Digitalisierung im produzierenden Gewerbe

In 7 Schritten fit für Industrie 4.0

05.04.2016
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Die Welt von Handel und Vertrieb sind Roland Fesenmayr ebenso vertraut wie die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung. Seit mehr als 15 Jahren verfolgt der Experte für E-Commerce die digitale Transformation und gestaltet sie als Vordenker leidenschaftlich mit – in vielfältigen Veröffentlichungen und durch ein Unternehmen: die OXID eSales AG, die der Allgäuer heute als CEO führt und 2003 mitbegründet hat. Fesenmayr ist auch Vorstand der baden-württembergischen Wirtschaftsinitiative bw:con.

Sieben auf einen Streich: Schritt für Schritt fit für Industrie 4.0

Wer hätte vermutet, dass ein Internetkonzern wie Google der mächtigen Automobilbranche das erste selbstfahrende Auto vor die Nase setzt? Worüber vor ein paar Jahren einige noch geschmunzelt hätten, lacht heute niemand mehr. Vielmehr holt nun ein ganzer Industriezweig seine Hausaufgaben nach. Denn so wenig wirtschaftlich relevant dieser Präzedenzfall heute vielleicht noch sein mag, Grund zur Beruhigung gibt es keinen. Mit einem mutigen Schritt hat Google-Mutter Alphabet einen Bereich des Industriemarktes besetzt, der ihr kaum wieder abzunehmen ist. Und dies dürfte nicht das letzte Pionierprojekt des Internetriesen gewesen sein. Dass parallel an der Entwicklung von Google Glass gearbeitet wird – der Computerbrille, die virtuelle und reale Welt verbindet, einem Beispiel par excellence für eine CPS-Anwendung, ist sicher kein Zufall. Der nächste Griff eines Serviceanbieters in die Schatzkiste der Produktion wird nicht lange auf sich warten lassen.

Um in einem Umfeld rasant aufkommender, technologisch durch das Internet getriebener Innovationen mitspielen zu können, müssen sich Hersteller den folgenden sieben Aufgaben stellen:

1. Richtiges Timing: Vorsprünge nutzen

Das Google Self-Driving Car Project demonstriert in beispielloser Klarheit, mit welcher Geschwindigkeit Märkte umgewälzt werden können und welche Chancen der Wandel gerade für Quereinsteiger bereit hält. Wer im etablierten Branchenumfeld auf den richtigen Moment wartet, verpasst ihn. Denn ist eine disruptive Innovationen erst einmal im Gange, kommt für den Zögernden der Einstieg zu spät, um noch vorn mitspielen zu können. Deswegen besteht die erste Aufgabe darin, sich bewusst zu machen, wie dringend zeitnah in Digitalisierung investiert werden muss. Wer investiert, geht natürlich auch Risiken ein; diese können aber kalkuliert und mit Verantwortung gewählt werden.

2. Erfolgspotentiale sichern: Know-how schützen

Die erste Pflicht besteht darin, das eigene Know-how zu erfassen, zu beziffern und zu schützen. Vielleicht durch Patente. Auf jeden Fall aber durch das Binden qualifizierten Personals, die kontinuierliche Pflege und den Ausbau von Kompetenzen und Raum für Forschung und Entwicklung. Schützenswertes Know-how umfasst nicht nur Formeln und Konzepte, sondern auch die eingesetzten Anwendungen sowie Arbeitsweisen und Prozesse in Produktion und Fertigung – dieses Wissen liegt in erster Linie beim Personal – und dieses gilt es zu halten! Dabei muss frisches Fachwissen nicht unbedingt extern eingekauft werden, sondern kann durch Expertenschulungen – gerade im IT-Bereich – gezielt aufgebaut und entwickelt werden.

Um die eigenen Vorsprünge gerade im Bereich Automatisierung und Expertenqualifikation genau zu kennen, lohnt ein intensiver Branchenvergleich mit dem US-amerikanischen Markt. Auch frühzeitig und mit Bedacht gewählte Kooperationspartner dienen dem eigenen Schutz und der Stärkung. Industrie 4.0 ist eine Revolution der Vernetzung, sie kann nicht als Einzelkämpfer gewonnen werden.

3. Wertschöpfung ausloten: neue individualisierte Produkte denken

Hierzulande ist das Hamburger Startup Skybus eines dieser Unternehmen, das 2015 mit seiner Lösung eine Lücke besetzt hat, die sich im neu entstehenden Umfeld von Industrie 4.0 auftat. Um die Kommunikation zwischen Software und Maschinen zu erleichtern, oder zum Teil überhaupt erst zu ermöglichen, entwickelte Skybus ein in der Cloud gelagertes Toolkit für Übersetzung und Informationsaustausch. Es ist eine herstellerunabhängige Kommunikationsplattform die Maschinen- und Softwarehersteller zusammenbringt. Die Hamburger haben bereits ein Pilotprojekt mit der Sick AG realisiert und arbeiten zurzeit an einem weiteren mit Siemens.

Solche Marktlücken könnten auch etablierte Firmen entdecken und schließen, wenn sie strategisch verankerten Raum für Forschung und Entwicklung kontinuierlich für die Auslotung neuer individualisierter Produkte nutzen. Dabei geht es weniger um akademische Grundlagenforschung, sondern vielmehr um das Experimentieren mit praxisnahen Use Cases. Die Fragen: „Was können wir bieten?“ und „Wem kann es nützen?“ sind offen genug gestellt und zugleich nah genug am Tagesgeschäft, um in einem Pilotprojekt mit überschaubaren Risiken getestet zu werden. Gerade aus den Reihen der C-Produkte können sich Hidden Champions entwickeln, denen im Tagesgeschäft verständlicherweise nicht die Aufmerksamkeit zukommt.

Um planvoll, verbindlich und dennoch flexibel und ressourcenschonend vorzugehen, haben sich agile Methoden bewährt. Wie etwa SCRUM im Entwicklungsprozess oder der Smart Planning Cycle, wie ihn das Fraunhofer Institut für den Planungsfluss in der künftigen Smart Factory, dem angestrebten Ideal von Industrie 4.0, beschreibt.

Das Set-up eines solchen Smart-Planning-Zyklus ist dabei die eigentliche Investition. Steht das System einmal, ist die Grundlage für eine Vielzahl von Anwendungsszenarien geschaffen.

4. Strategische Vernetzung: regionales Teamplay stärkt

Die große ökonomische Relevanz von Industrie 4.0 hat auch die Bundesregierung erkannt. Anfang 2013 wurde die Initiative „Plattform Industrie 4.0“ als Gemeinschaftsprojekt der großen Wirtschaftsverbände BITKOM, VDMA und ZVEI mit der Evaluierung und Verfolgung des Zukunftsthemas betraut.

Interaktive Landkarte CPS-fähiger Projekte und Unternehmen in Deutschland. www.plattform-i40.de
Interaktive Landkarte CPS-fähiger Projekte und Unternehmen in Deutschland. www.plattform-i40.de
Foto: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie

Die Erfolge des Spitzen-Clusters „it’s OWL“ (IT-Cluster Ostwestfalen-Lippe) in Nordrhein-Westfalen und das regionale Netzwerk Baden-Württembergs, dem Bundesland mit einem deutschlandweit überproportionalen Anteil am produzierenden Gewerbe, zeigen eindrucksvoll, welche Wirtschaftskraft sich durch regionale Bündelung entfalten kann. Von der baden-württembergischen Landesregierung wird auch eine Forschungsinitiative der Maschinen- und Anlagenbauer unterstützt. Die Kooperationsplattform „Virtual Fort Knox“ holt insbesondere kleine und mittelständische Produzenten ins Boot. So können diese frühzeitig an einem gemeinsamen Entwicklungsprozess teilhaben, der ihnen auf eigene Faust nicht möglich wäre. Global könnte sich dieser „regionale Verstärker“ zum wesentlichen Vorsprung der europäischen, respektive deutschen Industrie entwickeln. Besonders in umkämpften Märkten sind belastbare Kooperationen und integrierte Systeme ein echter Wettbewerbsvorteil. Ein relativ hoher Grad der Automatisierung und erfahrenes Fachpersonal sind insgesamt eine gute Ausgangsbasis für den Wandel, der gemeistert werden muss. Jedoch glänzen vor allem amerikanische Konzerne beim Thema Industrie 4.0 heute schon durch exzellente Organisation und ein durch Erfahrung erprobtes agiles Handeln.

5. Erfolgspotentiale sichern: Know-how schützen

Eine Schlüsselerkenntnis aus der Erforschung neuer Marktfelder anhand von Use Cases ist die Einsicht, dass im Industrie 4.0-Umfeld von Beginn an auf ganzheitliche Produktionssysteme gesetzt werden muss. Es werden modulare Systeme benötigt, die trotz aller Komplexität flexibel bleiben. Sie ermöglichen Automatisierung und Cloud-basierte Selbststeuerung nicht nur für bestehende Produktgruppen, sondern auch für künftige, heute noch nicht bekannte Produkte. Für die Umsetzung sind hohe Softwareentwicklungskompetenzen absolut unerlässlich. Sie müssen mit entsprechender Sorgfalt geplant und kontinuierlich ausgebaut werden. Das gilt sowohl für die Kapazitäten aller involvierten Bereiche im eigenen Unternehmen, als auch für die Wahl erfahrener Lieferanten und Partner, die mit derselben Konsequenz den Wandel zu Industrie 4.0 mitgestalten wollen.

6. Qualität und Kontinuität der Software-Entwicklung: alles braucht eine Basis

Ob intern oder über externe Partner: Industrie und IT rücken in der nächsten Entwicklungsstufe eng zusammen. Dabei treten sie in noch stärkere Abhängigkeit zueinander. Für Prozess- und Produktentwicklung ist Flexibilität im Sinne von strategischer Offenheit von unschätzbarem Wert. Offenheit gegenüber neuen Märkten, Offenheit gegenüber sich schnell wandelnden Geschäftsmodellen und in der Produktion und im Ausbau der IT-Landschaft Offenheit gegenüber einer Vielfalt von cyber-physischen Systemelementen. Eine entsprechende Weitsicht bei neuen Geschäfts- und Vertriebsmodellen ist daher auch in der IT-Architektur und von allen verwendeten Systemen gefordert. B2B-spezifische Komponenten müssen Wandlungspotential haben und sollten in erster Linie Prozesse mit definierbaren Elementen abbilden. Hartkodierte Schnittstellen und starre Spezifikationen haben dagegen wenig Wert. Sie können morgen schon überholt oder unzureichend sein.

7. Vorausschauende Geschäftsstrategie: jeden Tag ein Stückchen Revolution verarbeiten

Die vierte industrielle Revolution wird Folgen haben. Sie bringt Produkte und Geschäftsmodelle hervor, die bei aller Sorgfalt und Fantasie heute noch nicht absehbar sind. Die Anpassung der Geschäftsstrategie bleibt ein Dauerthema, das am besten kontinuierlich und in kleinen Dosen angegangen wird. Das beginnt schon mit dem Schritt auf das Parkett neuer Märkte oder Distributionskanäle und kann ab dem ersten Tag positive Ergebnisse und weiteren Auftrieb bringen. So kommentierte der traditionsreiche Schweizer Metallwarenhersteller Kuhn Rikon nach erfolgreichem Launch eines B2B-Shops und dem Start des Direktvertriebs begeistert: „Europa, wir kommen!“

Ein bemerkenswertes Beispiel gibt der Wiesbadener Kion-Konzern, der sich nicht allein darauf beschränkte, Gabelstapler und Logistiksysteme herzustellen, die bereits heute schon fahrerlos durch die Werkhallen gelenkt werden. Als sich abzeichnete, wie abhängig die neue Generation der Hardware von der Software ist - denn nur durch Kommunikation kann der fahrerlose Gabelstapler wissen, wo eine Palette frei ist und die Abläufe optimieren, kaufte Kion kurzerhand die Expertise und stieg mit Akquisitionen und Beteiligung selbst ins Softwaregeschäft ein.

Künftiges Potential kann je nach Geschäftsmodell aber auch für Industrieunternehmen im Endkundenmarkt liegen. Im Dezember 2015 kündigte ThyssenKrupp den Launch europäischer Onlineshops an, darunter ein Onlineshop für Stahl, Kunststoff- und Aluminiumprodukte, der sich an Endverbraucher und Kleinabnehmer wendet. Dafür führte ThyssenKrupp die Marke "Materials4Me" als Zweitmarke in Europa ein. Hand- und Heimwerker in Großbritannien können ihren Werkstoffbedarf heute schon online decken. Es folgen weitere Länder. Im April ist der Start des Shops in Deutschland geplant. Der Konzern erschließt sich damit nicht einfach nur einen neuen Absatzmarkt, sondern verfolgt offensichtlich auch das Ziel, Marktanteile in Form von Kontakten und unmittelbarer Kommunikation mit den Verbrauchern zu sichern. Laut einer aktuellen Studie befindet sich der DIY-E-Commerce derzeit im Aufwind und zeigt gute Wachstumspotentiale; der Zeitpunkt ist also sehr günstig gewählt. (Studie E-Commerce im DIY)

Fazit

B2B-Hersteller erleben heute und in den nächsten Jahren eine spannende aber keineswegs einfache Zeit technologischen Wandels. Gerade in der Wahl strategischer Partnerschaften und langfristiger Lieferanten lohnt der suchende Blick über den Tellerrand. Wer verfolgt ähnliche Werte und Ziele? Wer hat das Geschäftspotential perspektivisch ergänzt und kennt sich in einem benachbarten Markt oder mit komplementären Gütern sehr gut aus?
Industrie 4.0 vernetzt nicht nur Systeme sondern auch Unternehmen und Märkte.