"Im Herzen ist IBM eine Technik-Company"

06.03.2006
In seinem ersten Interview als Deutschland-Chef der IBM überhaupt relativiert Johann Weihen das seit mehr als zehn Jahren propagierte Bild vom Dienstleistungskonzern. IBMs Geschäft stehe auf den Säulen Hardware, Software und Services, erklärt er gegenüber den CW-Redakteuren Wolfgang Herrmann und Christoph Witte.

CW: Wie steht es um die IT-Branche in Deutschland?

Zur Person

Johann Weihen

• seit September 2004 Vorsitzender der Geschäftsführung der IBM Deutschland GmbH;

• seit 1997 als General Manager IBM Cema in Wien verantwortlich für das Geschäft in Zentral- und Osteuropa, dem Nahen Osten und Afrika;

• 1994 General Manager für Telekommunikation und Medien, Emea (Europa, Naher Osten und Afrika). Anschließend General Manager mit Verantwortung für Vertrieb und Marketing im öffentlichen Sektor (Government Industry) in Emea.

• 1974 Einstieg bei IBM, danach verschiedene nationale und internationale Positionen. Unter anderem Leiter des Geschäfts in Ostdeutschland, European Director of Enterprise Systems, Emea und European Director of Networking Systems, Emea.

• Studium in Stuttgart und Nürnberg, Abschluss als Diplomkaufmann.

WEIHEN: Der IT-Markt entwickelt sich in Deutschland insgesamt wieder besser. Im Service-Sektor gibt es hierzulande trotz positivem Markttrend dramatische Überkapazitäten. Das liegt zum Teil an den vielen Spinoffs, in die Unternehmen ihre IT-Abteilungen ausgelagert haben. Während des Internet-Booms hatten die Ausgründungen noch genügend Geschäft. Doch seit dem Jahr 2000 werden diese Kapazitäten nicht mehr gebraucht. Ich bekomme immer wieder Anfragen, ob wir nicht diese oder jene Company übernehmen wollen. Wir prüfen das genau, aber wenn kein nennenswerter Umsatz mit der Muttergesellschaft dahinter steckt, winken wir meistens ab.

CW: Leidet IBM Global Services nicht unter den gleichen Überkapazitäten?

WEIHEN: Nein. Wir haben im vergangenen Jahr restrukturiert und Personal abgebaut. Das waren aber nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Maßnahmen. Wenn Sie im Servicebereich wettbewerbsfähig bleiben wollen, müssen Sie Ihre Fähigkeiten ständig anpassen. Das erfordert in der Beratung eine Fluktuation von 15 Prozent im Jahr.

CW: Sind die Anpassungen für IBM Deutschland denn nun abgeschlossen?

WEIHEN: Sie werden nie abgeschlossen sein. Die Veränderungen werden nicht aufhören. Wir müssen uns ständig an neue Marktbedingungen anpassen.

CW: Gleichzeitig bauen Sie in Asien massiv Kapazitäten auf. Hat das nur mit Kosten zu tun?

WEIHEN: Am Global Sourcing kommt niemand mehr vorbei. Unternehmen suchen sich weltweit Arbeitskräfte und Kompetenzen zu den günstigsten Konditionen.

CW: Können Sie trotzdem die Sorge von Arbeitnehmervertretern verstehen, die Region Westeuropa verliere immer mehr an Bedeutung, weil große Teile der Wertschöpfung nach Asien wandern? Auch eine IBM Deutschland trägt ja längst nicht mehr so viel zum Konzernumsatz bei wie noch vor zehn oder 15 Jahren.

WEIHEN: Für mich hat IT zwei Seiten: Sie wird immer ein Faktor sein, der die Produktivität von Unternehmen erhöhen kann. Aber durch die technische Basis ist IT auch immer ein Innovationsfaktor. In den Kundengesprächen der vergangenen Jahre ging es leider ausschließlich um Kosten. Darunter haben auch die CIOs selbst gelitten: Viele von ihnen sind abgewertet worden.

CW: Hat sich an der Einstellung der Kunden etwas geändert?

WEIHEN: Ja. Sie schauen nicht mehr ausschließlich auf die Kosten. Die Projekte werden wieder länger und größer. Der Wunsch nach extrem schneller Rentabilität ist nicht mehr so ausgeprägt, die Kunden denken wieder strategischer. Nehmen Sie Daimler-Chrysler. Dort wird auch gespart, gleichzeitig bewertet man die Verantwortlichen aber auch danach, wie viel sie für das Thema Innovation aufwenden. Es geht darum, Geschäftsmodelle neu zu definieren. Und hierbei spielt IT eine Schlüsselrolle.

CW: Auch IBM setzt auf den Wandel: Unter dem Stichwort "Die andere IBM" bewerben Sie Ihr Unternehmen als Dienstleister mit Business- und Branchen-Know-how. Bei den Kunden ist diese Botschaft noch nicht angekommen. Die sehen IBM nach wie vor als Technologie-Company.

WEIHEN: Werbung kann das Image eines Unternehmens nur bedingt verändern. Der einzige wirksame Hebel sind erfolgreich abgeschlossene Projekte. Es gibt keine andere Art der Beweisführung. Die Kunden wollen es nicht mehr erzählt bekommen, sie wollen es sehen.

CW: Was die Kampagne aber deutlich macht, ist der Anspruch der IBM, verstärkt in das höherwertige Segment Business-Consulting hineinzugehen.

WEIHEN: Wir sind da drin!

CW: Aber nicht in voller Breite.

WEIHEN: Wir decken nicht alle Bereiche ab, aber in etlichen Branchen sind wir sehr erfolgreich. Es ist jedoch wirtschaftlich gar nicht sinnvoll, alle Industrien gleich intensiv bedienen zu wollen. Dazu müssten wir Skills auf Vorrat aufbauen. Das kann sich niemand mehr leisten.

CW: In der Vergangenheit hat IBM eine solche Bevorratung durchaus betrieben.

WEIHEN: Deshalb sehe ich noch eine zweite Herausforderung: Wir können das Thema Service auf der Sourcing-Seite nicht mehr regional sehen, wir müssen unsere globale Karte spielen. Nehmen Sie das Beispiel Public Sector. Die britischen Behörden haben in den vergangenen Jahren massiv investiert. Da sind auch bei der IBM Kompetenzen entstanden, die wir in Deutschland nicht haben. Wenn der Public Sector sich hier ähnlich entwickelt, werden wir nicht die gleichen Kapazitäten wie in Großbritannien aufbauen, sondern versuchen, von den dort vorhandenen Fähigkeiten zu profitieren.

CW: Es wird immer wieder kolportiert, das deutsche Servicegeschäft bleibe hinter den Erwartungen der Konzernzentrale zurück. Ist das so?

WEIHEN: Nein, das muss man differenziert sehen. Nehmen Sie Outsourcing als einen wesentlichen Bestandteil des Servicegeschäfts. Wenn Sie einen Vertrag wie den mit der Deutschen Bank unterzeichnen und dann sehen, dass drei Jahre lang keine großen Aufträge mehr im Markt vergeben werden, dann ist es sehr schwierig zu wachsen. Man rennt gegen die hohe Vorgabe dieses begonnenen Auftrags an.

CW: Hat die Zentrale in den USA dafür Verständnis?

WEIHEN: In der Vergangenheit ist nicht immer ausreichend mit der Zentrale gesprochen worden. Das haben wir geändert, und inzwischen sieht man die Entwicklung auch in Armonk. Allerdings müssen wir bei IBM Deutschland das Thema Innovation und Wertschöpfung im Service noch prägnanter formulieren.

CW: Wenn man Ihnen zuhört, kommt man auf die Idee, dass das für die IBM heute extrem wichtige Outsourcing-Geschäft in Zukunft an Bedeutung verlieren wird.

WEIHEN: Outsourcing wird ein wesentlicher Baustein bleiben. Aber wir haben uns als Unternehmen generell verändert. In der Vergangenheit haben wir IBM immer als Service-orientierte Company beschrieben. Das führte zu einer Überbetonung eines Geschäftszweiges. Heute wollen wir eine Balance zwischen Services, Hardware und Software. Schließlich ist die IBM im Herzen eine Technologie-Company, und sie wird es bleiben. Wenn wir ein einziges Geschäftsfeld so stark herausstellen, laufen wir Gefahr, dass das Unternehmen nicht nur von außen als Service-Company gesehen wird, sondern auch im Innern das Selbstverständnis der anderen Funktionen verloren geht.

CW: Das heißt, die Techniker fühlen sich als Underdogs?

WEIHEN: Ja. Oder es besteht die Gefahr, dass das Softwaregeschäft in den Hintergrund gerät, dass sich einzelne Bereiche nur noch um ihre Belange kümmern. Deshalb habe ich eine klare Message. Das IBM-Geschäft steht auf drei Säulen: Hardware, Software und Services. Das sind wichtige Gebiete, die nebeneinander und miteinander existieren. Das Miteinander ist wichtiger als je zuvor: Wenn wir in Zukunft das Servicegeschäft im Sinne der Wertschöpfung erfolgreich betreiben wollen, müssen wir bei unseren Kunden Hardware- und Softwarekomponenten mitberücksichtigen. Die Technik ist dabei ein Differenzierungsmerkmal.

CW: Das klingt so, als wollten Sie das Pendel zurückschwingen lassen. In den letzten zehn Jahren hat IBM fast ausschließlich den Aspekt der Service-Company betont.

WEIHEN: Die klare Botschaft an die Belegschaft und an den Markt lautet: Das IBM-Geschäft besteht aus Hardware, Software und Services; in der Mitte steckt die Technologie. Das müssen auch unsere Mitarbeiter verstehen, denn ohne das Zusammenspiel der Funktionen geht es nicht. Der Kunde will nicht nur mit Mister Services sprechen oder mit Mister Hardware oder Software. Die wirklich interessanten und zukunftsträchtigen Projekte sind integrierende Vorhaben, in denen alle drei Säulen zum Tragen kommen. Das unterscheidet uns von den Konkurrenten. Nur haben wir diesen Vorteil bislang nicht ausreichend genutzt.

CW: Wie wollen Sie das ändern? IBM-Kunden berichten nach wie vor von separaten Hardware-, Software- und Serviceverkaufsteams, die sie umwerben.

WEIHEN: Seit dem ersten Tag arbeite ich daran, einen höheren Integrationsgrad der Geschäftsbereiche zu erreichen. Das hat auch mit Menschen zu tun. Die müssen einander verstehen. Es ist eine sehr komplexe Aufgabe. Um die zu bewältigen, brauchen wir ein Management-Team, das die Geschäftsmodelle aller Sparten versteht und respektiert, nur dann ist eine effiziente Zusammenarbeit möglich. Es reicht nicht zu sagen: Jetzt tretet mal zusammen beim Kunden auf.

CW: Aber dazu gehören doch auch handwerkliche Dinge. Wenn etwa ein Servicemitarbeiter von IBM Global Services (IGS) keine Provision für den Verkauf einer "Websphere"-Lösung erhält, wird er das eigene Produkt kaum in den Vordergrund stellen.

WEIHEN: Es ist herrlich, wie die Dinge manchmal zeitlich zusammenfallen. In dem Moment, in dem ich Integration predige, kommt ein Konzept hoch, das einen der größten Innovationsschübe beim Kunden auslösen kann, nämlich Service-orientierte Architekturen. Ein SOA-Konzept lässt sich beim Kunden nicht in einer Stand-alone-Betrachtung von Hardware, Software oder Services umsetzen.

CW: Das kommt Ihnen entgegen.

WEIHEN: Richtig. Unsere Servicesparte kann SOA nur mit Hardware- und Softwarekomponenten implementieren.

CW: Aber kommt der Anstoß für solche Projekte nicht doch wieder über die IGS-Berater?

WEIHEN: Nicht unbedingt. Es gibt auch SOA-Lösungen, die im Produktbereich beginnen. Es kann also auch ein reines Softwarethema sein. Einige Kunden arbeiten beispielsweise mit einer hauseigenen Consulting-Gruppe. Das Konzept kann in solchen Fällen schon stehen, die Methodik und die Komponenten liefert die IBM Software Group. Diese Integration ist das eigentliche Schlüsselthema in der Unternehmensführung und ein klarer Wettbewerbsvorteil der IBM.

CW: Wenn man Experten glauben darf, sollten Business-Verantwortliche auf keinen Fall mit einem Kürzel wie SOA konfrontiert werden. Die Empfehlung lautet immer, mit verbesserten Geschäftsprozessen zu argumentieren.

WEIHEN: Das ist die Schwäche der IBM. Wir brauchen immer drei Buchstaben, um irgendetwas zu bezeichnen. Ich bin manchmal etwas provokativ und bitte Mitarbeiter, mir in zwei bis drei Sätzen zu erklären, was On Demand bedeutet. Da zucken die meisten zusammen. Ähnlich wie SOA ist auch On Demand ein hoch komplexes Thema. Um aber Kunden den Grundgedanken klar zu machen, müssen wir einfache Begriffe wählen. Am Ende kann man sagen: Wir nennen das ganze SOA.

CW: Stichwort On Demand: Um dieses Thema ist es ruhiger geworden.

WEIHEN: Überhaupt nicht. SOA ist die Implementierung von On Demand.

CW: Das müssen Sie uns erklären.

WEIHEN: Hinter On Demand steht nichts anderes als der uralte Wunsch eines Unternehmers, möglichst keine fixen, sondern nur noch variable Kosten zu haben. Bei SOA geht es darum, starre Prozesse und Anwendungen aufzubrechen und zu modularisieren. Die so entstandenen Komponenten lassen sich mehrfach verwenden, Unternehmen werden flexibler und können Fixkosten in variable Kosten umwandeln. Insofern ist SOA die konsequente Fortsetzung des On-Demand-Gedankens.

CW: Läuft die Branche - Fachmedien eingeschlossen - damit nicht wieder Gefahr, ein Konzept völlig überzubewerten?

WEIHEN: SOA ist kein Allheilmittel, das gibt es in der IT nicht. Eine gewisse Individualität werden sich die Unternehmen schon aufgrund der vielen Legacy-Systeme immer bewahren. Aber wir haben endlich wieder eine innovative Grundlage, auf der viele Kunden aufbauen können.

CW: Ein Argument der SOA-Pro-tagonisten lautet Herstellerunabhängigkeit. Doch SOA erfordert einen mächtigen Middlewarestack, den wiederum Branchenriesen wie IBM, Oracle, Microsoft oder SAP liefern wollen. Bedeutet das nicht, dass sich die Abhängigkeit vom Softwarelieferanten nur auf die Integrationsebene verlagert?

WEIHEN: Ja und nein. Einigen Unternehmen kommt die Entwicklung zu SOA womöglich gar nicht gelegen, weil sie noch stark mit proprietären Systemen am Markt sind. Am Ende beurteilt aber der Kunde, was gut für ihn ist. Für den einen mag Websphere die richtige Wahl sein, weil er eine heterogene IT-Landschaft nutzt. Ein anderer benötigt die Funktionsbreite von Websphere vielleicht nicht, weil er lediglich SAP-Systeme verwendet. In diesem Fall reicht ihm vielleicht "Netweaver". Beide Strategien haben ihre Daseinsberechtigung. Man muss daraus keinen Glaubenskrieg machen.

CW: Sie stellen Netweaver als Plattform dar, die im Gegensatz zu Websphere nur mit dem SAP-Stack funktioniert?

WEIHEN: Ich sage nur, Netweaver ist als Bestandteil der SAP-Anwendungslandschaft entwickelt worden. Das war das Designkonzept. Insofern wurden die Entwicklungsaufwendungen auch in die Lizenzen für die Anwendungen eingepreist. Als Stand-alone-Produkt hat Netweaver eine andere Funktionalität als Websphere. Wie hoch sie zu bewerten ist, entscheidet der Kunde.