Man wird unwillkürlich an des Kaisers neue Kleider erinnert:

IBMs undurchsichtige Plane beim SAA-Konzept

19.08.1988

IBMs System-Anwendungs-Architektur (SAA) ist nun schon über ein Jahr alt. Im März 1987 gab IBM die Einführung von SAA bekannt, zunächst beschrieben als "eine Sammlung von Protokollen, Interfaces und Standards ..., die die Vereinheitlichung von IBM-Software-Produkten fördern wird". Inzwischen haben sich die meisten von uns an Dinge wie Common Programming Interface, Common User Interface und ähnliches gewöhnt. Tatsache ist jedoch, daß niemand SAA wirklich versteht, obwohl jeder so tut als ob.

Ein Teil des Problems ist, daß die SAA-Spezifikationen in ihrer ursprünglichen Form unvollständig sind. Auch haben IBMs Werbetaktiken zur Verwirrung beigetragen, die SAA aussehen lassen, als wäre es eine Patentlösung mit der magischen Fähigkeit, Inkompatibilitäten auszumerzen, alle ungeklärten Software-Probleme sofort zu lösen und auf mysteriöse Weise für MVS/XA geschriebene Software-Produkte auf dem System /36 laufen zu lassen - und umgekehrt.

SAA war einer der umwerfendsten erfolgreichen Fälle von der Art "Des Kaisers neue Kleider", die die Computerindustrie je gesehen hat.

Mit SAA hat IBM die Mitbewerber ausgebremst, die Anwender beeindruckt und andere Software-Anbieter auf den Plan gerufen. Ausgelöst wurde all das durch ein 40seitiges Heftchen, in dem ein Haufen Befehle aufgelistet sind, das aber keinerlei Definition oder Beschreibung von SAA enthält, weder Hinweise auf die Ausführung dieser Befehle noch irgendwelche Anweisungen oder Informationen. Daß so etwas von der Industrie ernstgenommen wurde, ist, wenn man darüber nachdenkt, lächerlich.

Im stillen Kämmerlein SAA-Konzept geändert

Interessanterweise nimmt IBM selbst SAA anscheinend nicht sonderlich ernst. Im Laufe des Jahres 1987 präsentierte die Gesellschaft Earl Wheeler, den geschäftsführenden Vizepräsidenten für Programmentwicklung, als IBMs SAA-Verantwortlichen. Wheeler, erklärte man der Industrie, sollte eine Entwicklungs-Organisation mit weltweit 24 Softwarelaboratorien, Tausenden von Programmierern, Milliarden Dollars und vier hochkarätige Vizepräsidenten aufbauen.

Für jeden, der IBMs Unternehmensorganisation kennt, war dieses Arrangement leicht zu durchschauen. Die Posten geschäftsführender Vizepräsidenten bei IBM werden von einigen Leuten als ziemlich unbedeutende Jobs angesehen, deren Inhaber hauptsächlich mit Verwaltungsaufgaben betraut werden, die die wirklichen Grundlagen der IBM-Macht stützen - die Systemeinheiten. Wheeler hatte lediglich formale Befugnisse, und seine vier hochkarätigen Vizepräsidenten waren nicht einmal ganztags eingestellt. Sie hatten den Vorsitz über schwammig definierte Komitees, während sie nebenbei weiterhin andere Aufgaben wahrnahmen.

Dieser Aufbau der IBM-Organisation wurde im April 1988 geändert. Wheeler wurde zum Kopf der neuen "IBM Programming Systems Business Unit", zu der auch die IBM-Labors in Santa Teresa und Cary gehörten. Die Abteilung ist zuständig für IBMs DB2, MS und andere Datenbank-Management-Systeme, für einige MVS-Subsysteme und für Anwendungs-Entwicklungs-Tools. Die Abteilung beschäftigt zirka 3000 Personen und hat - wie könnte es anders sein - keine Kontrolle über die Tätigkeiten anderer IBM-Abteilungen.

Wheeler nahm praktisch den gesamten SAA-Führungsstab mit - der paßte übrigens ohne Schwierigkeiten auf die Rückbank eines Kleinbusses. Die vier hochkarätigen Vizepräsidenten verschwanden von der Bildfläche. Wheelers Platz als Geschäftsführer übernahm Peter Schneider, der ehemalige Leiter der Enterprise Systems Division.

Doch nicht genug: Die IBM veränderte im stillen Kämmerlein das SAA-Konzept. In einer wenig beachteten Meldung vom Oktober 1987 begann IBM, von einem neuen Kommunikations-Programmier-Interface zu sprechen. Dieses Interface war eine Implementierung der LU6.2-Routine, mit deren Hilfe Anwendungen geschrieben werden können, die IBMs PS/2-Systeme mit MVS- und VM-Hosts verbinden. LU6.2, so deutete IBM an, arbeite außerhalb des Common Communications Support und innerhalb des Common Programming Interface.

Dieser Schritt hilft zu verstehen, um was es bei SAA geht. SAA hat demnach weniger mit der Kommunikation von /36- und /38-Systemen mit /370-Rechnern zu tun oder mit der Kommunikation von VSE und MVS, als vielmehr mit der Integration der Personal Computer in IBMs wundervolle Welt der Mainframes.

Es war beunruhigend, feststellen zu müssen, daß Standards praktisch über Nacht von einer SAA-Kategorie zur anderen hüpfen. Noch stärker verunsichere allerdings die Tatsache, daß IBMs überarbeitete SAA-Definition nur die Extended Edition des OS/2 einschließt.

Die Standardversion des OS/2 wurde überhaupt nicht erwähnt. In der Tat haben die IBM-Präsentationen der letzten Monate Grund zur Annahme gegeben, daß die erweiterte OS/2-Version und nicht OS/2 auf den richtigen Weg führt.

SAA verändert sich aber auch in anderer Beziehung. IBM sägt nun, daß RPG in SAA enthalten sein wird, ebenso PL/1 und AIX, IBMs Unix-Angebot. SAA ermöglicht entweder die Übertragung von Anwendungen von einem IBM-System zum anderen oder "vereinfacht', so eine IBM-Bemerkung vom letzten Oktober, die Übertragung von Anwendungen.

Hinter Schall und Rauch geschehen ernste Dinge

Das ist verwirrend: Kann man von "unter SAA unterstützt" oder von "SAA-kompatibel" reden? Wer weiß Bescheid?

Nach mehr als einem Jahr SAA-Durcheinander präsentierte IBM in diesem Jahr die Enterprise Systems Architekture (ESA), ohne dabei SAA besonders zu erwähnen, außer mit dem knappen Kommentar, MVS/ESA werde die Grundlage für künftige SAA-Verbesserungen bei MVS-Systemen darstellen.

Selbst die Version 2 von DB2, die im April mit viel Wirbel präsentiert wurde, verdiente nicht mehr als die kurze und knappe Bemerkung, daß sie weiterhin unterstützt werde, wie in der "SAA Common Programming Interface Database Reference (SC26-4248) dokumentiert". Nicht gerade eine umwerfende Erklärung.

Hinter all dem Schall und Rauch geschehen bei IBM ernste Dinge. Der DV-Gigant nimmt Veränderungen an einer Sache vor, die vielleicht seine bedeutendste Tat auf dem Gebiet der Rechner-Architektur seit dem System /360 in den 60er Jahren ist.

Bei den Mainframes betrifft dies vor allem ESA. IBM hat bis heute nur die Hälfte davon gezeigt: MSV/ESA ist eine interessante Verbindung des Herzstückes der MVS-Umgebung mit DB2, TSO/E, IMS-DC, CICS/MVS etc. Das rückt MVS/XA in den Hintergrund.

Die andere Hälfte von ESA - nennen wir sie in Ermangelung einer besseren Bezeichnung "VM/ESA" - wird Off-load-370-Anwendungen verarbeiten, Netzwerke- und Systemmanagement unterstützen und sich um die große Anzahl von 3090-Prozessorkomplexen kümmern. Zudem wird sie die Integration von PCs oder intelligente Workstations, "wie man sie bei IBM inzwischen lieber nennt", ermöglichen.

Einer der faszinierenden Aspekte dieses Vorganges ist die Tatsache, daß IBM eine Entwicklungsstrategie erstellt, die vom kleinsten PS/2 bis zur größten 3090 alles betrifft. Wenigstens sieht es im Moment so aus, als wäre dies das Ergebnis, das zwischen 1991 und 1994 erreicht sein dürfte. Dabei geht es allerdings nicht um mehr SAA, jedenfalls nicht um das SAA, das IBM bis dato beschrieben hat.

Da Wheeler jetzt einen anderen Posten hat und sich IBMs SAA-Organisation aufgelöst hat, fällt die Aufgabe der Koordination nun Peter Schneider zu, IBMs neuem geschäftsführenden Vizepräsidenten für die Programmerstellung. Vielleicht hat irgendjemand bei IBM einen besonderen Sinn für Humor. Wer könnte besser dem Kaiser neue Kleider nähen als ein Schneider?