IBMs neue alte Netz-Strategie

13.09.1985

Bei "Open Systems Interconnection" hört die Feindschaft auf. Sollte sie zwischen IBM und der Fachpresse jemals bestanden haben, dann ist jetzt die Ankündigung von Kommunikationssoftware für die OSI-Schichten 4 und 5 (Seite 1) Grund genug, das Kriegsbeil zu begraben.

Kein Grund, die rosarote Brille aufzusetzen. Tatsächlich ist die Bedeutung des Announcements auch nicht annähernd abzuschätzen. Denn alles ist kompliziert geworden: Werden die OSI-Standards, um vermeintlich mehr Markt zu schaffen, so verzwickt, daß nur Insider sie begreifen können? Tragen die Hersteller nicht lediglich Marketing-Hahnenkämpfe aus - auf dem Rücken der Anwender?

Als der amerikanische Mini-Marktführer DEC vor zwei Monaten seine OSI-Absichtserklärung abgab (CW Nr. 26 vom 28. Juni 1985, Kolumne: "Das OSI-Netz, aus dem die DEC-Träume sind"), deuteten wir etwas derartiges an. Zitat: "Für den US-Anbieter DEC . . . blieben alle Türen verschlossen, würde man dem europäischen OSI-Standard nicht seine Reverenz erweisen." Das DEC-Announcement in Sachen "Offene Architektur": geschenkt - so das damalige Fazit. Die OTSS-Ankündigung des Mainframe-Monopolisten: dito geschenkt?

Einen kleinen Unterschied gibt es gleichwohl: Dem einen blieb gar keine andere Wahl, der andere setzt De-facto-Standards. Mit anderen Worten: Systems Network Architecture (SNA) in der Hand (IBM) ist besser als OSI auf dem Dach (DEC). Es darf unterstellt werden, daß Big Blue SNA für das beste aller Kommunikationskonzepte hält. Warum dann die Verbeugung vor OSI?

Für Interpretationsstoff ist gesorgt. Erstens: SNA wird OSI - trotz Abweichungen von einigen Bits und zwei Buchstaben. Dies befürchten die IBM-Wettbewerber, wie sich im Falle des Postauftrags für das EPOS-Projekt gezeigt hat (CW Nr. 35 vom 30. August 1985, Kolumne: ,Keine Motivation für OSI"). Die Beschaffungspolitik der öffentlichen Hände in Europa, zweitens, scheint der IBM doch mehr zu schaffen zu machen, als gemeinhin angenommen wird. In den Vergaberichtlinien ist nämlich ausdrücklich der OSI-Standard als K.o.-Kriterium vorgegeben. Demnach würde sich die IBM Deutschland ähnlich wie DEC verhalten? Für diese Auslegung spricht einiges.

Für IBM-Kenner ist die OTSS-Premiere indes schlicht "perfektes Marketing". Es ist in der Tat nicht ungewöhnlich, daß der Marktführer bei den Kommunikationsstandards den Ton angibt und ein neues Verfahren als erster in die Praxis umsetzt. Zur Erinnerung: Als es mit einer einheitlichen Prozedur für die Datenübertragung nicht voranging, kündigte Big Blue SDLC (Synchronous Data Link Control) an. Das war 1974. SDLC wurde ein wichtiger Bestandteil von SNA - und SNA wurde zum De-facto-Standard. Laut IBM soll mit OTSS eine neue Netzwerk-Epoche beginnen. Ähnlich wie vor zehn Jahren?