Eine Geschäftsordnung soll das DV-Chaos beseitigen

Immer mehr mittlere Betriebe ordnen ihre Datenverarbeitung den Fachbereichen unter

11.01.1991

In den meisten mittelständischen Betrieben und in vielen Großunternehmen ist die Kooperation zwischen den verschiedenen Fachabteilungen und den DV-Verantwortlichen mangelhaft. Entwickler programmieren an den Bedürfnissen der Anwender vorbei, der Anwendungsstau belastet die Unternehmen, die Unzufriedenheit unter den Mitarbeitern wächst. Ursachen für diesen Zustand sind gerade in mittelgroßen Betrieben organisatorische Mängel und das Fehlen von verbindlichen DV-Richtlinien. Beim Münchner Metzgereibetrieb Vinzenz Murr soll jetzt eine "DV-Geschäftsordnung " Abhilfe schaffen.

Worin Sinn und Zweck der Datenverarbeitung liegen, schreibt der bayerische Fleischlieferant schon in der Einleitung seines "Rahmenvorschlags einer Geschäftsordnung für DV-Abteilungen" fest: "Die DV-Abteilung ist ein ,Dienstleistungsbetrieb' für die verschiedenen Geschäftsbereiche im Unternehmen". Grundlegender Gedanke des 26seitigen Exposes: Die zehnköpfige DV-Abteilung ist den Fachbereichen als Serviceanbieter weitgehend untergeordnet.

Die Geschäftsordnung dient dazu, die Beziehung zwischen DV-Abteilung und Anwender zu regeln beziehungsweise einer unkontrollierten Inanspruchnahme der DV-Abteilung durch die Fachbereiche vorzubeugen. Bei der Fertigstellung des Papiers stützte sich der DV-Verantwortliche Reinhard Stassar auf "in der Praxis bestehende Geschäftsordnungen", deren Regeln und Empfehlungen den eigenen Bedürfnissen entsprechend zusammengetragen wurden. Das oberste Ziel dieses Regelwerks ist der möglichst ökonomische Einsatz von DV-Ressourcen: "Nur das wirtschaftlich Notwendige, nicht das überhaupt Machbare soll mit Mitteln der Datenverarbeitung gelöst werden", so das wichtigste Gebot.

Hat die Datenverarbeitung früherer Generationen den Aspekt Wirtschaftlichkeit vernachlässigt? "Seien wir ehrlich, in vielen Abteilungen ist es so, daß das berühmte Komma irgendwo gesetzt wird - ohne Rücksicht auf die entstehenden Kosten", erklärt DV-Leiter Stassar, der das Geschäftsordnungs-Manuskript entworfen hat. Es gehe allein um Wirtschaftlichkeit und nicht darum, daß die letzten Schönheitsschnörkel in Cobol und Assembler auch noch programmiert würden.

Stassar steht mit seiner Beschreibung der DV-Situation in mittelständischen Betrieben nicht allein. So hat auch Hans-Ferdinand Huber, Organisationsfachmann bei der Deutschen Gesellschaft für Mittelstandsberatung in München, bei vielen seiner Kunden organisatorische Mängel entdeckt: "Auf der einen Seite führt der Anwendungsstau ständig zu Problemen, zum anderen werden von den DV-Experten allzu oft Dinge in die Fachabteilungen eingebracht, die diese gar nicht haben wollten." Was in Großbetrieben die Organisationsabteilungen leisteten, könne in mittelständischen Unternehmen eine Geschäftsordnung schaffen: die Abgrenzung von Aufgaben und Funktionen der DV sowie die Klärung der Verantwortlichkeiten.

Früher, so die Erfahrungen von Vinzenz-Murr-Mitarbeiter Stassar, war ein "ungeregelter Verkehr zwischen EDV und Fachabteilung" an der Tagesordnung. "Mitarbeiter der Fachbereiche haben sich ihren Haus- und Hofprogrammierer gegriffen und diesem mehr oder weniger mündlich einen Auftrag erteilt." Die Realisierung dieses Auftrages habe nur in den seltensten Fällen vollständig den Wünschen des Anwenders entsprochen. Folge waren eine unendliche Prozedur des Nachbesserns und eine zunehmende Unzufriedenheit der Mitarbeiter.

"Weil keine Koordinierung der Aufträge erfolgte, kam es zum berühmten Anwendungsstau. Der Programmierer läßt etwas liegen, dann kommt wieder etwas Neues, dann kommt noch die Geschäftsführung mit irgendwelchen Wünschen daher..." Die Mitarbeiter seien zunehmend "sauer" geworden und hätten auf eine Lösung des Problems gedrängt.

Mit Hilfe der Geschäftsordnung hat Vinzenz Murr heute als eine der wichtigsten Maßnahmen das Auftragswesen festgeschrieben: Aufträge der Fachabteilungen werden schriftlich erfaßt und dann in einem Gespräch mit Vertretern der DV-Abteilung - Programmierer oder Systemanalytiker - vertieft. Anschließend wird ein Pflichtenheft angelegt.

Bei dem Münchner Unternehmen haben die Fachabteilungen gegenüber der DV an Bedeutung gewonnen. Sie erteilen nicht nur Aufträge an die Datenverarbeitung und nehmen deren Produkte ab. "Die Fachabteilung ist jetzt auch für die Inhalte der Anwendungen verantwortlich", erläutert Stassar. Läuft die Anwendung nicht wie vorgesehen, so kann sich die Fachabteilung nicht mehr bei der Datenverarbeitung beschweren: Der Fehler muß in der unklaren Formulierung des Problems seitens der jeweiligen Abteilung liegen. Das kommt laut Stassar aber nur sehr selten vor, weil die Projekte durch eine Reihe von Gesprächen in die richtigen Bahnen gelenkt werden.

Der Weg, die Fachabteilungen für die Ergebnisse der Datenverarbeitung verantwortlich zu machen, wird von Unternehmensberatern als zukunftsweisend angesehen. Mittelstandsberater Huber: "Wenn der Fachbereich selbst bestimmt, was getan wird, muß er auch seinen Kopf dafür hinhalten". Allerdings, so Huber, scheitere dieses Procedere nicht selten an der mangelhaften Kommunikation zwischen den Fachbereichen und der DV. "Einerseits können sich die Fachabteilungen nicht richtig artikulieren, andererseits ist die Sprache der DV-Leute nicht immer verständlich", bemängelt der Berater.

Um solche Schwierigkeiten zu vermeiden, gehen die Unternehmen verschiedene Wege. So berichten DV-Berater von Betrieben, die ihre Datenverarbeitungsabteilung ganz auflösen und die Mitarbeiter als Experten in den Fachbereichen einsetzen. Umgekehrt werden immer häufiger Mitarbeiter aus dem kaufmännischen Bereich, die über Unternehmenspraxis verfügen, zu DV-Leitern, während Informatiker und Leiter des Rechnungswesens ins zweite Glied zurücktreten.

Fleischlieferant Vinzenz Murr löst dieses Problem im Stile eines Großunternehmens. Mitarbeiter der Fachabteilungen werden abgestellt, um als Kontaktpersonen zur Datenverarbeitung zu fungieren. Ein ähnliches Verfahren wählt zum Beispiel das Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg, das so den Informationstransfer zwischen Fachabteilungen und DV gewährleisten will.

Dort gibt es in den Fachbereichen feste Ansprechpartner für DV-Projekte, die nicht nur ihre jeweilige Abteilung vertreten können, sondern die auch in DV-Angelegenheiten so bewandert sind, daß eine fachliche Auseinandersetzung mit den Spezialisten möglich ist. Kommunikationsbedingte Mißverständnisse, wie sie Mittelstandsberater Huber in kleineren Betrieben immer wieder erleben muß, bleiben aufgrund dieser Organisation begrenzt.

Auch der Kölner Gerling-Konzern, ein großes Versicherungsunternehmen, dessen Fachbereiche per Matrixorganisation in das Projektmanagement eingebunden sind, hat in den einzelnen Sparten "Verbindungsstellen" eingerichtet. Manfred Güss, Hauptabteilungsleiter Systeme und Methoden, versteht darunter Mitarbeiter, die neben exzellenten Fachkenntnissen auch über ein solides Grundwissen der Datenverarbeitung verfügen, das eine qualifizierte Verständigung möglich macht.

In mittelständischen Unternehmen dagegen sind die Angestellten so stark in ihren Fachbereich eingebunden, daß sich mit DV-Angelegenheiten niemand beschäftigen will. Mittelstandsberater Huber spricht von einer chronischen Personalknappheit in den Betrieben, die dazu führe, daß sich kaum jemand Gedanken darüber machen könne, wie die Abläufe in den Abteilungen am sinnvollsten zu gestalten seien.

"Egal, wie diese Unternehmen organisiert sind, die haben generell zu wenig Personal", beschreibt auch der Münsteraner Mittelstandsberater Hans-Dieter Siepmann die Situation seiner Kunden. In den Fachabteilungen bestehe absolut gar kein DV-Know-how. Mitarbeiter sind in ihren Fachbereich oder ihr Profitcenter eingebunden - ob es sich nun um Einkauf, Verkauf oder Vertrieb handelt. "Kein Mensch hat Ahnung von der EDV, keiner, wirklich keiner!"

An die Erstellung eines Pflichtenheftes seitens der Fachabteilung sei schon gar nicht zu denken. Nicht zuletzt, weil den Fachbereichen ein angemessenes DV-Wissen fehlt, hat die Datenverarbeitung überall dort, wo eigenständige DV-Abteilungen existieren, ihre exotische Stellung behalten.

Immer wieder, so berichtet Mittelstandsberater Siepmann, ist in den Betrieben die "verhängnisvolle Spirale" anzutreffen: "Aufstocken und erweitern..." Die Wirtschaftlichkeit

dieser Abteilungen lasse sich kaum berechnen, da zwar Zahlen, nicht aber die qualitativen Vorteile, die durch die Datenverarbeitung entständen, erfaßt werden könnten.

"Was glauben Sie, wie wir missionieren, doch wir ernten meistens nur ein müdes Lächeln" - Veränderungen stellen sich laut Siepmann erst dann ein, wenn den Anwendern die DV-Kosten davonlaufen oder wenn sie der Konkurrenz hinterherhinken. Erst, wenn der Leidensdruck groß genug ist, entstehen in den Betrieben neue Verhältnisse.

In Großunternehmen ist die Einführung einer Geschäftsordnung oder eines entsprechenden Regelwerkes häufig anzutreffen, bei mittelständischen Unternehmen dagegen ergibt sich ein anderes Bild - zum Teil sogar bei Betrieben, die mehr als 1000 Mitarbeiter beschäftigen. Mittelstandsberater Siepmann, ähnlich wie Huber ein Befürworter einer DV-Geschäftsordnung, weiß aus Erfahrung: "Eine festgeschriebene Geschäftsordnung - das machen die Leute gar nicht mit. Die Notwendigkeit wird nicht eingesehen."

Eine Organisationsform oder ein Regelwerk, worin das Zusammenspiel von DV und Fachabteilungen festgelegt ist - in Großunternehmen wie dem Gerling-Konzern sind hierfür die entsprechenden Organisationsabteilungen verantwortlich - ist laut Siepmann auch für Mittelständler in Zukunft unumgänglich.

Die Zeiten, in denen die Datenverarbeitung fernab der betrieblichen Wirklichkeit noch wenig an die Gesetze der Wirtschaftlichkeit gebunden war, gehen nach Einschätzung des Beraters unausweichlich ihrem Ende entgegen.

Der Münsteraner ist außerdem der Ansicht, daß in Zukunft die DV als strategisches Instrument eines Unternehmens an Bedeutung gewinnen wird. Mit fortschrittlicher DV-Technologie und vor allem mit einer vernünftigen Organisation ließen sich enorme Vorteile am Markt erzielen. Allerdings habe sich diese Erkenntnis in mittelständischen Unternehmen noch kaum herumgesprochen.

Ist die Einführung einer DV-Geschäftsordnung auch in erster Linie nichts anderes als der Versuch, die Datenverarbeitung wirtschaftlich arbeiten zu lassen, so darf doch ein zweiter Aspekt nicht vernachlässigt werden: Mit Hilfe eines Reglements läßt sich das Mißtrauen anderer Abteilungen gegenüber der DV abbauen. Das aber gelingt nur dann, wenn die Arbeit der DV-Abteilung anhand von Wirtschaftlichkeitsberechnungen ebenso meßbar ist wie die der anderen Abteilungen.

"Ein wesentlicher Teil unserer Geschäftsführung ist das Berichtswesen, wo in monatlichen Abständen offengelegt wird, was in der Datenverarbeitung getan wurde und was noch aussteht"; Stassar erläutert, wie sich bei Vinzenz Murr die DV-Abteilung gegenüber den anderen Fachbereichen rechtfertigen muß.

Diese Wirtschaftlichkeitsberechnungen erscheinen aus der Sicht des Unternehmensberaters jedoch als in der Realität kaum durchführbar. "Im Mittelstand Wirtschaftlichkeitsberechnungen durchzuführen, wird immer dort scheitern, wo man weggeht von Zahlen", argwöhnt Siepmann. "Wie will man die qualitativen Vorteile, die man durch EDV hat, in Wirtschaftlichkeitsberechnungen einfließen lassen?"

Auch scheint die Bemessung der DV-Leistungen an dem Kriterium Wirtschaftlichkeit generell problematisch. Wie läßt sich zum Beispiel gewährleisten, daß Kreativität und das Ausprobieren von neuen Techniken nicht hinter die bloße Routine, die "Planerfüllung", zurückfallen? Vinzenz-Murr-Mitarbeiter Stassar: "Die Gefahr besteht natürlich, daß man im Formalismus untergeht, aber es kommt auch darauf an, wie man in der DV-Abteilung arbeitet". Bei der Umsetzung behalten die Programmierer laut Stassar nach wie vor freie Hand.