IBMs Betriebssystem-Strategie bei PCs und Workstations In einer nicht allzu fernen Zeit wird jeder jeden emulieren koennen Von Susanne Mueller-Zantop*

28.05.1993

Das aktuelle Geruecht lautet: IBM wird Windows NT unterstuetzen. So verzerrt, bringt die Nachricht endgueltig jeden zur Verzweiflung, der bislang noch glaubte, eine Linie in IBMs Betriebssystem- Strategie gefunden zu haben. Wie verhaelt es sich tatsaechlich?

IBMs Betriebssystem-Politik bei PCs und Workstations ist erstens eine Funktion der Organisationsstruktur fuer diese Geschaeftsbereiche. Die Workstation-Seite ist dabei noch am besten ueberschaubar. Sie steht in den USA gleichrangig neben der neuen Personal Computer Company (PCC) und ist fuer Entwicklung und Vermarktung von RS/6000 und AIX zustaendig. Die PCC hat sich im Gegensatz dazu ihrer Systemsoftware entledigt und konzentriert sich voellig auf das Hardwaregeschaeft.

Die soeben neu gegruendete Personal Software Products (PSP), die das Betriebssystem OS/2 vermarkten soll, wird daher oefter mit der PCC kollidieren, und beide werden mit ihren Aktionen und Produktentwicklungen gelegentlich Verwunderung hervorrufen.

So zitierte Bill Gates am 30. April in Muenchen genuesslich die Tatsache, dass die PCC der groesste Windows-Abnehmer in den USA sei. Komplementaer dazu unternimmt die Softwareschwester PSP alle Anstrengungen, dass OS/2 auf den Maschinen anderer Hersteller als OEM-Produkt vorab installiert wird.

Bei den Kunden erzeugt diese Struktur im PC-Geschaeft bereits eine gewisse Verwirrung, denn es ist nicht mehr klar zu erkennen, "welches Betriebssystem die IBM denn nun empfiehlt". Demgegenueber vertritt IBM seit 1990 zweitens die Strategie, dem Kunden alles das zu verkaufen, was er unbedingt haben will - eben auch DOS oder Windows, vermutlich in nicht allzu ferner Zukunft auch Windows NT. Fuer letzteres Konkurrenzprodukt hat man schliesslich bereits vor eineinhalb Jahren eine OEM-Lizenz von Microsoft erworben.

Der dritte Kernpunkt der IBM-Strategie besteht in dem Credo, dass die bestehenden Applikationen der Kunden geschuetzt werden muessen. Deshalb werden Betriebssysteme nicht einfach aus der Produktpalette gestrichen, sondern einem langen Siechtum ausgesetzt - fuer den, der es unbedingt haben will.

Dadurch, dass viertens konkurrierende Gruppen an Betriebssystem- Weiterentwicklungen sitzen, kommt es zu Ueberschneidungen in den Funktionen und den Hardwareplattformen, die diese Systeme abdecken.

All dieses resultiert in einer "multiplen Betriebssystem- Strategie", wie Hauptkonkurrent Bill Gates laechelnd feststellt. Der zweite Mann im Hause Microsoft, Steven Ballmer, sagte belustigt, dass es ueberaus leicht sei, mit einem so zerrissen scheinenden Konkurrenten umzugehen.

Denn mit DOS, OS/2, Windows, NT und AIX noch nicht genug - drei weitere Betriebssystem-Projekte werden ab dem naechsten Jahr (eventuell schon ab Herbst) die Fruechte ihrer Bemuehungen auf dem Markt anpreisen.

An der Grenze zur

RISC-Workstation

Steve Cummings (Austin, Texas) steht hinter dem Projekt Power Open. Power Open ist ein Betriebssystem, das parallel zum und primaer fuer den Power-PC-Chip entwickelt wird, der zur Jahreswende im Grenzbereich zwischen Intel-PC und RISC-Workstation zum Einsatz kommen soll. Maschinen, die mit diesem Chip ausgeruestet werden, sollen superschnell und sehr billig sein, aber ohne Betriebssystem und ablauffaehige Applikationen nuetzt das ueberhaupt nichts. Power Open ist daher ein Zweckprodukt zum Abspielen von AIX- und Macintosh-Anwendungen auf der neuen Hardware (Mac deshalb, weil Apple neben Motorola Hauptpartner beim Power PC ist).

Das neue Betriebssystem ist ein Microkernel-basiertes Unix- Derivat, das Macintosh-Anwendungen nahezu in Lichtgeschwindigkeit ablaufen laesst, aber es ist kein originaeres Produkt, und es hat wenig innovativen Charakter. Sicher ist es bemerkenswert, dass die Anwendungen native arbeiten, aber es gibt fuer AIX-Anwender keine Gruende, auf Power Open umzusteigen - es sei denn, die neue Hardware reizt allzusehr. Voellig unklar ist noch, wie die Connectivity-Optionen dieses Produktes aussehen werden. Umstieg auf neue, schnelle Hardware ist auch das primaere Motiv fuer Apple, sich Power Open zuzuwenden. Wobei Apple aber A/UX

aufgeben will (was vernuenftig ist) und IBM AIX weiterfuehren will (wer soll das bezahlen?).

Hinter Power Open, dessen Lebensdauer auf dieses Jahrzehnt beschraenkt sein duerfte, scheint mit eineinhalb bis zwei Jahren Abstand das eigentliche Objekt der Begierde am Horizont auf. Taligent, die Firma, die Talent und Intelligenz kombinieren will, wird spaetestens 1995 mit dem schon vorab beruehmt gewordenen Projekt Pink an die Oeffentlichkeit treten. Pink, von Apple- Ingenieuren erfunden und dann in das gemeinsame Joint-venture mit IBM eingebracht, ist ein von Grund auf objektorientiertes Betriebssystem, das heisst, es ist selbst so entwickelt worden und es schien auch zunaechst so, als wuerde man nur ebenfalls reinrassig objektorientierte Software darauf abspielen koennen.

Als Hardwareplattform wird fuer die Entwicklung Motorolas 68040 verwendet, doch zum Erscheinungszeitpunkt wird sich Motorola sehr wahrscheinlich zugunsten des Power-PC-Chips von dieser Plattform getrennt haben, so dass fuer Pink die Zielplattformen Intel und Power angegeben werden. Pink duerfte konzeptionell das modernste der neuen Betriebssysteme sein, weil es zunaechst voellig ohne Ruecksicht auf die Vergangenheit vorangetrieben wurde. Erst nachtraeglich scheint das zirka 120koepfige Programmiererteam um Ed Birss in Cupertino, Kalifornien, erreicht zu haben, dass konventionelle PC- und Mac-Anwendungen unter Pink laufen koennen (siehe Seite 50).

Power Open erscheint in dieser Perspektive also als sinnvolle Interimsloesung, die jetzt schon den Umstieg auf Pink-geeignete Hardware ermoeglichen

soll. Spaetestens hier stellt sich die Frage, ob auch das soeben verselbstaendigte OS/2 in Pink muenden wird. Nach dem Willen von Taligent-CEO Joe Guglielmi ist dies durchaus so. Er sagte im Gespraech in Muenchen kuerzlich, dass die OS/2 Entwickler einen "Adapter" zu schreiben haetten, um OS/2-Anwendungen unter Pink lauffaehig zu machen. Aus nicht ganz nachvollziehbaren Gruenden ist Guglielmi sogar der Ansicht, dass die OS/2-Entwickler ein direktes Interesse daran haben muessten, einen solchen Adapter zu schreiben. Unter normalen Umstaenden wuerde ein solches Tool und damit die Moeglichkeit, OS/2-Anwendungen unter Taligent laufen zu lassen, das OS/2-Geschaeft selber kannibalisieren. Aber was ist hier schon normal.

Jetzt kann die Frage nach OS/2

nicht mehr aufgeschoben werden. Dieses Betriebssystem, das 1987 von IBM und Microsoft als DOS-Nachfolger gepriesen wurde und heute von Microsoft heftig attackiert wird, verkauft sich inzwischen in ganz respektablen Zahlen. Zwei Millionen Lizenzen gingen 1992 ueber den Ladentisch; Microsoft fragt moeglichst bohrend, wie viele Produkte davon tatsaechlich in Gebrauch seien. Dieses Argument verwendet die Gegenseite genauso und weist darauf hin, dass OS/2 so schlecht nicht sein koenne, wenn sogar in Microsofts Windows NT eine beachtliche Menge OS/2-Code stecke, noch aus den gemeinsamen alten Tagen.

OS/2 hat in Deutschland einen stabilen Kreis prominenter Anhaenger. Zirka 300 Firmen stellen selbstentwickelte OS/2- Applikationen vor. Diese gehoeren zum Modernsten, was hier und heute auf dem Softwaremarkt zu finden ist. Es handelt sich ueberwiegend um native 32-Bit-Software mit grafischer Oberflaeche. Die Anwendungen zielen auf spezielle Aufgabenstellungen ab, sozusagen E-Musik im Gegensatz zur bunten Welt der Wald- und Wiesen-Applikationen unter Windows, die dagegen zwar vielfaeltig und lustig, aber eben doch als etwas seichte U-Musik erscheinen.

Nun hat sich IBM seit 1987 im internationalen Rahmen immer wieder dadurch hervorgetan, die OS/2-Afficionados gruendlich zu verunsichern, mit dem Effekt, dass Investitionen in dieses System vielen als sinnlos erscheinen. Kein anderes Betriebssystem, nicht einmal Unix, wurde so oft totgesagt wie OS/2. Das liegt nicht etwa an der inzwischen sehr guten Technologie, sondern vielmehr an der undurchschaubaren Betriebssystem-Politik des amerikanischen PC- Managements. Lee Reiswig, der unter Jim Cannavino fuer die Fortentwicklung von OS/2 zustaendig ist, konnte die Zweifler im eigenen Haus nicht ueberzeugen. Diese haben das groesste Gewicht, denn sie wirken nach aussen.

Der letzte Schrei der OS/2-Truppe unter Reiswig heisst seit wenigen Monaten Workplace Operating System. Dieses Projekt imitiert exakt das Vorgehen von Microsoft, unter dem Namen Windows verschiedene Produkte und das Versprechen der Abwaertskompatibilitaet anzubieten. Workplace als Begriff ist bekannt durch die OS/2-Workplace-Shell, die als grafische

Oberflaeche auf OS/2 sitzt. Diese Shell soll in Zukunft das Element sein, das dem Benutzer gegenueber konstant bleibt, wohingegen sich "unten drunter" alles moegliche aendern kann. So wurde bereits demonstriert, wie "unter" die Workplace-Shell ein Unix-Microkernel gepackt wurde, was die Moeglichkeit eroeffnet, OS/2 nicht mehr nur auf Intel-, sondern auch auf RISC-Plattformen laufen zu lassen.

Man munkelt bereits darueber, dass unter Workplace alle Anwendungen ablauffaehig sein sollen, die heute so aktuell sind: DOS-Windows, NT, OS/2, AIX. Jemand malte sogar ein aeusserst frivoles Bild, demzufolge auch Taligent-Applikationen unter Workplace laufen sollen. Damit scheint aber das Prinzip der Emulation ad absurdum gefuehrt. Zwar soll Workplace viele der Erkenntnisse aus der Arbeit an Taligent in Form von Code oder Prinzipien zum Nachbauen erhalten, doch faellt es nach wie vor sehr schwer, die von Lee Reiswig angestrebten Synergieeffekte in diesem Kaleidoskop zu entdecken.

Am Ende laeuft alles darauf hinaus, dass jeder jeden emuliert. Theoretisch ist es damit voellig egal geworden, welches Betriebssystem man einsetzt, denn es laufen in absehbarer Zeit alle Applikationen der Konkurrenz und des eigenen Hauses darunter. Praktisch zaehlt aber immer noch die Verbreitung: Die installierte Basis bestimmt, wie viele Entwickler sich entschliessen, Native-Code zu schreiben. Daher greift Microsoft laut Steven Ballmer IBMs OS/2 einerseits bei den Kunden an, die einer nach dem anderen abgeworben werden sollen, und andererseits auf der Entwicklerseite, wo man versucht, Third-party-Anbieter von OS/2 weg auf Windows NT zu bringen.

IBMs eigene Politik oeffnet diesem Ansinnen die Tuer, denn einen derartig fraktionierten Gegner kann man haeppchenweise schlagen. In Deutschland besteht eine Ausnahmesituation insofern, als dass die OS/2-Truppe seit 1987 personell weitgehend konstant geblieben ist und ihre Botschaft nie zugunsten kurzfristiger Vorteile geaendert hat. Dieses Beharren zahlt sich hierzulande in einem ueberproportionalen OS/2-Anteil aus, und es stellt sich die Frage, ob IBM die neue PSP-Softwarefirma wirklich so frei agieren laesst wie die anderen unabhaengig gewordenen Geschaeftseinheiten. Wenn dies so ist, dann koennte sich exclusiv den deutschen IBM-Kunden eine sichere Zukunft bieten, die OS/2 heisst, bei Bedarf ueber Workplace auf neue Hardware migriert und auf Wunsch einmal in Pink muendet, wenn es dann noch so hei

*Susanne Mueller-Zantop ist Herausgeberin des Newsletters Tidbits. Ihr gehoert die Beratungsfirma MZ Projekte in Muenchen.

Guglielmi: OS/2-Anwendungen sollen auch unter Pink laufen koennen.