Erster Eindruck von der OS/2-Betaversion

IBM spart bei OS/2 Merlin mit technischen Neuerungen

12.07.1996

Bei der IBM steht man auf dem Standpunkt, daß man mit OS/2 ein stabiles und ausgereiftes System besitzt, das unter keinen größeren Mängeln leidet und daher nicht grundlegend verändert werden muß. Freilich ist die Wunschliste der Anwender gar nicht so klein, weswegen Big Blue schon seit längerem Informationen über geplante Verbesserungen von OS/2 Warp durchsickern ließ. Auf eine Liste von neuen Funktionen legten sich IBM-Offizielle aber bis dato nicht fest.

Nach einer IDC-Studie zeigten sich 97 Prozent der Warp-Anwender zufrieden mit dem System, 71 Prozent sogar sehr zufrieden. Trotzdem wurde in der Vergangenheit häufig der Wunsch geäußert, daß die Installation verbessert und die Bedienung vereinfacht werde. Vor allem sieht sich Big Blue gezwungen, bei der Unterstützung von Plug and play gegenüber Windows 95 nachzuziehen. Inoffiziellen Angaben zufolge war vorgesehen, die Systemkonfiguration zentral in einer Registrierdatenbank abzuspeichern.

Die Merlin-Beta vermittelt aber den Eindruck, daß sich unter der aufgepeppten Oberfläche bis dato nur wenig getan hat. Die Konfigurationsinformationen sind nach wie vor über zahlreiche Dateien unterschiedlichen Formats verstreut. Das von vielen Anwendern kritisierte DOS-Relikt config.sys hat durch einige neue Umgebungsvariablen sogar an Umfang zugelegt. Bei unserer Testinstallation erreichte die Datei eine Länge von 150 Zeilen. Weitere Konfigurationsdaten finden sich wie bisher in der protocol.ini, ibmlan.ini, os2.ini, os2sys.ini, net.cfg und den diversen TCP/IP-Dateien unter

MPTN

ETC.

Einen nicht unerheblichen Beitrag zum Konfigurations-Wirrwarr leisten die INI-Dateien des eingebauten Windows 3.1. Neu dazugekommen ist durch die Unterstützung von Win32-API-Funktionen die Registrierdatenbank im Windows-Format.

Vermissen läßt Merlin bisher noch eine zentrale Installationsroutine, mit der Netzwerkfunktionen nachträglich hinzugefügt oder ohne größere Probleme angepaßt werden können: Für die Einrichtung von Adaptern und Protokollen, TCP/IP-Konfiguration, Peer-Dienste und Netware-Requester sind jeweils unterschiedliche Programme zuständig, die obendrein schwer zu finden und schlecht aufeinander abgestimmt sind.

Die Merlin-Beta wartet mit einer grafischen Anzeige der Hardwareressourcen auf, die dem Geräte-Manager von Windows 95 ähnelt. Dort lassen sich die Belegungen von Interrupts, I/O-Ports und DMA-Kanälen ablesen, derzeit aber leider nicht verändern. Dies scheint nicht verwunderlich, da das grafische Tool vielerorts noch auf die Grenzen alter Treiber stößt. Beispielsweise setzte der Treiber (Baujahr 1994) für die Soundkarte "Aztech Galaxy" den Interrupt für die MPU-Einheit auf den Wert 3 und blockierte damit die zweite serielle Schnittstelle. Auf dieses Verhalten konnte kein Einfluß genommen werden, die Ressourcenanzeige gab keine Auskunft über diesen Mißstand. Hier muß sich die IBM noch um entsprechenden Treiber-Support der Industrie bemühen.

Sichtbar gearbeitet haben die IBM-Entwickler hingegen an der grafischen Oberfläche. Sie sieht derjenigen von Windows 95 sehr ähnlich, das neu hinzugekommene "Warpcenter" entspricht der Taskleiste des Microsoft-Systems. Im Unterschied zum "Explorer" von Windows 95 basiert die OS/2-Workplace-Shell jedoch auf einem Objektmodell (IBMs System Object Model) und ist jenem in puncto Flexibilität und Konfigurierbarkeit klar überlegen.

Bei vielen kleinen Verbesserungen wurden Anwenderwünsche berücksichtigt oder Funktionen integriert, die zuvor findige Programmierer über Shareware-Produkte hinzugefügt hatten. Dazu zählen der "Full Window Drag", die Möglichkeit, Icons auf dem Hintergrund zu fixieren, ein "Schließen"-Button bei Fenstern nach dem Vorbild von Windows 95, der Menübefehl "Übergeordnetes Verzeichnis öffnen" sowie das Ausrichten der Symbole an einem Raster. Was allerdings noch fehlt, ist eine Wiederherstellfunktion des Papierkorbs, mit der sich gelöschte Dateien zurückgewinnen lassen.

Noch wenig zu sehen ist von den versprochenen Funktionen, die OS/2 als Internet-Plattform aufwerten sollen. Anstatt eines einheitlichen Front-ends ê la "Netscape Navigator" für die wichtigsten Dienste ist in der Juni-Beta noch das Sammelsurium aus etwas angestaubten Tools von der aktuellen Version mit von der Partie. "Notes Mail", das in einer abgespeckten Version das unselige "Ultimail Lite" ersetzen soll, glänzt in der Betaversion noch durch Abwesenheit.

Die auffälligsten Neuerungen betreffen neben dem Face-Lifting die Integration von Programmen und Systemkomponenten, die seit dem Erscheinen von Warp entwickelt wurden. Dazu gehört "Opendoc", das mittlerweile von der Object Management Group (OMG) zum offenen Standard für die Erstellung von Component Documents und für Object-Messaging gekürt wurde. Der Nutzwert dieser auf der Common Object Request Broker Architecture (Corba) basierenden Systemerweiterung ist in der aktuellen Betaversion noch gering, da nur fünf leistungsschwache Anwendungen zum Lieferumfang gehören. Diese taugen bestenfalls zu Demonstrationszwecken. Die IBM ist gut beraten, Merlin mit einer Bibliothek brauchbarer Opendoc-Parts auszuliefern, wenn die Komponententechnologie breite Akzeptanz finden soll.

Stärker als für Opendoc wirbt die Marketing-Abteilung für "Voice-Type", das Texteingabe und Systemsteuerung mittels Spracherkennung leisten soll. Es benötigt keine aufwendige Hardware, sondern kommt mit einer gewöhnlichen Soundkarte zurecht.

Zu den bereits früher fertiggestellten Systemkomponenten, die nun in Merlin hineingepackt werden, zählen die Java-Laufzeitumgebung, die Grafikbibliothek "Open GL", die Batch-Sprache "Object Rexx" und die unter dem Kürzel "Dapie" bekannt gewordene Unterstützung für die wichtigsten Funktionen und Nachrichten von Microsofts Win-32-API. Sie soll die Portierung von Windows-95-Anwendungen auf OS/2 vereinfachen. Obwohl eine Schnittstelle für die proprietäre Windows-API kaum etwas mit Offenheit zu tun hat, wurde sie vom IBM-Marketing rätselhafterweise auf "Open 32" umgetauft.

Weitere neue Beigaben richten sich vor allem an den "connected customer". Sie umfassen die Client-Software für die im Warp Server implementierten DHCP- und DDNS-Protokolle, eine Light-Version der 3270-Emulation "Pcom" sowie den "Systemview"-Client.

Augenmerk auf den Connected Customer

Das "Netfinity"-Modul hört bereits auf den Namen der TME-10-Umgebung des zugekauften System-Management-Spezialisten Tivoli. Nicht inbegriffen in die reichliche Software-Ausstattung ist ein brauchbares Backup-Programm, das auch mit Bandlaufwerken umzugehen vermag. Besonders für deutsche Anwender interessant wird, ob sich Big Blue noch mit einer ISDN-Unterstützung anfreunden kann.

Es bleibt abzuwarten, wieviel Aufwand IBM noch in ihr PC-Betriebssystem stecken will. Zum einen gilt der Desktop nicht als der große Zukunftsmarkt, außerdem hat OS/2 mit seiner prekären Nischenposition wohl noch keine Gewinne abgeworfen. Wollen die IBM-Entwickler auch nur die wichtigsten der erwarteten Verbesserungen realisieren, dann könnte sich das Lieferdatum "zweite Jahreshälfte" leicht als "zu Weihnachten" konkretisieren. Anwender wünschen sich unter anderem noch die Unterstützung von langen Dateinamen auf Win-95-Partitionen, das Abfangen der Warmstart-Kombination Alt-Strg-Entf sowie ein lokales Logon (siehe Kasten).

Wünsche für Merlin

-Einheitliche Konfigurationsdatenbank, die config.sys und Konsorten ersetzt

-Plug and play,

-Abfangen der Warmstart-Kombination Strg-Alt-Entf,

-benutzerabhängige Arbeitsoberfläche, die als Profil am Server gespeichert werden kann,

-Papierkorb mit Wiederherstellfunktion für gelöschte Dateien,

-Backup-Programm - auch für Bandlaufwerke,

-lokales Logon,

-Dateisystem, das Laufwerksbuchstaben beseitigt,

-Zugriffsmöglichkeit von DOS-Programmen auf Dateien mit langen Namen sowie

-Unterstützung für ISDN.