-Tool heute dazu, Planaufträge zu fixieren, Prozessaufträge anzustoßen, Konsistenzen und Auftragserfüllung (Avialabe to promise) zu prüfen, Men- gen-, Termin- und Versionsveränderungen vorzunehmen, Linienbelegung und -auslastung zu regeln sowie Rüst- und Reinigungszeiten zu optimieren. Um die Planung konsistent zu halten, gleichen das Wassermann-Tool und die SAP-Software stündlich ihre Daten ab.

Insgesamt zog sich die Einführung der neuen Softwarelandschaft über drei Jahre hin. Das war mehr als doppelt so viel Zeit, als sich die SCM-Experten von Boehringer Ingelheim reserviert hatten. "Wir haben das Projekt anfangs unterschätzt", räumt Klomann ein, "nach dem Motto: Ach, das bisschen Customizing!" Zeit habe vor allem die Änderung der Denkweise verschlungen: "Die Mitarbeiter mussten sich mit der ganzen Prozesskette auseinander setzen, und da hatten wir sie immer wieder abzuholen". Unbedingt notwendig und zunächst einmal aufzubauen war zudem eine prozessoriertierte Organisation: "Das Tool allein hilft Ihnen nur begrenzt", mahnt der SCM- und Logistikexperte.

Sequenzielles Vorgehen

Erschwerend kam hinzu, dass das Pharmaunternehmen ein "Alphakunde" für das neue Wassermann-Tool war. Es gab also keine Best Practices, an denen sich das Projekt hätte orientieren können.

Die usprüngliche Idee, einen parallelen Rollout über Key User zu veranstalten, stellte sich als nicht praktikabel heraus. "Bei 180 Anwendern funktioniert das nicht", musste Klomann einsehen. Deshalb entschied er sich für ein sequenzielles Vorgehen, das sich - über fünf verschiedene Prozessketten - von Oktober 2004 bis Dezember 2005 hinzog.

"Trotz dieses kritischen Weges" würde Klomann nach eigenem Bekunden alles wieder genauso machen. Der Erfolg gibt ihm Recht: Die Umschlagshäufigkeit hat sich verdoppelt, die Liefertreue auf mindestens 95 Prozent erhöht; in einigen Lieferketten liegt sie sogar deutlich darüber.

Simulierte Szenarien

Vor allem aber ist heute rechtzeitig erkennbar, wann und wo Engpässe auftreten werden. Über die Simulation alternativer Planungsszenarien lassen sich schnell verlässliche Aussagen zur Machbarkeit neuer Aufträge treffen. Deren Auswirkungen sowie die Änderungen auftragsrelevanter Daten sind innerhalb weniger Sekunden für die gesamte Supply Chain durchrechenbar. Das ebenfalls zu beobachtende Plus an Produktivität ist laut Klomann allerdings nicht ausschließlich auf den Einsatz von Way RTS zurückzuführen.