Wissenschaftszentrum Heidelberg soll Profit-Center werden

IBM zwingt Forscher zu mehr Time-to-market

06.09.1996

"In Zukunft werden wir nicht mehr anhand von Wissenschaftspreisen oder der Häufigkeit von Nennungen in Fachpublikationen beurteilt. Hauptkriterium ist ab sofort der Umsatz, den wir mit Kundenprojekten realisieren können." Mit diesem Eingangs-Statement räumte Richard Brodkorb, neuer Leiter des vor 28 Jahren gegründeten WZH, mit der bis dato gängigen Vorstellung auf, die rund 70 in Heidelberg arbeitenden Gastwissenschaftler sowie knapp 90 der dortigen IBM-Mitarbeiter würden sich in einer Art elfenbeinturmartigen Idylle bewegen.

Das WZH bilde künftig nicht mehr die Schnittstelle des Unternehmens zur Hochschullandschaft, sondern übernehme die Rolle eines "Ad-Tec"-Centers für den Geschäftsbereich Services der IBM Deutschland - einer Division, die mit einem jährlichen Wachstum von momentan 25 Prozent und einem Umsatz von rund drei Milliarden Mark zu den tragenden Säulen des IBM-Geschäfts hierzulande gehört.

Zielsetzung 1997: Eine 100prozentige Kostendeckung. Bislang finanzierte IBM den größten Teil der WZH-Aufwendungen in Höhe von jährlich rund 40 Millionen Mark. Rund 60 Prozent des Budgets flossen dabei in Forschungsarbeiten, 40 Prozent gingen in Kundenprojekte ein.

Alle Projekte kommen auf den Prüfstand

Maßgabe für die Zukunft ist demzufolge eine radikale Umkehr dieser Relation: Nur noch 20 Prozent der Mittel sollen in die Forschung fließen, der Rest muß künftig in die Entwicklung marktreifer Lösungen investiert werden. Konsequenz für das WZH: Alle Vorhaben, auch Projekte in Zusammenarbeit mit der EU oder dem Forschungsministerium in Bonn, kommen auf den Prüfstand. Laufende Arbeiten werden jedoch zu Ende geführt, Verträge eingehalten, hieß es.

Zudem müssen sich die Forscher künftig auf die Bereiche Internet/Multimedia, Hochgeschwindigkeits- und heterogene Netze, Optimierung bestehender IT-Strukturen sowie die mobile Datenkommunikation konzentrieren. Das vorhandene Know-how soll dazu beitragen, "IBM zur Nummer eins im Internet- und Multimedia- Geschäft in Deutschland zu machen", gab Brodkorb als Devise aus. Der IBM-Manager, der zuvor im konzerneigenen Outsourcing-Geschäft in leitender Position tätig war, nannte als Beispiele für künftige Lösungen Multimedia-Kioske für Banken und Behörden sowie das in Heidelberg bereits entwickelte Internet-Security- und - Abrechnungsverfahren TMC (Trusted Management Center).

Über die näheren Gründe für die WZH-Neuausrichtung schwieg sich Brodkorb indes aus. Eine neue Ausrichtung bedeute nicht, daß die bisher in Heidelberg durchgeführten Projekte falsch gewesen seien. Erst recht wolle man, angesichts vergangener Erfolge wie zahlreiche Wissenschaftspreise, das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. "Time-to-market ist auch für die Wissenschaft zu einer der wichtigsten Kenngrößen geworden", hieß es lapidar. Der bisherige Leiter des WZH, Wolfgang Glatthaar, wurde in die Stuttgarter IBM-Hauptverwaltung versetzt. Von dort aus soll er sich, so Nachfolger Brodkorb, weiterhin "um den Informationsaustausch zwischen IBM und den Hochschulen kümmern".