LAN-Produkt des Marktführers wird von Standardisierungsgremien nur bedingt akzeptiert:

IBM-Token-Ring stößt auf Normungswiderstand

14.01.1983

MÜNCHEN - Die Standardisierungsbemühungen der IBM für ihr Token-Ring-Netz in den Gremien der European (Computer Manufacturers Association (ECMA) und des amerikanischen Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) kommen nur stockend voran. Zwar wurde das LAN-Konzept des Marktführers jetzt innerhalb der ECMA durch eine "Technical Group" anerkannt, doch ob der Token-Ring als Standard akzeptiert wird, wie etwa die kürzlich verabschiedeten CSMA/CD-Protokolle, muß erst noch der oberste Verbandsausschuß, die "General Assembly", entscheiden. Mitglieder der europäischen Herstellervereinigung halten es für möglich, daß IBM eine Abfuhr erteilt wird.

Während die vor den Ethernet-Propheten (Digital Equipment, lntel und Xerox-DIX-Gruppe) vorangetriebenen Normungsbemühungen in den ECMA- und IEEE-Ausschüssen bisher auf fruchtbaren Boden fielen, einen sich europäische und amerikanische Standardisierungspäpste mit der IBM-Entwicklung Token-Ring nur zögernd und widerwillig zu beschäftigen. Hatten sich die IEEE-Führer nach vorübergehendem Zagen doch noch im Dezember letzen Jahres zu einer Verabschiedung des CSMA/CD-Zugriffsverfahrens (Carrier Sense Multiple Access with Collision Detect) durchgerungen, wird in der Token-Gruppe, des US-Verbandes noch immer über technische Themen diskutiert. Durch das Engagement von Office-Newcomer Univac in der LAN-Riege seien die Diskussionen über das IBM-Netz sogar gänzlich neu entfacht worden, behaupten IEEE-Insider. Konnte sich IBM bislang im US-Normungsensemble relativ frei bewegen, so sei durch den neuen Konterpart, das Token-Lager inzwischen gespalten.

Lediglich bei der ECMA ist es jetzt zu einer Vorentscheidung gekommen, bei der jedoch auschließlich technische Aspekte berücksichtigt wurden. Aber auch hier habe es zahlreiche Stimmenthaltungen gegeben. Die endgültige Entscheidung über einen Token-Standard soll erst im Juni bei der nächsten Generalversammlung in Genf fallen. Hier könnten die Normungsbemühungen der IBM sowohl aus politischen als auch aus sachlichen Gründen scheitern, sagt Ingrid Fromm, stimmberechtigte Siemens-Vertreterin in der ECMA-Gruppe und europäisches "Bindeglied" zu IEEE. Da die Standardisierungsvorschläge des Marktführers in entscheidenden Punkten noch nicht klar spezifiziert seien, würden einige Mitglieder die vorgelegten Entwürfe noch ablehnen. Obwohl der Token-Produzent zu einer Definition en detail bereits aufgefordert worden sei, wolle er sich dennoch diesen Spielraum lassen. Begründung: Ein Standard müsse flexibel sein, so daß andere Anbieter nach Belieben implementieren könnten.

Die Gründe für die Zurückhaltung Big Blues wollen indes LAN-Spezialisten ausgemacht haben. Während die CSMA/CD-Protokolle in allen Einzelheiten festgelegt seien, wolle IBM bewußt einen Spielraum innerhalb der Normungsgrenzen offenhalten, um gegenüber eventuellen Token-Mitbewerbern freier agieren zu können. Versuchten andere Hersteller den "flexiblen" IBM-Standard nachzuvollziehen, müßten sie einen zusätzlichen Forschungs- und Entwicklungsaufwand betreiben, der sie bei der Vermarktung in zeitlichen Verzug setzen würde.

Diese Politik, so erläutert ein deutscher ECMA-Vertreter, widerspreche den ursprünglichen Absichten des Verbandes. Mit der Verabschiedung der CSMA/CD-Protokolle habe man demonstriert, daß ein Standard auch von einem kleinen Hersteller ohne übermäßigen Aufwand nachvollzogen werden könne. Dadurch habe man eine Chancengleichheit für alle künftigen LAN-Anbieter geschaffen.

Vorwürfe werden in den ECMA- und IEEE-Ausschüssen aber auch aus anderen Gründen erhoben. So verfüge IBM mit dem Ringnetz nach wie vor lediglich über Laborerfahrung. Hingegen lägen bei dem von der DIX-Gruppe forcierten Ethernet inzwischen weltweite Testerfahrungen durch rund 800 Pilotinstallationen bei Anwendern vor.

Im Züricher IBM-Forschungslabor, in dein seit mehreren Jahren mit einem Token-Prototyp experimentiert wird, gilt der Praxisvorsprung von Xerox & Co. dagegen als keineswegs ausschlaggebend. Obwohl die "blauen LAN-Spezialisten" nach eigenen Aussagen nur über "interne" Erkenntnisse verfügten, sei man dennoch überzeugt, daß das bereits vorhandene Know-how im Netzwerk- und Office-Automation-Bereich anderer IBM-Produktgruppen mindestens ebenso wesentlich sei, wie zahlreiche Pilotinstallationen.

Galt der Token-Ring in Fachkreisen bisher als ein äußerst komplexes System, das seinen Platz dort bekommen sollte, wo eine Leistung von 100 Megabit und mehr zur Debatte steht, hat IBM inzwischen gegenüber ECMA-Mitstreitern erklärt, auch die unteren Anwendungsbereiche ab vier Megabit abzudecken. Damit würde Big Blue im breiten Office-Bereich als direkter Konkurrent zu den Ethernet-Anbietern auftreten.

Während LAN-Profis keinen Sinn darin sehen, das komplizierte Token-Protokoll im unteren Leistungsspektrum anzusiedeln, gibt ein Mitarbeiter des IBM-Forschungslaboratoriums darüber Aufschluß: Wenn es um höhere Geschwindigkeiten gehe, seien den CSMA/CD-Standards "Beschränkungen in der Effizienz" auferlegt.

Das von der IBM mit der Erklärung "warum soll es nicht mehrere Systeme im gleichen Leistungsbereich geben" eröffnete "Windhundrennen" im vielversprechenden Office-Bereich könnte bewirken, daß sich die General Assembly der ECMA gegen den Token-Ring ausspricht. Entscheidungen dieser Instanz, in der jede Mitgliedsfirma nur mit einer Stimme vertreten ist, gelten mehr politisch als technisch orientiert.

Wie Kenner der ECMA-Szene wissen wollen, gebe es in den Gremien eine starke "Ethernet-Lobby", deren Vertreter ihre eigene Produktpolitik bereits auf die CSMA/CD-Marschrichtung abgestimmt hätten. Die Interessent dieser Hersteller könnte das im Juni bevorstehende Token-Urteil maßgeblich beeinflussen.

Stimmt die General Assembly gegen eine Normierung, müße IBM nach den Statuten des Verbandes einen neuen Vorschlag einbringen. Da aber die Ennntscheider nur zweimal im Jahr zusammenkommen, um über Standards zu befinden, könnte die nächste Eingabe erst bei einem Meeting im Dezember '83 erfolgen. Dieser Zeitraum erscheint ECMA-Mitgliedern für eine Neudefinition seitens des Marktführers als zu kurz. Der nächste Termin wäre dann erst wieder Mitte 1984.

Die Normierungsbosse befinden sich jedoch in einer Zwickmühle, sagen selbst ECMA-Strategen. Bekommt nämlich die IBM im Juni eine Abfuhr, werde sie sich sicherlich nicht auf die Warteliste setzen lassen. So wird andererseits befürchtet, der Marktführer könne sich ohne die Standardisierungsplakette an die Vermarktung seiner LAN-Produkte machen. Durch seine dominierende Position in der DV-Szene wurde er durch ein Token-Announcement bereits einen De-facto-Standard schaffen. Wenn die IBM dagegen mit einer "flexiblen Normierung" durchkomme, konstatiert ein ECMA-Vertreter, wüßten die Gremien wenigstens, wo diese angesiedelt sei. Ignoriere Big Blue indes ein negatives General-Assembly-Urteil und beginne mit der Token-Vermarktung, würden die Schwierigkeiten der Mitbewerber nur noch größer werden.