Mit Sonntagsarbeit gegen eine Halbleiter-Schrottrate von 50 Prozent:

IBM startet Chip-Konti-Schicht auf Probe

15.04.1988

STUTTGART - Grünes Licht für die Arbeit Rund-um-die-Uhr hat IBM auf Probe erhalten. Durch den Produktionsstop bei Halbleitern am Sonntag fürchtet Big Blue in Böblingen nämlich allmählich um seine Wettbewerbsfähigkeit: Die Hälfte aller deutschen IBM-Megabit-ICs ist Schrott. Sonntägliches Chip-Backen soll nun Abhilfe bringen.

Bisher konnte sich die IBM-Werksleitung in Böblingen-Hulb kaum auf das Wochenende freuen: Werden die Produktionsmaschinen hochverdichteter Schaltungen an Sonntagen abgeschaltet, entsteht nämlich eine hohe Ausschußrate. Nach Ansicht des Konzerns beträgt der Chip-Schrottanteil derzeit rund 50 Prozent. Um bis zu 20 vom Hundert senken lasse sich diese Quote indes mit der "Konti-Schicht" über alle Wochentage hinweg. Damit soll die Konkurrenzfähigkeit der Sindelfinger erhalten bleiben.

In einem aufgeheizten Klima standen sich während der vergangenen Monate Gegner und Befürworter der Arbeit am geheiligten siebten Tag mit schlagkräftigen Argumenten gegenüber. Selbst Fraktionen des IBM-Betriebsrats diskutierten kontroverse. Ausreichend Überzeugungsarbeit leisten konnten indes auch Fachjuristen nicht. Während etwa Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler den "Rund-um-die-Uhr-Betrieb" für verfassungswidrig erklärt hatte, hält sie Bundesarbeitsrichter Wolfgang Leinemann für "grundsätzlich zulässig" (siehe "IBM-Konti-Schicht ist zulässig", Seite 61 dieser Ausgabe).

Für das Probieren entschied sich deshalb nach monatelangen Recherchen der Präsident des Regierungspräsidiums, Stuttgart, Manfred Bulling. Das Studium von fünf Gutachten auf dem grünen Tisch der obersten zuständigen Behörde der Gewerbeaufsicht schien ihm nur wenig schlüssig zu sein. Von März bis September dieses Jahres kann IBM also für 400 der insgesamt 1200 Böblinger Mitarbeiter die Sonntagsarbeit einführen: nach einem Schichtmodell zweimal im Monat. Denn, so Präsident Bulling, nach Paragraph 105 c sei Arbeit am Wochenende grundsätzlich dann zu gestatten, wenn sie nicht nur an Werktagen durchgeführt, durch sie aber das Mißlingen von Arbeitserzeugnissen verhütet werden könnte.

Allerdings, lautet, eine Stuttgarter Auflage, sei der Probelauf in Böblingen-Hulb akribisch zu dokumentieren. Buch zu führen sei vor allem über die Ausschußrate bei der Chipproduktion - im Monat März vor der Einführung und im September nach der Beendigung des "von der Verwaltung sehr selten angewendeten Versuchs". Soll aus der "befristeten und vorläufigen Duldung" später kontinuierliches grünes Licht werden, bedarf es nämlich, so eine weitere Auflage der obersten zuständigen Behörde der Gewerbeaufsicht, einer um mindestens fünf Prozent verbesserten Ausschußrate.

Die IG Metall geht gegen die vorläufige Genehmigung gerichtlich vor. Vor allem bemängelt die Gewerkschaft, daß "allein die willkürlich gegriffene Prozentzahl einer Schrottrate" für den Dauerbetrieb entscheidend sei sowie keine Alternativen zum Konti-Betrieb geprüft worden wären.

Die Mitbewerber sind beim Thema "Konti-Schicht" hellhörig geworden. So bewarb sich die Standard Elektrik Lorenz AG (SEL) ebenfalls um das offizielle "Ja" zur Arbeit am Sonntag. Der Stuttgarter Konzern war bisher aber, so der Pressesprecher des Regierungspräsidiums, nicht in der Lage, Vergleichszahlen vorzulegen.

Einen Dammbruch in der DV-Branche befürchtet Bulling nicht. Bisher nämlich gehören zu den Halbleiterkonkurrenten von IBM, die bereits seit geraumer Zeit vollkontinuierlich arbeiten, lediglich die Siemens AG mit ihren Niederlassungen in Regensburg und Neuperlach, weiterhin die Hamburger Valvo mit dem Unternehmensbereich Bauelemente der Philips GmbH sowie die ITT International in Freiburg.

Auch DV-Dienstleister liebäugeln bereits mit der Konti-Schicht. Während bei der Mannesmann Datenverarbeitung GmbH in Düsseldorf die

RZ-Dienstleistungen für die einzelnen Gesellschaften bereits am Sonntag durchgeführt werden, steht die Einführung des Rund-um-die-Uhr-Betriebes" bei der EDS Electronic Data Systems (Deutschland) GmbH in Rüsselsheim noch auf der Wunschliste der Geschäftsleitung.

Jobben am Wochenende ist hierzulande kein Neuland mehr. In der Bundesrepublik, rechnet Regierungspräsident Bulling vor, arbeiteten bereits 15 Prozent der Erwerbstätigen regelmäßig durchgehend. Während die Quote im produzierenden Gewerbe zwischen 1981 und 1987 mit fünf Prozent unverändert geblieben sei, habe sie sich in Dienstleistungsbranchen von sieben auf 13 Prozent erhöht.