Lizenz zunächst nur für ausgewählte Partner

IBM verspricht den Anwendern Multiprotokoll-Unterstützung

17.04.1992

STUTTGART (pg) - Nach der Ankündigung der APPN-Strategie (Advanced Peer-to-Peer Networking) von IBM fallen die Reaktionen gemischt aus. Positiv bewerten Experten das Aufbrechen der hierarchischen SNA-Struktur, wodurch Anwender in der blauen Welt mehr Freiheit erhalten. Skeptisch beurteilen sie dagegen die Absichten Big Blues, die SNA-Welt kurzfristig nach außen zu öffnen (siehe CW Nr. 15 vom 10. April 1992, Seite 1).

Die IBM stellt mit ihrer neuen Networking-Strategie, wie es in einer Mitteilung heißt, "die Weichen für die Integration von heterogenen Netzwerken". Dabei bezeichnen die Strategen von Big Blue die APPN-Technologie als "automatisches Verkehrsleitsystem für den Datentransfer in und zwischen Computernetzwerken". Ziel der Entwicklung sei die Zusammenführung der Eigenschaften von SNA mit den Funktionen für Verbindung, Transfer, Steuerung und Automatisierung in APPN. Mit anderen Worten: APPN wird für alle Betriebssysteme von DOS, OS/2 über AIX bis zu MVS - sprich: für die SNA-Welt - durchgängig.

Nach Ansicht von Franz-Joachim Kauffels, einem unabhängigen Unternehmensberater, bleibt Mother Blue keine andere Wahl, als ein funktionsfähiges Protokoll wie APPN anzubieten. "Die alten SNA-Umgebungen können sonst nicht mehr wachsen", begründet Kauffels die IBM-Entscheidung und sieht darüber hinaus noch einen weiteren Grund: IBM hat das Problem, daß aufgrund der neuen Produktlinien PS/2, RS/6000 und AS/400 innerhalb der reinen IBM-Welt vieles nicht mehr zusammenpaßt. APPN ist dafür eine Lösung."

Die APPN-Unterstützung plant IBM nicht nur für die RS/6000 und die entsprechenden Erweiterungen AIX SNA Services/6000, sondern auch für den Multiprotokoll-Prozessor 6611, das Netzwerk-Management-Systems Netview und vor allem für die /390-Großrechner. Mit Hilfe des Softwarepakets "ACF/VTAM" für alle MVS/ESA-Großrechner-Betriebssysteme beabsichtigt Big Blue, APPN auf die Hosts auszudehnen, wodurch diese Rechner als Netzwerkknoten nutzbar werden. Ferner sollen durch die Software "VTAM Version 4" 3270-Terminal-Host-Applikationen künftig unverändert über APPN-Verbindungen zu fahren sein.

Genaue Angaben über die Auslieferung und Preise der Produkte konnte Jürgen Führer, Sprecher der IBM, nicht machen. Bei IBM Deutschland, so Führer, rechne man im ersten Quartal 1993 mit der Realisierung der ersten angekündigten Software, wobei die Kosten aufgrund der unterschiedlichen Konfigurationen differieren werden und noch nicht festgelegt seien.

Neben den Produktankündigungen gab IBM auch die Lizenzierung des Software-Codes für die APPN-Netzwerkknoten bekannt, ein Schritt, den Petra Borowka, ebenfalls unabhängige Unternehmensberaterin, für sehr wichtig hält. Viele Anwender haben ihrer Ansicht nach nämlich den Wunsch, im Internetworking ein Multiprotokoll-Backbone zu betreiben und darüber auch ihre IBM-Datenkommunikation zu schleusen. "Das geht bis heute nur durch Verrenkungen", meint Borowka, die es lieber sähe, wenn IBM statt APPN mehr TCP/IP unterstützen würde.

Tatsächlich äußerten die Verantwortlichen in Armonk die Absicht, neben APPN in Zukunft auch andere Transportprotokolle wie OSI, TCP/IP, Novells IPX sowie das eigene Netbios über APPN-Backbones zu unterstützen. Bisher gibt es aber nur ein Release für Netbios, während über die Realisierung der anderen Protokolle keine Angaben gemacht wurden. "In der Vergangenheit waren Applikationen und Services zur Unterstützung von Anwendungen an ein Protokoll wie zum Beispiel SNA gebunden", räumt Jim Gray, einer der Architekten der neuen IBM-Strategie, ein. "In Zukunft wird es jedoch möglich sein", verspricht Gray, "alle Applikationen oder Dienste über jeden Network Transport Service zu fahren".

Was die Lizenzierung der Network Node Spezification betrifft, haben bereits die Unternehmen Network Equipment Technologies, Systems Strategies, 3Com sowie Novell Interesse bekundet. Inoffiziellen Informationen zufolge soll die Gebühr rund 400 000 Dollar betragen. Das von IBM angekündigte APPN Developer Kit soll von den genannten Unternehmen getestet und Anfang nächsten Jahres für Drittanbieter erhältlich sein.

An diesen Termin will David Passmore vom Software-Distributor Ernst & Young nicht so recht glauben. Seiner Ansicht nach wird IBM die kompletten APPN-Spezifikationen erst später für Wettbewerber, insbesondere am Router-Markt, zur Lizenzierung freigeben. "APPN ist das Juwel der IBM, für dessen Entwicklung Unsummen ausgegeben wurden. IBM wird diesen Wettbewerbsvorteil nicht aus der Hand geben", begründet Passmore seine Vermutung, zumal der Multiprotokoll-Router 6611 der IBM mit APPN-Support im ersten Quartal 1993 auf den Markt kommen soll. Cisco Systems, Marktführer im Router-Business, hat bisher von IBM jedenfalls noch kein vorläufiges Release der Spezifikationen bekommen, will die APPN-Technologie aber im Laufe des nächsten Jahres in seine Router integrieren.

APPN ist bisher in SNA kaum verbreitet

Eckdaten für die Auslieferung entsprechender Produkte haben auch die oben genannten IBM-Partner noch nicht festgelegt. Systems Strategies will eine Unix-Version für den APPN Network Node produzieren, 3Com das Protokoll in drei Stufen in seine Router und Hubs implementieren. Novell plant, APPN in kommenden Releases von Netware für SAA zu realisieren, will aber laut Vice-President Gerry Machi nichts über's Knie brechen, weil APPN in SNA-Installationen bisher nur zu einem geringen Prozentsatz vorhanden sei.

Probleme könnten Experten zufolge auch dadurch entstehen, daß die Multiple Protocol Stacks, die IBM auf allen kommunizierenden Netzknoten installieren will, zuviel Speicherplatz benötigen. Diese Schwierigkeit wird laut IBM durch APPN selbst und die Distributed Data Management Software (DDM), die auf allen lokalen Rechnern läuft, aufgefangen. DDM ist ein Software-Produkt von IBMs Systemview Division, das Regeln für Datenbeschreibung, Organisation, Zugriff, Management sowie Integration vorgibt.

Anwender könnten, so Grey, die neuen verteilten, auf Multiprotokoll-Basis operierenden Netzwerke durch Netview von IBM, das Simple Network Management Protocol (SNMP) sowie

das Common Management Information Protocol (CMIP) verwalten. Mit der OSI-Spezifikation CMIP sei aber erst in ein paar Jahren zu rechnen.

"Offen ist die IBM mit APPN nur im Sinne einer offengelegten Herstellerarchitektur", bewertet Expertin Borowka die Heterogenität des Protokolls. Das Prädikat offenes Protokoll treffe auf APPN aber nicht zu, weil es keine international standardisierte Norm sei. Trotzdem glaubt sie, daß sich APPN in SNA-Umgebungen durchsetzen wird, weil es sehr viel komfortabler sei als das traditionelle SNA. Dabei fügt sie hinzu: "Im klassischen Sinne ist das kein SNA mehr, weil die Hierarchie jetzt aufgebrochen ist."