Traditionelle Wirtschaftslehre ist mit ihrem Latein am Ende

IG-Metall-Technologieexperte Klotz: In der New Economy gelten andere Regeln

18.02.2000
Die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft hängt immer mehr davon ab, wieviel Menschen Zugang zu Informationen haben und diese zu nutzen verstehen. Deshalb liegt ein Schlüssel zur Lösung der Arbeitsmarktmisere in einem intelligenteren Umgang mit Technologie, behauptet Ulrich Klotz, Technologieexperte beim IG-Metall-Vorstand, im Gespräch mit Ina Hönicke*.

CW: Wenn sich die neuen Arbeitsformen ausbreiten, werden die Sozialkassen bald leer sein. Selbständige zahlen nun einmal nicht ein. Sehen Sie da nicht Gefahren für die Gesellschaft?

KLOTZ: Früher oder später müssen mit dem Wandel in der Arbeitswelt auch unsere Abgaben- und Sicherungssysteme auf eine neue Grundlage gestellt werden. Künftig werden alle Erwerbstätigen versicherungspflichtig sein - unabhängig vom Vertragsstatus und der Art der Beschäftigung.

CW: Wie lässt sich unser Problem Nummer eins, die Massenarbeitslosigkeit, entschärfen?

KLOTZ: Hier lohnt ein Blick in die USA. Den darf man sich aber nicht von so schlichten Erklärungen trüben lassen, nach denen etwa die niedrige Arbeitslosenquote von vier Prozent vor allem billigen McJobs zu verdanken wäre. Tatsache ist: In den letzten 25 Jahren entstanden in den USA brutto rund 45 Millionen neuer Jobs, in der sogar noch größeren Kontinental-EU dagegen nur fünf Millionen. Zwei Drittel der in den 90er Jahren hinzugekommenen US-Arbeitsplätze sind im oberen Einkommensbereich angesiedelt - das sind vorwiegend qualifizierte Jobs im IT-Umfeld. Hier wurde das Einkommen geschaffen, durch das dann zusätzliche Nachfrage nach gering bezahlten Dienstleistungen entstand. Im Bereich der New Economy stieg die Produktivität seit 1990 um sagenhafte 35 Prozent pro Jahr, gleichzeitig ist dort der Arbeitsmarkt geradezu explodiert.

CW: Ist das nicht ein Widerspruch?

KLOTZ: Die Informationswirtschaft ist eine Wirtschaft ohne physische Grenzen. Je leistungsfähiger die IT ist und je mehr Menschen Informationen erzeugen, desto mehr Rohstoff für andere Informationsarbeiter entsteht dabei. Das heißt, Arbeit erzeugt vor allem immer neue Arbeit. Deshalb arbeiten viele von uns nicht trotz, sondern gerade wegen der Produktivitätssteigerung immer länger. Ein Problem ist nur, dass die traditionelle Wirtschaftslehre viele Phänomene der New Economy gar nicht erfassen kann. Deshalb geistern so viele hilflose Erklärungsversuche für den US-Boom durch die Gazetten und Politikerköpfe.

CW: New Economy - ist das nicht auch bloß wieder ein Modebegriff?

KLOTZ: Mag sein, dass der Begriff bald wieder verschwindet, weil alles Neue irgendwann nicht mehr neu ist. Das, was damit gemeint ist, wird aber nicht verschwinden, sondern unser aller Leben fundamental verändern.

Man spricht von neuer Ökonomie, weil für immaterielle, zum Beispiel digitalisierte Güter und Netzwerke neue Regeln gelten. Beispiel: Man kann Bits, Software, Ideen und sonstige immaterielle Güter verkaufen und gleichzeitig behalten. Original und Kopie sind nicht unterscheidbar. Die Produktion von zwei Autos erfordert doppelt so viel Arbeit, Rohstoffe und Energie wie eines; bei Software oder anderen Informationen hingegen kostet die zweite und jede weitere Kopie praktisch nichts. Nicht die Information wird zum knappen Gut, sondern das, was Informationen verbrauchen: die Aufmerksamkeit ihrer Empfänger. Weil Informationen, die keine Beachtung finden, aber keinen ökonomischen Wert haben, wird der Kampf um Aufmerksamkeit die Ökonomie der Zukunft bestimmen.

CW: Eine neue Ökonomie der Aufmerksamkeit?

KLOTZ: In der Tat zieht mit der Ausbreitung der IT eine Wirtschaft herauf, in der traditionelle Ökonomen mit ihrem Latein am Ende sind. Wirtschaftslehre ist ja ohnehin eine fragwürdige Angelegenheit, weil darin letztlich nur Werte mit Werten verglichen werden. Wenn sich die technologischen Bedingungen ändern, dann ändern sich auch die Werte und Methoden der Wertfindung. Schauen Sie sich an, was an den Börsen passiert: Warum ist Yahoo heute dort mehr wert als Daimler-Chrysler? Oder: Warum wohl erhält heute eine Praktikantin aus dem Weißen Haus für ein einziges Interview mehr Geld, als ein Facharbeiter in seinem ganzen Leben verdient?

CW: Räumen Sie der Technologie nicht eine zu große Rolle ein? Schließlich sind bislang nur die USA wirklich von IT durchdrungen.

KLOTZ: Genau das ist es doch. Bei uns wird die Bedeutung der Technologie sträflich unterschätzt. Zum Beispiel, weil wir kaum Politiker haben, die etwas von Technologie und deren Folgen verstehen. Leute, die hierzulande nur über zu hohe Arbeitskosten jammern, haben meist überhaupt nicht begriffen, in welchem Umbruch wir uns befinden. Dabei zeigt sich höchstens, wie sehr traditionelles Fachwissen den Blick auf Neues verstellen kann.

CW: Wo liegt dann der Schlüssel zur Lösung?

KLOTZ: Zum Beispiel in einem intelligenteren Umgang mit Technologie. Das betrifft vor allem die IT, weil diese hilft, Wissen besser zu nutzen. So ähnlich, wie es zuvor etwa der Buchdruck oder das Telefon taten. Das bestätigt übrigens auch der jüngste UN-Bericht zur Lage der Menschheit. Da ist schon auf dem Titelblatt die ungleiche Verteilung von Internet-Nutzern in der Welt als Schlüsselproblem der Zukunft hervorgehoben. Auf Nordamerika mit kaum fünf Prozent der Weltbevölkerung entfallen mehr als 50 Prozent aller Internet-Nutzer. Die USA verfügen über mehr Computer als die gesamte restliche Welt. Die UN-Tabellen belegen, dass weltweit Wohlstand und Entwicklungschancen in wachsendem Maß vom Grad der Durchdringung mit IT und deren effektiver Nutzung durch hoch qualifizierte Menschen abhängen.

CW: Wie aber soll das gehen, wenn allein schon in Deutschland derzeit 80000 Computerprofis fehlen ?

KLOTZ: Das ist allerdings ein Problem, dessen Bedeutung man kaum überschätzen kann. Der Mangel an IT-Fachkräften wird immer mehr zu einer Wachstumsbremse und zieht verheerende Folgen für die gesamte Wirtschaft nach sich. Es klingt paradox, aber es ist so: Unbesetzte Stellen sind auch eine Quelle von Arbeitslosigkeit. Letztlich ist die Misere in der "Alten Welt" zu einem erheblichen Teil darauf zurückzuführen, dass bei uns die Bedeutung von Technologie seit gut 25 Jahren verkannt wird. Beispielsweise stand Deutschland Ende der 60er Jahre in der Computertechnik noch ganz gut da. Ich möchte wetten: Hätten wir die vielen Milliarden, die seitdem in Landwirtschaft, Bergbau und Stahlindustrie versenkt wurden, stattdessen in Ausbildung, Forschung und Technologie investiert, würden wir in puncto Arbeitslosigkeit und Wohlstand heute besser aussehen als die USA.

CW: Welche Folgen wird die New Economy für die Gewerkschaften haben?

KLOTZ: Die Veränderungen in der Arbeitswelt stellen auch uns vor die Alternative: Wandel oder Untergang. Wir müssen erkennen, dass Innovation der einzige Weg zu neuer und dauerhafter Beschäftigung ist und folglich unsere Prioritäten neu setzen. Auch muss man sehen, dass die Handlungsspielräume, die wir heute etwa in der Tarifpolitik haben, letztlich Auswirkungen der Forschungs- und Technologiepolitik von gestern und vorgestern sind. Statt immer nur über abgefahrene Züge zu jammern, müssen wir uns da einmischen, wo die Streckenpläne für die künftige Gesellschaft entworfen werden.

CW: Wo wollen Sie sich einmischen?

KLOTZ: Vor allem in der Bildungs- und Forschungspolitik, etwa bei der Konzeption von Programmen, bei der Vergabe und Begleitung von Projekten und natürlich auch mit eigenen Vorhaben, so wie wir das früher schon gemacht haben. Das sind die Schlüsselbereiche, wer sich hier auskennt, kann auch besser abschätzen, was so alles auf uns zukommt. Um ein Beispiel zu nennen: Ich begleite als Gutachter die großen Leitprojekte des Forschungsministeriums zur Mensch-Technik-Interaktion. Darin wird so manches entwickelt, was auf lange Sicht unter anderem die industrielle Facharbeit völlig neu definieren wird. Solche Projekte haben nicht selten langfristig gravierendere Folgen für unsere Mitglieder als etwa die traditionelle Tarifpolitik, deshalb müssen wir uns viel intensiver diesen Zukunftsfragen widmen.

CW: Ist es nicht vielmehr so, dass die Gewerkschaften ihre Technologieabteilungen verkleinert oder ganz abgeschafft haben?

KLOTZ: Ja, leider trifft das auf einige Gewerkschaften zu. Hier liegt auch eine Ursache für unsere schwindende Attraktivität. Mit der Reduzierung der technologiepolitischen Ressorts beraubt man sich quasi der eigenen Sensoren für Trends - deshalb werden jetzt mitunter politische Ziele verfolgt, die schon längst nicht mehr zeitgemäß sind. Um es mit einem Bild zu sagen: Wer am Abgrund steht und seine Brille wegwirft, muss sich über plötzlichen Niedergang nicht wundern. Sparen an der falschen Stelle kann tödlich sein.

CW: Aber sparen müssen Sie doch?

KLOTZ: Stimmt. Und hier wächst ein neues Risiko, denn Sparen heißt ja nicht automatisch Innovation. Bei uns fahren einige den Kurs: Wir machen genauso weiter wie bisher, aber nur von allem ein bisschen weniger. Das ist aber kein Weg in die Zukunft. Ähnlich verheerend ist es, wenn jetzt unter dem Modewort "Konzentration aufs Kerngeschäft" ausgerechnet die, die heute das Sagen haben, definieren, was denn unser Kerngeschäft in Zukunft sein soll. Eines ist klar: Der Wandel in der Arbeitswelt entzieht unserem heutigen Kerngeschäft allmählich die Grundlagen. Stattdessen erwarten künftige Mitglieder neue Dienstleistungen von uns.

CW: Für welche neuen Dienstleistungen sehen Sie denn einen Bedarf?

KLOTZ: Wenn der Arbeitsplatz unsicherer wird und Konzepte lebenslanger Anstellung für viele gar nicht mehr attraktiv sind, müssen die Leute ja immer noch ihre Brötchen verdienen. Statt um Jobs muss man sich dann mehr um "Employability" kümmern, also um Beschäftigungsfähigkeit. Einerseits wächst der Weiterbildungsbedarf, da aufgrund des technischen Wandels Wissen immer rascher veraltet. Andererseits investieren Unternehmen immer weniger in die Ausbildung ihrer Mitarbeiter, sofern diese über unmittelbar betriebsspezifische Aufgaben hinausgeht. Mit dem Wandel in der Arbeitswelt wächst für die Unternehmen auch das Risiko, dass das "Humankapital" die Firma verlässt, bevor sich die Investition auszahlt. Diese wachsende Lücke zwischen steigendem Bedarf und sinkendem Angebot an Weiterbildung könnten wir schließen helfen. Australische Gewerkschaften zeigen uns, dass man mit derartigen Angeboten auch Professionals aus der IT sehr erfolgreich organisieren kann.

CW: Alles schön und gut, aber Australien ist weit weg - wie wollen Sie dafür sorgen, dass sich Gewerkschaften auch bei uns mehr um zeitgemäße Anforderungen statt nur um Lohnhöhen kümmern?

KLOTZ: Noch ist für viele die Frage nach der Lohnhöhe durchaus zeitgemäß, weil existenziell. Aber klar, einen Softwareentwickler etwa drücken oft ganz andere Probleme. Der Wandel verlangt von uns also einen schwierigen Spagat zwischen alter und neuer Arbeitswelt. Vielen Firmen geht es aber nicht anders, und wir können durchaus von denen lernen, die den Wandel erfolgreich bewältigt haben. Das Kernproblem ist doch ähnlich: Aufgrund unserer Herkunft entspricht unsere interne Organisation der einer klassisch-tayloristischen Fabrik der Massenproduktion: Unten wird ausgeführt, was oben geplant und angeordnet wurde. Solange Märkte und Mitgliederstrukturen stabil und überschaubar waren, konnte man nach diesem Prinzip erfolgreich arbeiten. Jetzt wandelt sich das Umfeld: Wir werden von unseren Mitgliedern immer mehr als Dienstleister betrachtet. Ein Dienstleister muss aber vollkommen anders aufgebaut sein, um Erfolg zu haben, denn hier verfügen nicht die Spitzen, sondern die, die vor Ort den direkten Kundenkontakt haben, über die wertvollsten Informationen. Wenn sie dann aber noch immer die klassisch-industrielle Machtpyramide haben - oben Würdenträger, unten Innovationsträger und dazwischen lauter Bedenkenträger -, kommen Informationen von unten gar nicht schnell genug dahin, wo sie sollten. Wir müssen also unsere Struktur so umbauen, dass den Bedenkenträgern in den Zwischenebenen, die wir genau wie jede andere Organisation im Überfluss haben, die Einflußbereiche entzogen werden.

CW: Von Organisationsentwicklung wird ja bei einigen Gewerkschaften schon länger geredet, aber praktisch zu spüren ist doch kaum etwas.

KLOTZ: Zugegeben, unsere Modernisierungsprojekte sind bislang gescheitert, vor allem, weil man die, die bislang schon Schlüsselrollen innehatten, auch mit der Organisation der eigenen Veränderungsprozesse betraute. So etwas kann natürlich nicht funktionieren, weil dann versucht wird, die Organisation zu modernisieren, ohne die Machtverhältnisse anzutasten. Dadurch wird nur der bestehende Zustand zementiert. Es nützt aber nichts: Alle Institutionen werden auf den Strukturwandel in der Gesellschaft mit einem Wandel ihrer eigenen Strukturen antworten müssen - oder sie verlieren ihre Bedeutung. Ein radikaler Umbau ist notwendige Voraussetzung, um auf neue Fragen der Arbeitswelt rasch genug neue und vor allem konstruktive Antworten entwickeln zu können. Organisationen, die sich darauf beschränken, mit immer neuen Kassandrarufen tatsächliche oder vermeintliche Fehlentwicklungen zu beschwören, laufen doch Gefahr, am Ende nur noch für diejenigen interessant zu sein, die von einer Weiterentwicklung der betrieblichen Prozesse keinerlei Vorteile zu erwarten haben. Wandel heißt für mich vor allem Öffnung für Neues. Leider reagieren bei uns viele anders, eher nach dem chinesischen Sprichwort: "Wo der Wind der Veränderung weht, bauen viele Mauern und nur wenige Windmühlen."

CW: Deshalb gelten Gewerkschaften ja als träge und rückständig. Wie lässt sich dieses Image ändern?

KLOTZ: Wir brauchen unter anderem dringend so etwas, was man in den Firmen "Trend-Scouts" und "Think-Tanks" nennt. Beispiel: Die IG Metall zehrt noch immer von ihrem Image, als sie sich 1972 mit Kongressen zur "Qualität des Lebens" internationale Anerkennung als Fortschrittsmotor erwarb. Damals hatten wir noch Trendforscher, die neue Problemlagen frühzeitig in neue Konzepte umsetzten. Davon hängt unsere Zukunft ab und nicht von teuren Imagekampagnen. Junge qualifizierte Menschen erwarten Konzepte, die in die Zukunft tragen, statt Versuche, die Vergangenheit festzuhalten. Pure Mitgliederwerbung mit Präsenten oder Imagekampagnen bringen es nicht, morgen noch weniger als gestern. Letztlich kann man Menschen nur überzeugen, wenn man deren Arbeitswelt und -kultur aus eigener Erfahrung kennt.

* Ina Hönicke ist freie Journalistin in München.